Die große Sturmflut in England (1903)

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1903
Themenbereiche
Enthaltene Themen: England, Sturmflut, Westküste, Küstenbauten, Hafenanlagen, Klima, Umwelt, Natur, Nordsee, Mole
In den letzten Tagen des Februar 1903 ist die Westküste Englands von einer furchtbaren Sturmflut heimgesucht worden, die sich als eine der heftigsten und zerstörendsten zeigte, welche seit langen Jahren das Inselreich betroffen hat. Nicht nur, dass an den Küstenbauten und Hafenanlagen durch den Anprall der Wogen großer Schaden angerichtet wurde, Schiffe scheiterten und Menschenleben der empörten See zum Opfer fielen, auch im Innern des Landes hat der rasende Sturm Schrecken und Verwüstung angerichtet und Eigentum im Betrage von Millionen vernichtet. Die Windstärke erreichte die Ziffer II, was einer Geschwindigkeit von 120 Kilometer in der Stunde gleichkommt. Von der Gewalt des Unwetters gibt unser Bild auf S. 372 dem Leser eine Anschauung, das eine Anzahl Skizzen aus der Umgebung des schottischen Hafens Greenock am Clyde zeigt, die während der Sturmtage von einem dort anwesenden Zeichner gemacht wurden. Es ist dabei zu berücksichtigen, dass Greenock weit von der See in geschützter Lage an dem dort 7 Kilometer breiten Fluss liegt, daher keineswegs die volle Gewalt des Sturmes auszuhalten hatte. Trotzdem erreichte die Flut eine Höhe, wie sie von der jüngeren Generation noch nicht beobachtet worden war.

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Die steinerne Mole Dead Slow (Skizze I und 2), die gewöhnlich etwa 4 Meter über den Wasserspiegel hervorragt, war während des Sturmes völlig unter dem Wasserschwall begraben, und die wilden Brandungswellen schlugen sogar über die an ihrem Ende aufgestellte, ebenfalls etwa 4 Meter hohe Landmarke hinweg. Der Kai in Greenock war ebenfalls gänzlich überflutet (Skizze 3), die See brandete bis an die Hafengebäude heran, und auf dem Strom wurden die dort verankerten Schiffe wie Bälle von den empörten Wogen hin und her geschleudert. Ein Dampfer, der bei der kleinen Miltoninsel (Skizze 4 und 5) mit dem Sturme kämpfte, wurde zeitweise von haushohen Sturzseen, die bis zur Höhe des Schlotes reichten, fast zum Kentern gebracht. Ein Glück übrigens, dass die Miltoninsel keine anderen Bewohner hatte, als Ratten, denn obgleich sie bei gutem Wetter hoch aus dem Wasser emporragt, ging diesmal die Flut nicht nur über ihren kahlen, sandigen Strand hinweg, sondern auch über die höchste, mit Büschen und Bäumen bedeckte Kuppe, und etwa darauf befindliche Menschen wären unfehlbar verloren gewesen, da kein Rettungsboot sie hätte erreichen können. Den armen Ratten erging es schlecht genug. Die meisten ertranken, nur den stärksten und kühnsten gelang es, sich auf die Äste der über das Wasser emporragenden Bäume zu flüchten, wo sie zitternd und zagend das Ende der Überflutung abwarteten (Skizze 7). Überall an der Westküste bis Dover hinunter war die Lage kaum weniger schlimm. Unter den gescheiterten Schiffen ist leider auch die deutsche Bark „Luna“, die mit der ganzen Besatzung zu Grunde ging. Im Lande hat der Sturm besonders große Verheerungen an den Telegraphenlinien angerichtet. Sämtliche Hauptleitungen im Norden Englands wurden unterbrochen, und es war unmöglich, sie wiederherzustellen, solange der Sturm in voller Wut tobte. Die mit der Ausbesserung der Drähte beschäftigten Leute wurden geradezu von den Leitern weggeblasen (Skizze 6). Unzählige Schornsteine wurden auf die Straßen herabgestürzt, Hunderte von Dächern abgedeckt und selbst Häuser, darunter zwei kleine Kirchen, zum Einsturz gebracht. Selbst Eisenbahnunfälle wurden durch den Orkan herbeigeführt, in Lower Garnal das Pavillontheater ganz zerstört, in Darlington der Turm der Presbyterianerkirche umgestürzt, in Hatton das Dach des Predigerhauses eingedrückt, wobei der Pfarrer und seine Frau schwere Verletzungen erlitten. Die Hängebrücke über die Menaistraße in Nordwales ist so schwer beschädigt, dass der Verkehr eingestellt werden musste. Wir würden den uns hier zur Verfügung stehenden Raum weit überschreiten, wenn wir auch nur die schwersten Unglücksfälle, welche die Sturmflut herbeigeführt hat, aufzählen wollten.

Die große Sturmflut in England 1903 - 6 Ein Telegraphenarbeiter in Gefahr

Die große Sturmflut in England 1903 - 6 Ein Telegraphenarbeiter in Gefahr

Die große Sturmflut in England 1903 - 1 Die Dead Slow-Mole während des Sturms

Die große Sturmflut in England 1903 - 1 Die Dead Slow-Mole während des Sturms

Die große Sturmflut in England 1903 - 2 Die Dead Slow-Mole mit Landmarke bei gewöhnlichem Wetter

Die große Sturmflut in England 1903 - 2 Die Dead Slow-Mole mit Landmarke bei gewöhnlichem Wetter

Die große Sturmflut in England 1903 - 3  Am Kai von Greenock

Die große Sturmflut in England 1903 - 3 Am Kai von Greenock

Die große Sturmflut in England 1903 - 4 Ein Dampfer im Sturm bei der fast überfluteten Miltoninsel

Die große Sturmflut in England 1903 - 4 Ein Dampfer im Sturm bei der fast überfluteten Miltoninsel

Die große Sturmflut in England 1903 - 5 Die Miltoninsel bei gutem Wetter

Die große Sturmflut in England 1903 - 5 Die Miltoninsel bei gutem Wetter

Die große Sturmflut in England 1903 - 7 Die überlebenden Bewohner der Miltoninsel während der Überflutung

Die große Sturmflut in England 1903 - 7 Die überlebenden Bewohner der Miltoninsel während der Überflutung

Die große Sturmflut in England 1903 - Skizzen 1-7

Die große Sturmflut in England 1903 - Skizzen 1-7