Kapitel 2

Eine Episode aus dem Sezessionskrieg. – Der Ingenieur Cyrus Smith. – Gedeon Spilett. – Der Neger Nab. – Pencroff, der Seemann. – Der junge Harbert. – Ein unerwarteter Vorschlag. – Zusammentreffen um 10 Uhr abends. – Abfahrt im Sturm.

Professionelle Luftschiffer waren es nicht, vielleicht nicht einmal Liebhaber solcher Expeditionen, die der Orkan an jene Küste schleuderte, sondern Kriegsgefangene, deren Kühnheit sie veranlaßt hatte, auf so außergewöhnliche Weise zu fliehen. Wohl hundert Mal hätten sie dabei umkommen und aus dem zerrissenen Ballon in den Abgrund stürzen können! Der Himmel bewahrte sie jedoch für ein ganz eigenes Schicksal auf, und am 24. März befanden sie sich, nachdem sie aus Richmond, das damals von den Truppen von General Ulysses Grant belagert wurde, geflohen waren, 7.000 Meilen von der Hauptstadt Virginias und Hauptfestung der Separatisten während des schrecklichen Sezessionskriegs. Ihre Luftfahrt hatte 5 Tage gedauert.

Dieser Ausbruch der fünf Gefangenen, der mit der geschilderten Katastrophe endete, geschah aber unter folgenden merkwürdigen Umständen:


Im selben Jahr, nämlich im Februar 1865, fielen bei einem der erfolglosen Handstreiche Grants zur Überrumpelung Richmonds einige seiner Offiziere in die Gewalt des Feindes und wurden in der Stadt interniert. Einer der hervorragendsten dieser Gefangenen gehörte zum Generalstab der Bundesarmee und nannte sich Cyrus Smith.

Gebürtig aus Massachusetts, war Cyrus Smith ein Ingenieur, ein Gelehrter ersten Ranges, dem die Bundesregierung während des Kriegs die Leitung des Eisenbahnwesens, das eine so herausragende Rolle spielte, anvertraute. Durch und durch ein Amerikaner des Nordens, mager, knochig und etwa 45 Jahre alt, zeigten sein Haar und Bart, von dem er übrigens nur einen starken Schnurrbart trug, schon eine recht grauliche Färbung. Sein schöner „numismatischer“ Kopf schien bestimmt zu sein, auf Münzen geprägt zu werden; dazu hatte er brennende Augen, einen festgeschlossenen Mund, überhaupt das Aussehen eines Lehrers an der Militärschule. Er war einer jener Ingenieure, die mit Hammer und Feile umzugehen verstehen, wie die Generäle, die ihre Laufbahn als gemeine Soldaten begannen. Zugleich mit einer hohen Spannkraft des Geistes besaß er eine große technische Handfertigkeit. Seine Muskulatur verriet die ihr innewohnende Kraft. Ein Mann der Tat und des Rats, führte er alles aus ohne sichtbare Anstrengung, unterstützt von einer merkwürdigen Lebenselastizität und mit jener Zähigkeit, die jedem Fehlschlag Trotz bietet. Sehr unterrichtet und praktisch angelegt, war ihm ein prächtiges Temperament eigen, denn er erfüllte, in jeder denkbaren Lage Herr seiner selbst, vollkommen die drei Bedingungen, deren Zusammenspiel erst die menschliche Energie bildet: Tatkraft des Geistes und Körpers, Ungestüm des Verlangens und Macht des Willens. Als Devise hätte auch er die Wilhelms von Oranien wählen können: „Ich gehe an eine Sache auch ohne Hoffnung und harre auch ohne Erfolg bei ihr aus.“

Gleichzeitig war Cyrus Smith auch die personifizierte Unerschrockenheit und bei allen Schlachten des Sezessionskriegs dabeigewesen. Nachdem er seinen Kriegsdienst unter Ulysses Grant als Freiwilliger von Illinois begonnen hatte, kämpfte er bei Paducah, Belmont, Pittsburg, bei der Belagerung von Korinth, bei Port Gibson, am Black River, bei Chattanooga, Wilderness, am Potomac, überall mutig voranstürmend, ein Soldat, würdig eines Generals, der die Worte sprach: „Ich zähle niemals meine Toten!“ Hundertmal lief Cyrus Smith wohl Gefahr, zu denen zu gehören, die der schreckliche Grant „nicht zählte“, doch obwohl er sich bei allen Gefechten jeder Gefahr aussetzte, blieb er immer vom Glück begünstigt, bis zu dem Augenblick, als er, in der Schlacht bei Richmond verwundet, gefangengenommen wurde.

