Herr Bonacieux.

Wie man bemerken konnte, schien man sich um eine Person in dieser Erzählung, ungeachtet ihrer mißlichen Lage, doch nur mittelmäßig zu beunruhigen. Diese Person war Herr Bonacieux, der ehrsame Märtyrer politischer und verliebter Intrigen, die in dieser zugleich so ritterlichen und galanten Zeit recht gut nebeneinander bestanden. Die Häscher, die ihn gefangennahmen, führten ihn geradewegs nach der Bastille, wo man ihn ganz bebend an einer Rotte Soldaten vorübergehen ließ, die eben ihre Musketen luden. Zwei Wachen faßten den Krämer am Arm, ließen ihn über einen Hof gehen, öffneten eine Tür und stießen ihn in ein niederes Gemach, wo sich kein anderes Gerät vorfand, als ein Tisch und ein Stuhl, und auf diesem Stuhl saß ein Kommissar und schrieb auf dem Tisch. Dieser Kommissar war ein Mann von widerlichem Aussehen mit spitzer Nase, gelben, hervorragenden Backenknochen, kleinen, aber stechenden und lebhaften Augen, ein Mann, dessen Physiognomie ein Gemisch von Marder und Fuchs zu sein schien. Sein Kopf, von einem langen Hals getragen und hin und her schaukelnd, ragte aus seiner schwarzen Kleidung ungefähr mit derselben Bewegung hervor, wie man sie bei der Schildkröte bemerkt, wenn sie den Kopf aus ihrer Schale streckt. Der Angeklagte antwortete auf die Fragen: er nenne sich Jakob Michael Bonacieux, sei 51 Jahre alt, Krämer, lebe vom Geschäft zurückgezogen, und wohne in der Gasse Fossoyeurs Nr. 11. Nun hielt ihm der Kommissar, anstatt im Verhör fortzufahren, eine lange Rede über die Gefahr, welche ein gemeiner Bürgersmann laufe, wenn er sich in Staatsangelegenheiten mengt. Er verband diesen Eingang mit einer Erörterung, worin er von der Macht und Handlungsweise des Herrn Kardinals, dieses unvergleichlichen Ministers, dieses Überwinders des vorigen Ministers, dieses Beispiels der künftigen Staatsdiener, sprach, von einer Macht und Handlungsweise, denen niemand ungestraft vorgreifen könnte. „Doch, Herr Kommissar,“ erwiderte Herr Bonacieux zaghaft, „glauben Sie mir, daß ich mehr als irgend einer das Verdienst der unvergleichlichen Eminenz erkenne und zu würdigen verstehe.“

„Wirklich?“ fragte der Kommissar mit einer zweifelhaften Miene; „wenn aber das so wäre, wie kommt Ihr in die Bastille?“


„Wie ich hierher kam, oder vielmehr, warum ich hierher kam,“ entgegnete Bonacieux, „das kann ich Ihnen unmöglich sagen, da ich es selber nicht weiß; doch geschah es sicher nicht, weil ich mich gegen den Herrn Kardinal verfehlte, wenigstens nicht mit meinem Wissen.“

„Ihr müßt dennoch ein Verbrechen begangen haben, denn Ihr seid des Hochverrats beschuldigt.“

„Des Hochverrats!“ rief Bonacieux erschreckt, „des Hochverrats! wie sollte doch ein armer Krämer, der die Hugenotten und die Spanier haßt, des Hochverrats beschuldigt werden? Denken Sie nach, mein Herr! Die Sache ist materiell unmöglich.“

„Herr Bonacieux,“ versetzte der Kommissar und blickte den Angeklagten mit seinen kleinen Augen an, als vermöchten sie im Grunde der Herzen zu lesen, „Herr Bonacieux, Ihr habt eine Gemahlin?“

„Ja, mein Herr!“ antwortete der Krämer mit Zittern, da er merkte, um diesen Punkt drehe sich die ganze Geschichte, „das heißt, ich hatte eine.“

„Wie doch, Ihr hattet eine Gemahlin? Was habt Ihr denn getan, wenn Ihr sie nicht mehr habt?“

„Man hat sie mir entführt, mein Herr!“

„Man hat sie Euch entführt!“ rief der Kommissar, „und wißt Ihr auch, wer diesen Raub begangen hat?“

„Ich glaube ihn zu kennen.“

„Wer ist es?“

„Bedenken Sie, Herr Kommissar, daß ich nichts behaupte, sondern bloß vermute.“

„Wen vermutet Ihr also? sprecht offen und frei.“ Herr Bonacieux war ganz verblüfft; sollte er alles leugnen oder alles eingestehen? Leugnete er alles, so konnte man glauben, er wisse zuviel, um einzugestehen; sagte er alles, so bewies er damit einen guten Willen. Er entschloß sich also, alles zu bekennen.

