Die goldene Wüste am Ostseestrand - Kurische Nehrung

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1929
Autor: Fritz Kudnig, Erscheinungsjahr: 1929

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kurische Nehrung, Fischerkaten, Sanddüne, Wind, Wanderdüne,
Jeder Deutsche, der „etwas auf sich hält“, kennt, weil dies einfach zum „guten Ton“ gehört, das Rheinland, die Sächsische Schweiz, das Riesengebirge, das Bayrische Hochland. Wie wenige aber lernen in ihrem langen Leben die endlosen Urwälder unseres wunderschönen Masurenlandes kennen oder die Einsamkeiten unserer Kurischen Nehrung, der großen goldenen „Wüste“ Preußischen Meer!

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Darf ich hier ein paar Worte über diese „Wüste“ sagen, über ihr Werden, ihr Sein, ihre Armut und ihren Reichtum, über ihre namenlose Schönheit, nach der ich Sehnsucht alle Tage, an denen ich ihr fern bin, verspüre? In auch nicht annähernd bestimmbaren Urzeiten überfluteten die stürmenden Wasser der Ostsee an vielen Stellen das Festland zwischen dem jetzigen Samlande und den Memeler Höhen und wühlten weithin in die flache Niederung das fünfundzwanzig Meter tiefe Bett des Kurischen Haffs. Verschont von der Sturmflut blieben nur einige Strecken zwischen Cranz und Sarkau und die Diluvialinsel Rossitten. An diesen stehengebliebenen Festlandstücken, die wie Buhnen in die Strand- und Uferströmungen ragten, fingen sich nicht nur die Massen des von der Salzsee herangeführten Sandes, sondern auch die Ablagerungen der von Osten her strömenden süßen Gewässer. Alle diese Ablagerungen wuchsen höher und höher, schlossen mehr und mehr die Tiefen zwischen den Festlandstücken und bildeten im Laufe der Jahrhunderte endlich den Sockel der Kurischen Nehrung in ihrer jetzigen Gestalt. Die Entstehung der Nehrung in dieser Form mag etwa um 950 nach Christus stattgefunden haben. Ewiger Flugsand baute aus diesem Sockel weiter, die Nehrungsplatte erhob sich. Bald schmückte sich diese kahle Platte, der kargen Wurzelnahrung zum Trotz, mit Gras und Kraut, mit Busch und Baum. Das Pflanzengrün leuchtete, lockte. Bald stapften in dem tiefen, weglosen Sande, schwer und mühsam, umschauert von der Einsamkeit, die ersten Menschen: ungeschlacht, wortarm, nahrung- und heimstattsuchend.

Sehr oft noch rangen hier Pflanzen- und Menschenleben erbittert mit dem Tode. Der Flugsand war ein ewig dräuendes Gespenst. Birken und Erlen, Eichen und Kiefern deckte wieder und wieder das graue Leichentuch des Sandes. Tiefgehende Torfbildungen zeugen noch heute von diesem einstigen Leben; es reden davon auch zahllose dunkle, knorrige Baumstümpfe, die dicht am Strande da und dort den Wogen der See entragen wie unheimliche schwarze Skelette urweltlichen Getiers. „Unterseeische Wälder“ nennt sie der Volksmund. Auch vor der Heimstatt der Menschen machte dieser Sandtod nimmer halt. Ganze Dörfer erdrückte er mit seines Riesenleibes Wucht; die Dorfleichen Lattenwalde, Kunzen, Preden, Neustadt, Karwaiten, Negeln liegen tief begraben unter ihm.

Oft auch verschluckte das gierige Wasser Tier, Land und Leben auf diesem ewiger Wandlung unterworfenen Erdenstrich. Noch in den Jahren 1818 und 1830 fraß sich das Meer durch das Land hindurch einen breiten Weg zum Haffe. 1874 wieder überschwemmte das Haff bei Cranz die Nehrung in solcher Höhe, dass die schwarzen Fischerkähne hoch oben zwischen den Wipfeln der Bäume im Wasser schaukelten.

Dem Sand und dem Wasser galt seit Urbeginn der ewige Kampf. Schon der Ritterorden kannte diesen Kampf. Und noch heute hat er nicht viel verloren von seiner Erbitterung. Die Menschen aber trugen manche Schuld an diesem Kampfe und seiner Not. Besonders die vom Ritterorden hierher verpflanzten Siedler schonten die sie schützenden Wälder nicht. Auch machten die jeweiligen Machthaber des Landes riesige Mengen dieses Holzes rücksichtslos zu Geld. So wurden in den starrenden Urwald klaffende Lücken gerissen. Dort packte der Sturmwind an, wenn er laut brüllend über die Nehrung raste. Durch diese Lücken schlichen sich tückisch meist auch die drohenden Ungeheuer der Flugsandberge, alles Leben unter sich erbarmungslos begrabend.