Am selben Tag wie Cyrus Smith fiel auch eine andere wichtige Persönlichkeit in die Gewalt der Südstaatler, und zwar kein Geringerer als der ehrenwerte Gedeon Spilett, Reporter des ‚New York Herald‘, der beauftragt war, der Entwicklung des Kriegsdramas mit den Heeren des Nordens zu folgen.

Gedeon Spilett gehörte zu jenen staunenerregenden englischen oder amerikanischen Chronisten vom Schlag eines Stanley und anderer, die vor nichts zurückschrecken, um sich von allem haargenau zu informieren und es ihrem Journal in kürzester Zeit zu übermitteln. Die Zeitungen der Union, wie der ‚New York Herald‘, bilden eine wirkliche Großmacht, und ihre Berichterstatter sind Leute, mit denen man rechnet. Gedeon Spilett nahm einen Rang unter den Ersten ein.

Ein Mann von hohem Verdienst, energisch, geschickt und bereit zu allem, voller Gedanken, durch die ganze Welt gereist, Soldat und Künstler, hitzig im Rat, entschlossen bei der Tat, weder Mühen, Strapazen noch Gefahren achtend, wenn es darum ging, etwas für sich und sofort für sein Journal zu erfahren, ein wahrer Heros der Wißbegierde, des Ungeborenen, Unbekannten, Unmöglichen, war er einer jener furchtlosen Beobachter, die im Kugelregen notieren, unter Bomben schreiben, und für die jede Gefahr nur einen glücklichen Zufall bildet.

Auch er hatte alle Schlachten in den vordersten Reihen mit durchgekämpft, den Revolver in der einen, das Skizzenbuch in der anderen Hand, ohne daß sein Bleistift bei dem Kartätschenhagel zitterte. Er ermüdete die Drähte nicht durch unausgesetzte Telegramme, wie diejenigen, die nur melden, daß sie nichts zu berichten haben, sondern jede seiner kurzen, klaren und bestimmten Notizen brachte Licht über irgendeinen wichtigen Punkt. Nebenher fehlte es ihm nicht an guten Einfällen. So war er es, der nach dem Zusammenstoß am Black River seinen Platz am Schalter des Telegraphenbüros um keinen Preis aufgeben wollte, um seinem Journal den Ausgang der Schlacht mitzuteilen, und der deshalb zwei Stunden lang die ersten Kapitel der Bibel abtelegraphieren ließ. Den ‚New York Herald‘ kostete der Scherz zwar 2.000 Dollar, aber der ‚New York Herald‘ brachte dafür auch die ersten Nachrichten.

Gedeon Spilett war von hohem Wuchs und höchstens 40 Jahre alt. Ein blonder, ins Rötliche spielender Backenbart umrahmte sein Gesicht. Sein Auge blickte ruhig, aber lebhaft und schnell in seinen Bewegungen, wie das Auge eines Mannes, der alle Einzelheiten seines Gesichtskreises rasch aufzufassen gewöhnt ist. Fest gebaut, hatten ihn alle Klimate abgehärtet, wie das kalte Wasser den glühenden Stahl.

Seit 10 Jahren wohlbestallter Reporter des ‚New York Herald‘, bereicherte Gedeon Spilett ihn durch seine Berichte und Zeichnungen, denn er handhabte Feder und Stift mit gleicher Geschicklichkeit. Seine Gefangennahme erfolgte, als er einen Bericht über die Schlacht aufsetzte und eine Skizze davon zu Papier brachte. Die letzten Worte in seinem Notizbuch lauteten: „Zu meinen Füßen liegt ein Südstaatler und ... und Gedeon Spilett war verschollen, denn seiner unabänderlichen Gewohnheit gemäß war er auch bei diesem Treffen unverwundet geblieben.