„Ich ziehe einen Mann in Verdacht“, sprach er, „von brauner Gesichtsfarbe und stolzer Miene, der ganz das Aussehen eines großen Herrn hat; er ging uns öfter nach, wie mich dünkte, wenn ich an der Pforte des Louvre auf meine Frau wartete, um sie nach Hause zu führen.“ Der Kommissar schien etwas beunruhigt zu sein und fragte:

„Wie nennt er sich?“

„Ach, seinen Namen weiß ich nicht. Wenn ich ihm aber einmal begegne, und wäre es unter tausend Menschen, so stehe ich dafür, daß ich ihn wiedererkenne.“ Die Stirn des Kommissars umschattete sich. Er sagte:

„Ihr sagt, daß Ihr ihn unter tausend Menschen wiedererkennen würdet?“

„Das heißt,“ entgegnete Bonacieux, der wohl einsah, daß er auf einem falschen Wege war, „das heißt...“

„Ihr habt mir geantwortet,“ sagte der Kommissar, „daß Ihr ihn wiedererkennen würdet... Es ist gut, für heute ist es genug. Ehe wir in der Sache weitergehen, muß jemand benachrichtigt werden, daß Ihr den Entführer Eurer Gemahlin kennt.“

„Ich habe ja nicht gesagt, daß ich ihn kenne!“ rief Bonacieux in Verzweiflung, „im Gegenteil...“

„Führt den Gefangenen fort,“ sprach der Kommissar zu den Wachen. „Und wohin soll er geführt werden?“ fragte der Amtsschreiber. „In den Kerker.“

„In welchen?“

„O, mein Gott! in den ersten besten, wenn er nur fest ist,“ antwortete der Kommissar mit einer Gleichgültigkeit, die den armen Bonacieux mit Schauder erfüllte. „Ach! ach!“ seufzte er bei sich selbst, „das Unglück liegt auf meinem Haupte; meine Gemahlin mag ein entsetzliches Verbrechen begangen haben; man hält mich für ihren Mitschuldigen, und so wird man mich mit ihr bestrafen. Sie hat gewiß gesagt und eingestanden, daß sie mir alles mitteilte; so schwach ist eine Frau. In den Kerker, in den ersten besten! so geht es. Eine Nacht ist bald vorbei, dann heißt es zum Rad, zum Galgen! Ach, mein Gott, mein Gott! habe mit mir Erbarmen.“ Die zwei Wachen faßten Bonacieux am Arm und führten ihn fort, indes der Kommissar eilfertig einen Brief schrieb, auf den der Amtsschreiber wartete.

Bonacieux machte kein Auge zu, nicht, als wäre sein Kerker zu schrecklich gewesen, sondern weil seine Unruhe zu heftig war. Er kauerte die ganze Nacht auf seinem Schemel und bebte bei dem geringsten Lärm, und als die ersten Sonnenstrahlen in sein Gefängnis drangen, erschien ihm die Morgenröte wie Leichenschimmer. Auf einmal hörte er die Riegel knarren, und er fuhr erschreckt zusammen. Der Unglückliche dachte, man hole ihn schon, um ihn nach dem Schafott zu schleppen. Als er aber anstatt des Henkers seinen Kommissar und Amtsschreiber von gestern eintreten sah, wäre er ihnen fast um den Hals gefallen. „Eure Sache hat sich seit gestern abend sehr verwickelt, wackerer Mann!“ sprach der Kommissar, „und ich gebe Euch den Rat, die lautere Wahrheit zu bekennen, da nur Eure Reue den Zorn des Kardinals zu beschwören vermag.“