Spät erst raffte sich der Staat zu Schutzmaßnahmen auf. 1768 berichtet die Königsberger Domänenkammer zwar bereits an Friedrich den Großen, dass Millionen Pflanzen angebaut und im schönsten Wachstum wären; der große Friedrich schrieb jedoch, noch äußerst zweifelnd an diesem Bericht: „Ist alles ser feyn und löplich zu lesen, wenn es nur nicht wider wirt gelogen seyndt!“ — Wesentlich gefördert wurde der Dünenschutz erst anfangs des neunzehnten Jahrhunderts. Damals wurde systematisch der Bau der Vordüne begonnen. Ihr Seegras und ihr Strauchwerk fesselte den von der See herangeführten Sand. Das Gelände in der Nähe der Nehrungsorte wurde kunstvoll aufgeforstet. Nur durch solchen Forstaufbau entgingen Rossitten und Nidden dem sichern Verderben; ebenso später Preil, Perwelk und Pillkoppen, vor dessen Türen heute noch das Dünenungeheuer hockt, steil emporgerichtet, mit hoch zum Schlage erhobenen Pranken; erst unmittelbar vor der Tat in die Knie gezwungen und getötet durch die Kraft verzweifelt um ihr Leben ringender Menschen.

Wie oft, wie hart und bitter hat der deutsche Geist, haben deutsche Hände und Herzen im Laufe langer Jahrhunderte um dieses herbe Nehrungsland gerungen! Jeder, der je dies Land durchwanderte, fühlte ihn. Es ist nicht der sorglos offene Geist des Binnenländers, des Wohlgeborgenen. Es ist der herb verschlossene, hart gehämmerte Geist des stets Bedrohten, des Immerkämpfenden; des Menschen, dem Gefahr und Not und Tod tagein, tagaus im Nacken sitzen; der sie aber wieder und wieder von sich schüttelt mit gewaltiger Gebärde.

Seht diese braunverbrannten Gesichter der alten, verwitterten Nehrungsfischer. Tiefe Furchen hat das Schicksal in ihre Stirnen gekerbt! Aber nun seht diese Augen unter den breitmassiven, brauenumbuschten Stirnen: sie kennen kein Leid, diese Augen. Sie siegten über das Leid! Oft dunkelt es wohl in ihnen, aber gewaltige Kraft wächst jedem zu, der je in solche Augen blickt.

Jeder, der diesen letzten Sinn des Lebens zutiefst erleben will, der suche die Einsamkeit unserer Kurischen Nehrung auf. Sieh da: die weiße Birke, die kupferne Kiefer am Meeresstrand: kein gerader Stamm, aufschießend in das Licht. Knorrig, krumm, verkrüppelt, von Eis und Sturm zerschunden und zerschlagen steht der Baum. Er will dich dauern, Mitleid erregt dein Blut — da hörst du seinen Sang . . ., erschrickst und staunst, mit feuchten Augen, die immer größer werden in jähem Staunen: du hörst, der verkrüppelte Baum singt: Sieg! Singt: Trotz dem Tod! — Seine Wurzeln haben nur karges Brot, nur öden Sand. Trotzdem lobsingt dem Leben der grüne Wipfel!

Und sieh die Dörfer: Schwarzort zwar ist eine Königin. Stolz ragt sie empor aus den andern durch ihre Größe und den bezwingenden Zauber ihrer dunklen Kiefernwaldschönheit; durch den Prunk neuzeitlicher Villen und Hotels. Rossitten, das ackerbautreibende; Nidden, das irdische Himmelreich der Maler, sind ihre kleineren Schwestern; bescheidener als sie: Dorfschönheiten! Voll Urwuchs und drallem Leben, voll Farbenfrische und -freude. Oh, die wundervoll blühenden Farben der Kopf- und Schultertücher der Niddener Frauen und Mädchen auf dem sonntäglichen Gang zur Kirche, die freudigrot auf dem grünenden Hügel harrt!