Cyrus Smith und Gedeon Spilett, die sich gar nicht oder höchstens dem Namen nach kannten, schleppte man beide nach Richmond. Der Ingenieur genas bald von seiner Verwundung und machte während seiner Genesung die Bekanntschaft des Reporters. Die beiden Männer gefielen sich und lernten einander bald schätzen. In kurzer Zeit gipfelte ihr gemeinsames Leben nur noch in dem einen Zweck, zu fliehen, sich der Armee Grants wieder anzuschließen und aufs neue für die Unteilbarkeit des Vaterlands zu kämpfen.

Die beiden Amerikaner waren entschlossen, jede sich bietende Gelegenheit zu benutzen; doch obwohl sie in der Stadt frei umhergingen, war Richmond aber so dicht und streng bewacht, daß eine gewöhnliche Flucht unmöglich schien.

Mittlerweile hatte sich Cyrus Smith auch sein früherer, ihm auf Tod und Leben ergebener Diener beigesellt. Ein unerschrockener Neger, geboren auf einer Besitzung des Ingenieurs, erhielt er, obwohl sein Vater und seine Mutter zu den Sklaven gehörten, von Cyrus Smith, einem Abolitionisten von Kopf und Herz, die Freiheit. Aber der Sklave wollte von seinem Herrn nicht lassen, den er über sein Leben liebte. Er war ein Bursche von 30 Jahren, kräftig, beweglich, geschickt, intelligent, sanft und ruhig, manchmal recht naiv, immer lächelnd, diensteifrig und gutmütig. Sein Name lautete Nabuchodonosor, doch er hörte nur auf den abgekürzten, familiären Namen Nab.

Als Nab die Gefangennahme seines Herrn zu Ohren kam, verließ er ohne Zaudern Massachusetts, kam vor Richmond an und gelangte durch List und Verschlagenheit und zwanzig Mal in Gefahr, den Kopf dabei einzubüßen, in die belagerte Stadt. Die Freude Cyrus Smiths, seinen getreuen Diener wiederzusehen, und die Nabs, seinen Herrn wiederzufinden, spottete jeder Beschreibung.

Wenn Nab auch nach Richmond hatte hineinkommen können, so war es doch weit schwieriger, herauszukommen, da man die föderierten Gefangenen sehr sorgfältig überwachte. Es bedurfte demnach einer ganz außergewöhnlichen Gelegenheit, um einen Fluchtversuch mit einiger Aussicht auf Erfolg zu unternehmen, und diese bot sich nicht nur nicht selbst, sondern ließ sich auch sehr schwer herbeiführen.

Inzwischen setzte Grant seine energische Kriegführung fort. Der Sieg bei Petersburg wurde ihm lange streitig gemacht. Seine Streitmacht in Verbindung mit der von General Butler errang vor Richmond noch immer keine Erfolge und nichts prophezeite bis jetzt eine nah bevorstehende Befreiung der Gefangenen. Der Reporter, dem während der langweiligen Kriegsgefangenschaft jede Gelegenheit zu interessanten Berichten abging, konnte sich gar nicht beruhigen. Er hatte nur einen Gedanken, den, Richmond um jeden Preis zu verlassen. Mehrmals unternahm er einen darauf abzielenden Versuch, immer hielten ihn unüberwindbare Hindernisse zurück.

Die Belagerung nahm ihren weiteren Verlauf, und wenn die Gefangenen alles anwandten, um zu entwischen und zum Heer Grants zu stoßen, so hatten auch nicht weniger Belagerte die eiligste Absicht, davonzugehen, um die separatistische Armee zu erreichen, und unter diesen ein gewisser Jonathan Forster, ein leidenschaftlicher Südstaatler. Vermochten die föderierten Gefangenen die Stadt nicht zu verlassen, so konnten es die Konföderierten eben auch nicht, denn die Heere des Nordens schlossen diese in dichtem Ring ein. Schon lange Zeit war jede Verbindung zwischen dem Kommandanten von Richmond und General Lee unterbrochen, obwohl es im höchsten Interesse der Stadt lag, jenem ihre Lage mitzuteilen, um den Anmarsch eines Ersatzheeres zu beschleunigen. Der erwähnte Jonathan Forster kam deshalb auf den Einfall, die Linien der Belagerer mit Hilfe eines Ballons zu überschreiten und auf diese Weise in das Lager der Separatisten zu gelangen.