„Ich bin ja bereit, alles zu sagen,“ entgegnete Bonacieux, „wenigstens alles, was ich weiß. Ich bitte, fragt mich nur.“

„Fürs erste, wo ist Eure Gemahlin?“

„Aber ich sagte ja schon, daß sie mir entführt worden ist.“

„Ja doch, gestern um fünf Uhr; und zwar ist dieselbe mit Eurer Beihilfe entschlüpft.“

„Meine Frau ist entschlüpft!“ rief Bonacieux. „O, die Unglückliche! Mein Herr, wenn sie entschlüpft ist, so bin ich nicht schuld daran, das kann ich Ihnen beschwören.“

„Was hattet Ihr denn bei Herrn d'Artagnan, Eurem Nachbar, zu tun, mit dem Ihr an diesem Tag eine lange Unterredung gehabt habt?“

„Ach ja, Herr Kommissar! ja, das ist wahr, und ich gestehe, daß ich unrecht tat. Ja, ich war bei Herrn d'Artagnan.“

„Und was war der Endzweck Eures Besuches?“

„Ich wollte ihn bitten, daß er mir meine Frau aufsuchen helfe. Ich glaubte, sie mit Recht zurückverlangen zu können, allein ich irrte mich, wie es scheint, und bitte um Verzeihung.“

„Und was hat Herr d'Artagnan geantwortet?“

„Herr d'Artagnan hat mir seine Hilfe versprochen, doch bemerkte ich bald, daß er mich verraten habe.“

„Ihr hintergeht die Justiz. Herr d'Artagnan hat mit Euch einen Vertrag geschlossen, vermöge desselben die Wachen fortgetrieben, die Eure Frau verhafteten, und so alle Nachsuchungen vereitelt.“

„Herr d'Artagnan hat meine Frau entführt! Ei, was Sie mir da erzählen!“

„Glücklicherweise ist Herr d'Artagnan in unserer Gewalt, und Ihr sollt mit ihm konfrontiert werden.“

„O, bei meiner Treu! das geht ganz nach Wunsch,“ rief Bonacieux, „es ist mir gar nicht unangenehm, ein bekanntes Gesicht zu sehen.“

„Laßt Herrn d'Artagnan eintreten,“ sprach der Kommissar zu den Wachen. Die zwei Wachen ließen Athos eintreten. „Herr d'Artagnan,“ sagte der Kommissar zu Athos gewendet, „erklären Sie, was zwischen Ihnen und diesem Herrn vorgegangen ist.“

„Doch,“ rief Bonacieux, „das ist ja nicht Herr d'Artagnan, den Ihr mir da zeigt.“

„Wie, ist das nicht d'Artagnan?“ fragte der Kommissar. „Nicht im geringsten,“ erwiderte Bonacieux. „Wie nennt sich dieser Herr?“ fragte der Kommissar. „Ich kann es nicht sagen, da ich ihn nicht kenne.“

„Wie doch, Ihr kennt ihn nicht?“

„Nein.“

„Ihr habt ihn noch niemals gesehen?“

„Das wohl, doch weiß ich nicht, wie er heißt.“

„Wie heißen Sie?“ fragte der Kommissar. „Athos!“ antwortete der Musketier. „Aber das ist ja nicht der Namen eines Menschen, sondern eines Berges,“ sagte der Beamte, der schon den Kopf zu verlieren anfing. „Es ist mein Name,“ versetzte Athos gelassen. „Sie haben aber doch gesagt, daß Sie d'Artagnan heißen.“

„Ich?“

„Ja, Sie.“

„Das heißt, man sprach zu mir: ›Sie sind Herr d'Artagnan!‹ und ich antwortete: ›Glaubt Ihr das?‹ Meine Wachen riefen aus, sie wüßten das gewiß; ich wollte ihnen nicht widersprechen, und überdies konnte ich mich irren.“