Sarkau, Preil, Perwelk aber: Ärmste der Armen; die Not vor jeder Tür!. . . Doch sieh, wie sie ihrer lachen: mit ihren weihgetünchten Häuserwänden, mit ihren grünen und blauen Fensterläden und -kreuzen, mit dem leuchtenden Rot ihrer Dachziegelhauben und dem goldgrünen Samt ihrer alten, windschiefen Schindeldächer. Oh, wenn nur die Sonne scheint, dann wandelt sich unter dem italisch blauen Himmel selbst der graue Sand der Felder vor ihren Türen in Gold, das weithin leuchtet, so dass man der mageren Ernte fast vergisst. Auch die Augen der Bewohner dieser „Armendörfer“ tragen den Trotz in sich, den deutschen Lebenstrotz und das harte, stahlblaue Licht des unbeirrbaren Lebenswillens. Kaum einer aus diesen uralten Fischergeschlechtern hat je — trotz größter Lebensnot — sein Heimatdorf verlassen, um anderswo ein leichteres Brot zu suchen. Doch da, was ist das? — Unzählbare Tausende weißer Möwenflügel im strahlenden Himmelsblau. Professor Thienemanns, des treuen Vogelwärters, berühmtes Möwenbruch. Wie die zahllosen Tausende der silberweißen Flügel selig im Lichte schweben, als gäbe es auf der Erde nicht Hass und Neid noch Not und Tod, nur den ewigen, leuchtenden Himmelsfrieden der göttlichen Natur!

Und siehst du dort aus dem dichten Birkengebüsche das dunkle Elchwild kommen und stumm und kraftvoll über die Dünen schreiten, ungeheuer, wie Urweltgetier, unergründlich tiefäugig wie die Ewigkeit? — Was ist das hier für eine Wunderwelt! Du tauchtest, Wanderer, nach der Flucht aus deinem fronzerfressenen Alltagsleben, aus dem brodelnden Sumpfe der zivilisierten Welt empor und erblickst nun vor dir plötzlich das so selten gewordene Urbild dieser Erde, unberührtes, geweihtes Land mit heiligem Getier.

Dies ist mir immer das tiefste Erlebnis der Kurischen Nehrung gewesen: das Erleben des Lebens in seiner letzten Tiefe; erschütterndes Erleben der Urnatur, des Ururmenschlichen; des Ururmenschlichen, das in das Ewige mündet. Nirgends aber kommst du diesem Ewigen so selig nah, wie wenn du hoch oben auf den endlosen, sonnenbeleuchteten Dünen wanderst, mit dem Blick über hundert goldene Berge, über denen sich das samtene Blau des Himmelsdomes wölbt; tief zu deinen Füßen rechts das blauende Haff, und links, in der Ferne, das wogende Grün des Meeres.

Unsagbar ist die Süße der Einsamkeit in dir und um dich aus solcher Wanderung durch die schier unendlich scheinende goldene Wüste, die weit, weithin gelagert, allüberall, wohin du blickst: bald steil zum Himmel emporgereckt wie inbrünstig Betende, bald lang und licht ans blaue Hass geschmiegt in wunderfeinen, hauchzarten Linien, wie nackte Riesenfrauen, die ihre Leiber lieb- und sonnenselig im Lichte baden. Du schreitest wie im Traum. Silbergoldener Sand umschmeichelt deine Füße. Der fröhliche Sturm zerzaust dein Haar. Deine Stirn strahlt wie von ungeheurem Licht. Deine Augen trinken beglückt das tiefe Traumblau des Haffs, das Märchensmaragdgrün der unendlichen See. Die Seele aber fliegt, voll namenloser Sonnenglückseligkeit, über die drunten auf der Haff- und Meerflut schimmernden Segel hinaus, weit, weit hinaus über die schneeweiß leuchtenden Vogelheere der schwebenden Möwen in die blauende Unendlichkeit.

Hell jubelt tief in dir dein dunkles Blut: „O Heimatland, du Land von Wundern voll, ich weiß nicht, wie ich mein Herzglück bergen soll!“

Windfurchen und Grate auf der Kuppe einer Wanderdüne auf der Nehrung.

Versandete Hütte in dem kurischen Nehrungsdorf Pervelk

Versandete Hütte in dem kurischen Nehrungsdorf Pervelk

Windfurchen und Grate auf der Kuppe einer Wanderdüne auf der Nehrung

Windfurchen und Grate auf der Kuppe einer Wanderdüne auf der Nehrung

Ein Dörfchen auf der Nehrung

Ein Dörfchen auf der Nehrung