Der Kommandant genehmigte diesen Versuch. Sofort wurde ein Luftschiff angefertigt, und Jonathan Forster, dem fünf Begleiter in die Lüfte folgen sollten, zur Verfügung gestellt. Alle waren mit Waffen versehen, für den Fall einer nötig werdenden Verteidigung beim Landen, und mit Lebensmitteln für den einer längeren Dauer der Reise.

Die Abfahrt des Ballons wurde für den 18. März festgesetzt; sie sollte während der Nacht erfolgen, und die Luftschiffer hofften unter der Voraussetzung eines mäßigen Nordwestwinds binnen wenigen Stunden im Hauptquartier von General Lee anzukommen.

Dieser Nordwestwind wehte aber nicht in der erwünschten Stärke, sondern wuchs an jenem 18. März zur Macht eines Orkans, so daß die Abreise Forsters verschoben werden mußte, wollte man nicht mit dem Luftschiff das Leben derjenigen, die es durch das aufgewühlte Luftmeer getragen hätte, aufs Spiel setzen.

Gasgefüllt stand der Ballon auf dem großen Platz in Richmond, bereit aufzusteigen, sobald die Witterung es erlaubte, und die ganze Stadt brannte vor Ungeduld, den Zustand der Atmosphäre sich bessern zu sehen.

Der 18. und 19. März verlief ohne jede Veränderung des stürmischen Wetters; ja, man hatte schon die größte Mühe, den Ballon, den die Windstöße immer zur Erde niederdrückten, nur zu halten.

Die Nacht vom 19. zum 20. kam heran, aber nur toller wurde das Ungestüm des Wetters und dabei die Abreise zur Unmöglichkeit.

Am selben Tag wurde der Ingenieur Cyrus Smith auf der Straße von einem ihm unbekannten Mann angesprochen. Es war ein Seemann namens Pencroff von etwa 35 bis 40 Jahren, kräftiger Statur, sonnenverbranntem Aussehen, mit lebhaften, häufig blinzelnden Augen, aber im ganzen einnehmendem Gesicht. Dieser Pencroff stammte aus den Nordstaaten, hatte alle Meere der Erde befahren und an Abenteuern alles bestanden, was einem zweibeinigen Geschöpf ohne Flügel überhaupt nur widerfahren konnte. Es bedarf nicht der Erwähnung, daß sein unternehmender Charakter ihn alles wagen und vor gar nichts zurückschrecken ließ. Pencroff hatte sich anfangs dieses Jahres in Geschäften nach Richmond begeben, wobei ihn ein Junge von 15 Jahren begleitete, Harbert Brown aus New Jersey, der Sohn seines Kapitäns, eine Waise, die er wie sein eigenes Kind liebte. Verhindert, die Stadt vor dem Anfang der Belagerung wieder zu verlassen, befand er sich zum größten Mißvergnügen jetzt ebenfalls darin eingeschlossen und brütete nur über dem einen Gedanken, aus ihr auf irgendeine Weise zu entfliehen. Er kannte den Ingenieur Cyrus Smith dem Namen nach und wußte, mit welcher Ungeduld dieser Mann an seinen Fesseln nagte. An dem erwähnten Tag traf er auf ihn und zögerte nicht, ihn ohne jede Einleitung mit den Worten anzusprechen:

„Mr. Smith, sind Sie Richmond noch nicht satt?“

Der Ingenieur maß mit dem Blick den Mann, der ihn so anredete und halblaut hinzufügte:

„Mr. Smith, wollen Sie fliehen?“

„Und wie das ...?“ antwortete lebhaft der Ingenieur, dem diese Antwort fast wider Willen entfuhr, denn er hatte sich über den Unbekannten, der das Wort an ihn richtete, noch nicht vergewissert.

Nachdem er aber mit scharfem Blick die vertrauenerweckende Erscheinung des Seemanns gemustert hatte, konnte er nicht mehr daran zweifeln, einen ehrlichen Mann vor sich zu haben.

„Wer sind Sie?“ fragte er kurz.