„Mein Herr! Sie beleidigen die Majestät der Justiz.“

„Keineswegs,“ versetzte Athos ruhig. „Sie sind Herr d'Artagnan.“

„Nun, Sie sagen es mir noch einmal.“

„Doch,“ rief jetzt Bonacieux, „ich sage Ihnen, Herr Kommissar, daß man hier keinen Augenblick zu zweifeln braucht. Herr d'Artagnan wohnt in meinem Hause, und somit muß ich ihn kennen, obwohl er mir meine Miete nicht bezahlt, aber gerade aus dieser Ursache muß ich ihn kennen. Herr d'Artagnan ist ein junger Mann von kaum neunzehn oder zwanzig Jahren, während dieser Herr sicher schon dreißig zählt. Herr d'Artagnan gehört zu den Garden des Herrn des Essarts, und dieser Herr zur Kompagnie der Musketiere des Herrn von Tréville. Betrachten Sie nur die Uniform, Herr Kommissar! Betrachten Sie die Uniform.“

„Es ist wahr,“ murmelte der Kommissar, „bei Gott! es ist wahr.“ In diesem Moment ging die Tür rasch auf, und ein Bote, den ein Gefängniswächter der Bastille hereinführte, überbrachte dem Kommissar einen Brief. „O, die Unglückliche!“ rief der Kommissar.

„Wie – was sagen Sie? von wem reden Sie? ich will hoffen, nicht von meiner Gemahlin?“

„Ja, eben von ihr. Geht, Eure Sache steht sehr hübsch.“

„Ha,“ rief der Krämer außer sich; „erweisen Sie mir den Gefallen und sagen Sie, wie sich meine Sache durch das verschlimmern kann, was meine Gemahlin tut, während ich gefangen liege?“

„Weil das, was sie tut, die Folge eines Planes ist, eines höllischen Planes, den Ihr mitsammen angezettelt habt.“

„Ich schwöre Ihnen, Herr Kommissar, daß Sie völlig im Irrtum sind; daß ich nicht das geringste von dem weiß, was meine Frau tun sollte; daß mir das ganz unbewußt ist, was sie getan hat, und daß ich sie verleugne und verwünsche, wenn sie Albernheiten begangen hat.“

„Ha,“ sprach Athos zum Kommissar, „wenn Sie mich hier nicht benötigen, so lassen Sie mich fortgehen. Dieser Herr Bonacieux ist sehr langweilig.“

„Führt die Gefangenen zurück in ihre Kerker,“ rief der Kommissar und bezeichnete mit gleicher Gebärde Athos und Bonacieux, „und bewacht sie strenger als je.“

„Haben Sie aber mit d'Artagnan zu tun,“ sagte Athos mit seiner gewohnten Ruhe, „so sehe ich gar nicht ein, warum ich seinen Platz einnehmen soll.“

„Tut, was ich befohlen habe!“ rief der Kommissar, „und haltet das strengste Stillschweigen, hört Ihr?“ Athos folgte den Wachen, die Achsel zuckend, während Herr Bonacieux ein Klagegeschrei ausstieß, das einem Tiger das Herz hätte durchbohren mögen. Der Krämer wurde in denselben Kerker zurückgeführt, worin er die vorige Nacht zugebracht hatte, und hier ließ man ihn den ganzen Tag. Herr Bonacieux weinte wie ein wahrhafter Krämer, denn er war ganz und gar kein Mann vom Schwerte, wie er selbst erklärt hatte. Am Abend gegen neun Uhr, in dem Moment, wo er sich entschloß, ins Bett zu gehen, vernahm er Tritte im Korridor. Diese Tritte näherten sich seinem Kerker, die Tür ging auf und die Wachen traten ein.

„Folgt mir,“ rief ein Gefreiter, der hinter den Wachen stand.

„Euch folgen!“ stammelte Bonacieux, „Euch folgen, zu dieser Stunde, o mein Gott, wohin denn?“

„Wohin Euch zu führen wir beauftragt sind.“

„Das ist aber keine Antwort.“

„Es ist die einzige, die wir Euch geben dürfen.“

„Ach, mein Gott, mein Gott!“ seufzte der Krämer, „diesmal bin ich verloren!“ Er folgte maschinenartig und ohne Widersetzlichkeit den Wachen, die ihn holten. Vor dem Tore des Einfahrtshofes fand er einen Wagen, der von vier Wachsoldaten zu Pferd umgeben war. Man ließ ihn in diesen Wagen steigen, der Gefreite nahm neben ihm Platz. Der Kutschenschlag wurde mit einem Schlüssel gesperrt, und so saßen beide in einem fortrollenden Gefängnis.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die drei Musketiere