Die größten Tiefen der Ozeane

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: Prof. Dr. Richard Hennig, Erscheinungsjahr: 1926

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Ozeane, Wassertiefe, Messungen, Lotung, Tiefseekabel,
Wieder einmal ist der „Rekord“ der größten bekannten Meerestiefe „gebrochen“ worden, wie es in den letzten Jahrzehnten des Öfteren geschehen ist, und die Frage, welche Tiefe das Meer dort hat, „wo es am tiefsten ist“, kann zurzeit weniger denn je beantwortet werden, da bei einer Lotung, die das japanische Kriegsschiff „Mandsjoe“ im November 1924 knapp 100 Kilometer von der japanischen Küste entfernt vornahm, in einer Tiefe, wie sie nirgends vorher erreicht worden war, noch nicht einmal Grund gefunden wurde. Erst bei erneuten Messungen an derselben Stelle wird man also feststellen können, welche Meerestiefe nunmehr - vorläufig - als die größte bekannt ist.

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Dieses Auffinden von immer noch größeren Meerestiefen im Stillen Ozean in Zwischenräumen von wenigen Jahren geht seit den neunziger Jahren vor sich. Damals glaubte man die größte Tiefe schon so sicher zu kennen, dass Dr. Schott von der Hamburger Seewarte 1895 schrieb, die bisher gelotete größte Tiefe aller drei Weltmeere könne, wenn überhaupt, dann wohl nur um einen relativ ganz geringen Betrag von etwaigen späteren Lotungen übertroffen werden. Aber dies letztere sei nicht einmal wahrscheinlich

Als Dr. Scott dies schrieb, war seit vollen 21 Jahren die bekannte größte Meerestiefe dieselbe geblieben. Es war die am 19. Juni 1874 in der Nähe der Kurilen, unter 44 Grad nördlicher Breite und 152 Grad östlicher Länge aufgefundene „Tuscarora-Tiefe“, die sich auf 8513 Meter stellte. Das Forschungsschiff „Tuscarora“ fand damals in der angegebenen Tiefe noch keinen Grund. Da aber von 1874 bis 1895 größere Tiefen nicht entdeckt wurden, war man fest überzeugt, dass die Tuscarora Tiefe die bedeutendste sei und somit die größte Meerestiefe der höchsten Bergeserhebung (Mount Everest, 8882 Meter) nicht gleichkomme.

Früher fiel es keinem Menschen ein, die Tiefe der Meere an solchen Stellen, wo die Schifffahrt ohne weiteres möglich war, zu untersuchen, und selbst wenn jemand die Absicht dazu gehabt hätte, so würden ihm die unentbehrlichen technischen und maschinellen Hilfsmittel gefehlt haben, solche Messungen auszuführen. Erst 1818 wurden zum ersten Male systematische Lotungen im tiefen Wasser vorgenommen, und zwar in der Baffinsbai durch den berühmten Polarforscher Sir John Roß. Erst seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erlangte die scheinbar wertlose Spielerei solcher Tiefenmessungen plötzlich eine bedeutende praktische Wichtigkeit. Als die ersten Seekabel verlegt wurden, war man nämlich gezwungen, sehr genau festzustellen, in welche Tiefen die Kabel zu liegen kamen, um einen starken Durchhang der versenkten Kabel zu vermeiden, der allzu leicht zum Zerreißen des Kabelstranges durch sein eigenes Gewicht führen konnte.

Heute kennt man in den meisten Teilen der Erde das Profil des Meeresgrundes nahezu ebenso gut wie die Konturen der Landoberfläche. Im großen Publikum freilich ist diese Kenntnis wenig verbreitet; über die höchsten Gebirgserhebungen weiß zwar der Gebildete einigermaßen Bescheid, über die größten Meeressenkungen und auch über die Durchschnittstiefen der Ozeane herrschen aber zum Teil noch recht abenteuerliche Vorstellungen. Im Allgemeinen wird die Tiefe der Ozeane nicht unbedeutend unterschätzt, die Tiefe unserer deutschen Meere Nord- und Ostsee dagegen überschätzt. Es ruft im großen Publikum immer Überraschung hervor, wenn ihm gesagt wird, dass die Nordsee nirgends eine Tiefe von 80 Meter überschreitet, abgesehen von einer schmalen, sehr tiefen Rinne unmittelbar an der südnorwegischen Küste, wo man im Skagerrak bis zu 809 Meter Tiefe gemessen hat. Die Ostsee ist durchschnittlich tiefer als die Nordsee, bringt es aber in weiterer Entfernung von der deutschen Küste auch nur an einer einzigen Stelle, in der Danziger Bucht, auf etwas über 100 Meter und nur an vier örtlich eng begrenzten Stellen auf über 200 Meter Tiefe. Umgekehrt wird die Tiefe der offenen Ozeane meist geringer veranschlagt, als sie wirklich ist. Schon beim Mittelmeer wird die größte Tiefe, die südlich Kap Matapan, Griechenlands Südspitze, über 4400Meter beträgt, vielfach Erstaunen erregen. Im Ozean sind derartig große Meerestiefen etwas ganz Gewöhnliches.