Pencroff gab sich zu erkennen.

„Gut“, entgegnete Cyrus Smith, „aber welches Mittel zu entfliehen schlagen Sie mir vor?“

„Dort, jenen Faulenzer von Ballon, den man untätig angebunden hält, und der mir aussieht, als warte er ganz allein auf uns . . . !“

Der Seemann hatte gar nicht nötig, den Satz zu vollenden. Der Ingenieur verstand ihn vom ersten Wort an, ergriff ihn am Arm und zog ihn mit sich nach Hause.

Dort entwickelte der Seemann sein wirklich sehr einfaches Projekt, bei dem man eben höchstens sein Leben riskierte. Der Orkan tobte zwar gerade in tollster Heftigkeit, doch mußte ein geschickter und kühner Ingenieur, wie Cyrus Smith, ein Luftschiff wohl zu regieren vermögen.

Hätte Pencroff damit selbst Bescheid gewußt, er würde keinen Augenblick gezögert haben, – es versteht sich, nicht ohne Harbert, abzufahren. Er hatte manchen anderen Sturm gesehen und pflegte einen solchen nicht so hoch anzuschlagen.

Ohne ein Wort dazu zu sagen, hörte Cyrus Smith dem Seemann zu. Aber seine Augen leuchteten auf bei dieser sich bietenden Gelegenheit, und er war nicht der Mann, sich eine solche entgehen zu lassen. Das Projekt erschien nur sehr gefahrvoll, aber doch ausführbar. In der Nacht konnte man wohl trotz der Wachen an den Ballon herankommen, in die Gondel schlüpfen und die Seile kappen, die ihn fesselten. Gewiß lief man Gefahr, mit Kugeln begrüßt zu werden, auf der anderen Seite konnte der Versuch aber auch von Erfolg sein, und ohne diesen Sturm ... Ja, ohne diesen Sturm wäre aber auch das Luftschiff schon längst aufgestiegen, und jetzt böte sich nicht die so lange ersehnte Gelegenheit zur Flucht.

„Ich bin nicht allein“, sagte da endlich Cyrus Smith.

„Wieviele Personen gedächten Sie mitzunehmen?“ fragte der Seemann.

„Zwei; meinen Freund Spilett und meinen Diener Nab.“

„Das wären also zusammen drei Personen“, antwortete Pencroff, „und mit Harbert und mir im ganzen fünf. Nun, der Ballon sollte sechs Passagiere tragen .. .“

„Es ist gut; wir fahren ab!“ schloß Cyrus Smith.

Dieses „wir“ galt auch mit für den Reporter, aber der Reporter war kein ängstlicher Mann, und sobald er von dem Vorhaben Kenntnis erhielt, stimmte er ihm bei, und staunte lediglich darüber, daß er auf eine so einfache Idee noch nicht schon selbst gekommen war. Nab endlich folgte ja seinem Herrn, wohin dieser zu gehen beliebte.

„Diesen Abend also“, sagte Pencroff, „gehen wir zu fünf, wie aus Neugierde, dort umher.“

„Heute abend um 10 Uhr“, antwortete Cyrus Smith, „und nun gebe der Himmel, daß sich der Sturm nicht vor unserem Aufstieg legt!“

Pencroff verabschiedete sich von dem Ingenieur und ging nach seiner Wohnung zurück, wo der junge Harbert ihn erwartete. Der mutige Junge kannte den Plan des Seemanns und harrte ungeduldig auf das Resultat jenes Gangs zu dem Ingenieur. Fünf beherzte Menschen waren es also ohne Zweifel, die sich in den Orkan hinauszuwagen entschlossen hatten.

Der Sturm mäßigte sich nicht, und weder Jonathan Forster noch dessen Begleiter konnten daran denken, ihm in der zerbrechlichen Gondel Trotz zu bieten. Der Tag war schrecklich.

Der Ingenieur fürchtete nur das eine, daß der am Boden gefesselte und von den Windstößen häufig niedergedrückte Ballon in tausend Stücke zerreißen könnte.

Mehrere Stunden lang lief er auf dem fast menschenleeren Platz zur Beobachtung des Apparats hin und her. Pencroff seinerseits tat gähnend und die Hände in den Taschen dasselbe, wie einer, der seine Zeit nicht totzuschlagen weiß, aber mit derselben Angst, daß der Ballon zerreiße oder seine Stricke löse und in die Luft entfliehe.

Der Abend senkte sich nieder; ihm folgte eine finstere Nacht. Wolkengleich strichen dicke Nebel über die Erde; dazu fiel ein mit Schnee untermischter Regen. Das Wetter war kalt.

Über ganz Richmond lagerten dichte Dünste. Es schien, als habe der Sturm einen Waffenstillstand zwischen Belagerern und Belagerten zustandegebracht, und als schweige die Kanone, beschämt durch den entsetzlichen Donner des Orkans. Verlassen dehnten sich die Straßen der Stadt; man hatte es nicht einmal für nötig gehalten, den Platz, in dessen Mitte das Luftschiff hin und her schwankte, zu besetzen. Offenbar begünstigte alles die Flucht der Gefangenen, bis auf die entfesselten Elemente . . . !

„Eine abscheuliche Flut!“ sprach Pencroff für sich und stülpte sich seinen Hut, den der Wind entführen wollte, fester auf den Kopf. „Doch was da, wir werden schon mit ihr fertig!“

Um halb 10 schlichen sich Cyrus und seine Begleiter von verschiedenen Seiten auf den Platz, den die durch den Sturm verlöschten Gaslaternen in tiefem Dunkel ließen. Kaum sah man den ungeheuren, auf die Erde gedrückten Aerostaten. Unabhängig von den Ballastsäcken, die mit den Schnüren des Apparats verknüpft waren, wurde die Gondel durch ein starkes Tau zurückgehalten, das durch einen im Steinpflaster befestigten Ring und auch wieder zu ihrem Rand zurücklief.

Nahe der Gondel trafen sich die fünf Kriegsgefangenen.

Sie waren aufgrund der Dunkelheit, bei der sie sich kaum selbst erkannten, unbemerkt geblieben.

Ohne ein Wort zu sprechen, nahmen Cyrus Smith, Gedeon Spilett, Nab und Harbert in der Gondel Platz, während Pencroff auf Anordnung des Ingenieurs die Sandsäcke allmählich losknüpfte. Das war das Werk einiger Augenblicke, worauf der Seemann zu seinen Gefährten einstieg.

Jetzt wurde das Luftschiff nur noch durch das erwähnte Seil gehalten, und Cyrus Smith konnte jeden Augenblick in die Höhe gehen.

In diesem Moment sprang ein Hund mit einem Satz in den Korb. Es war Top, der Hund des Ingenieurs, der seine Ketten zerrissen und seinen Herrn aufgespürt hatte. Cyrus Smith befürchtete eine zu große Belastung und wollte das arme Tier wieder hinausjagen.

„Pah! Das ist einer mehr!“ sagte Pencroff und warf dafür zwei Säcke Ballast hinaus.

Dann ließ er das Seil schießen, der Ballon ging in schräg aufsteigender Linie ab, sein Korb stieß an zwei Schornsteine, die er über den Haufen warf, und fort war er in die Lüfte.

Der Orkan wütete mit entsetzlicher Gewalt. Während der Nacht konnte der Ingenieur an ein Niederlassen gar nicht denken, und als es wieder Tag wurde, raubten dichte Nebelmassen jede Aussicht nach der Erde. Erst 5 Tage später trat eine Aufhellung ein und zeigte das grenzenlose Meer unter dem Ballon, der mit rasender Geschwindigkeit dahinjagte.

Wir erzählten schon, wie von diesen am 20. März abgefahrenen fünf Passagieren vier am 24. auf eine verlassene Küste geworfen wurden, über 6.000 Meilen von ihrem Vaterland entfernt! 1)

Der aber, der fehlte und dem die vier übrigen eilend zu Hilfe liefen, war kein anderer, als ihr naturgemäßer Führer, war der Ingenieur Cyrus Smith!



1) Am 5. April fiel übrigens Richmond in die Hände Grants, womit der Bürgerkrieg sein Ende erreichte. Lee zog sich nach dem Westen zurück, und die Partei der Einheit Amerikas triumphierte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die geheimnisvolle Insel