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, bevor man durch die geplante erste Verlegung eines transatlantischen Kabels zu der Feststellung gelangte, dass der Meeresboden zwischen Europa und Nordamerika merkwürdig gleichmäßig etwa 4000 Meter tief war, rechnete man mit viel größeren Meerestiefen, die man zu überwinden haben werde. 1852 hatte der englische Kapitän Daham (man weiß nicht, ob infolge eines Irrtums oder als „Seemannslatein“) angegeben, er habe im südlichen Atlantik zwischen der Laplatamündung und der einsamen Insel Tristan d’Acunha eine Meerestiefe von 14.000 Meter gemessen. Dies wurde geglaubt, und man fürchtete schon, das Meer würde anzahlreichen Stellen derartige Tiefen aufweisen. Als aber die ersten Seekabelverlegungen im Atlantischen Ozean über 4500 Meter Tiefe kaum hinausführten, war man angenehm enttäuscht. Die tiefste Senkung des Atlantischen Ozeans wurde am 27. Januar 1883 vom amerikanischen „Blake“ nahe den westindischen Gewässern, unter 19° 39' nördlicher Breite und 66° 26' westlicher Länge aufgefunden und beträgt 8341 Meter.

Die Bergerhebungen von 5000 Meter und mehr nehmen auf der Erde nur eine räumlich sehr eng begrenzte Fläche ein. Demgegenüber gibt es nicht weniger als 715.200 Quadratmeilen Meer mit Tiefen von mindestens 5400 Meter, und 62 Prozent des gesamten Bodens der Ozeane liegen tiefer als 3600 Meter unter der Oberfläche. 42 ausgedehnte Senkungen von 5400 Meter Mindesttiefe sind bekannt. Von ihnen entfallen auf den Stillen Ozean 24, den Allantischen Ozean 11, den Indischen Ozean 3, das Südliche Eismeer 1, die Sundameere 3.

Was nun die absolut größten Meerestiefen anbetrifft, so fügte es ein merkwürdiger Zufall, dass wenige Monate nach der von einer Autorität wie Dr. Schott abgegebenen Erklärung, größere Tiefen als die 21 Jahre zuvor gemessene Tuscarora-Tiefe seien wohl nicht mehr zu erwarten, eine ganze Serie von bedeutend tieferen Stellen des Meeres gefunden wurde, die bis heute noch nicht ihr Ende erreicht hat. Zunächst entdeckte der Dampfer „Penguin“ östlich der Tonga-Inseln nahe einer Stelle, wo man schon früher 8284 Meter gelotet hatte, eine Tiefe, wo das Senkblei bis auf 8960 Meter Tiefe herabgelassen wurde, ohne Grund zu finden. Diese Feststellung führte zu weiteren Nachforschungen in der genannten Senke, die bei den Geographen ,„Fossa Aldrich“ heißt. Das Ergebnis war überraschend genug. Sowohl im Süden der Tonga-Inseln wie im Osten der Kermadec-Inseln stieß man auf Tiefen, die erheblich über 9000 Meter hinausgingen. Bei den Tonga-Inseln ergab sich eine tiefste Stelle von 9184 Meter; einige hundert Kilometer nördlich der Kermadec-Inseln gelangte man am 30. Dezember 1895 erst bei 9412 Meter auf Grund und am nächsten Tage in der Nähe der Inseln sogar erst bei 9427 Meter. Diese Tiefe galt nun vier Jahre lang als die bedeutendste der Erde. Aber Ende November 1899, bei den Auslotungen des Meeresbodens für die Verlegung des amerikanischen Pazifikseekabels, glückte es dem amerikanischen Vermessungsschiff „Nero“, südöstlich von der Marianeninsel Guam eine Senkung von 9633 Meter zu entdecken. Geraume Zeit galt nun diese „Nero-Tiefe“ für die größte derWelt. Dann fand man im Gebiet der Philippinen eine noch größere, 9780 Meter betragende Tiefe. Nunmehr ist auch diese überboten, denn das eingangs erwähnte japanische Kriegsschiff „Mandsjoe“ hat im Bereiche der japanischen Inseln an einer Stelle, deren genaue Lage in Europa noch nicht bekannt geworden ist, nur 50 Seemeilen vom Land entfernt, das Senkblei auf 9800 Meter Tiefe hinabgelassen, ohne Grund zu finden. Zweifellos wird die betreffende Stelle bald genauer untersucht werden. Man darf es aber bereits jetzt als nicht unwahrscheinlich ansehen, dass es im Stillen Ozean Meerestiefen von 10 Kilometer oder doch jedenfalls solche von nur sehr wenig geringerer Tiefe gibt.

Recht beachtenswert ist der Umstand, dass die größten Meerestiefen sich fast durchweg in verhältnismäßig großer Nähe vom Land befinden. Nicht in der Mitte, sondern an den Rändern der Ozeane kommen sie vor, überwiegend in jenen großen Brüchen der Erdscholle, die die Erdbebengefahr gewaltig steigern. Die neue „Mandsjoe-Tiefe“ liegt nur wenige hundert Kilometer entfernt vom Gipfel des höchsten japanischen Berges, des Fusiyama, der sie mit 3780 Meter Höhe um rund 18.600 Meter überragt. Nur an einer Stelle der Erde gibt es auf nicht sehr große Entfernung einen noch bedeutenderen Unterschied zwischen Berggipfel und Meeressenkung. An der südamerikanischen Westküste liegt ebenfalls in einem schweren Erdbebengebiet eine 7635 Meter große Meerestiefe in der Luftlinie nur um rund 400 Kilometer entfernt von dem auf 6600 Meter Höhe geschätzten Vulkan Llullaillaco an der chilenisch-argentinischen Grenze. Der Höhenunterschied beträgt hier also 14.235 Meter.

Wird nun mit der „Mandsjoe-Tiefe“ die größte Senkung des Meeresbodens gefunden sein? Eine endgültige Antwort wird kaum möglich sein.

Die größten Tiefen der Ozeane

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