Ein Tropfen Wasser.

Rochefort hatte sich kaum entfernt, als Madame Bonacieux zurückkehrte und Mylady mit lachendem Gesicht antraf. „Nun,“ sagte die junge Frau, „was Sie befürchtet haben, ist auch eingetroffen. Diesen Abend oder morgen läßt der Kardinal Sie abholen.“

„Wie wissen Sie das?“


„Ich hörte es aus dem Munde des Boten.“

„Setzen Sie sich zu mir,“ sagte Mylady. „Hier sitze ich.“

„Warten Sie, ich will mich versichern, daß uns niemand behorche.“

„Wozu diese Vorsicht?“

„Sie sollen es erfahren.“ Mylady erhob sich, ging zur Tür. öffnete sie, blickte hinaus in den Korridor, kehrte wieder zurück und nahm neben Madame Bonacieux Platz. „Er hat also seine Rolle gut gespielt!“ sagte sie. „Wer denn?“

„Der Mann, der sich bei der Äbtissin als Gesandter des Kardinals angemeldet hat.“

„Hat er denn eine Rolle gespielt?“

„Ja, mein Kind!“

„Dieser Mensch ist also kein...“

„Dieser Mensch,“ versetzte Mylady mit gedämpfter Stimme, „dieser Mensch ist mein Bruder.“

„Ihr Bruder!“ rief Madame Bonacieux. „Um dieses Geheimnis weiß niemand, als Sie, mein Kind, und wenn Sie es irgend jemanden mitteilen, so bin ich verloren, und Sie vielleicht mit mir.“

„Ach, mein Gott!“

„Hören Sie, was geschehen ist: mein Bruder, der mir zu Hilfe kam und mich nötigenfalls gewaltsam von hier wegbringen wollte, traf den Emissär des Kardinals, welcher mich abholen sollte. Er folgte ihm nach, und als sie sich auf einem einsamen, verborgenen Wege befanden, zog er seinen Degen und begehrte vom Boten die Papiere, die er bei sich trüge. Dieser wehrte sich, und mein Bruder tötete ihn. „Ach!" seufzte Madame Bonacieux erschüttert. „Aber bedenken Sie, daß dieses das einzige Mittel war. Sonach beschloß mein Bruder, List statt Gewalt zu gebrauchen. Er nahm die Papiere, trat hier als Abgesandter des Kardinals auf, und in ein paar Stunden wird mich auf Befehl Seiner Eminenz ein Wagen abholen.“

„Ich begreife, diesen Wagen sendet Ihnen Ihr Bruder.“

„Richtig, doch das ist noch nicht alles. Der Brief, den Sie empfangen haben, und von dem Sie glauben, er komme von der Frau von Chevreuse...“

„Nun?“

„Er ist falsch.“

„Wieso?“

„Ja, falsch; es ist ein Fallstrick, damit Sie, wenn man Sie abholen will, keinen Widerstand leisten.“

„Aber d'Artagnan wird kommen und mich abholen.“

„Sie irren; d'Artagnan und seine Freunde sind bei der Belagerung von La Rochelle.“

„Woher wissen Sie das?“

„Mein Bruder hat (hat !!!) Emissäre des Kardinals in Musketieruniform begegnet. Man würde Sie vor die Tür gerufen haben, Sie wären der Meinung gewesen, Ihre Freunde seien angekommen; man hätte sie festgenommen, und nach Paris zurückgeschleppt.“

„Ach, Gott, mein Kopf verwirrt sich mitten in diesem Chaos von Schändlichkeiten. Ich fühle, daß ich verrückt werden müßte, wenn das noch lange fortdauern würde –“ klagte Madame Bonacieux und preßte die Stirn in ihre Hände. „Hören Sie.“

„Was?“

„Ich höre den Tritt eines Pferdes. Es ist das meines Bruders, der wieder abreist. Kommen Sie, ich will ihm ein letztes Lebewohl sagen.“ Mylady öffnete das Fenster und gab Madame Bonacieux einen Wink, daß sie zu ihr treten möge. Rochefort ritt im Galopp vorbei. „Leb' wohl, Bruder!“ rief Mylady. Der Edelmann blickte in die Höhe, sah die zwei jungen Frauen und winkte Mylady im schnellen Ritte freundlich zu. „Der gute George,“ sagte sie, indem sie mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit und Schwermut das Fenster wieder zuschloß. Dann setzte sie sich abermals auf ihren Platz, als wäre sie in rein persönliche Gedanken vertieft. „Liebe Dame,“ sagte Madame Bonacieux, „um Vergebung, daß ich Sie störe, doch, mein Gott! was raten Sie mir denn zu tun? Sie haben mehr Erfahrung wie ich, sprechen Sie, ich höre.“

„Fürs erste,“ entgegnete Mylady, „kann ich irren, und es ist wohl möglich, daß Ihnen d'Artagnan und seine Freunde in der Tat zu Hilfe kommen.“

„O,das wäre schön!“ rief Madame Bonacieux, „aber so viel Glück gibt es für mich nicht auf dieser Welt.“

„Sie begreifen, daß es ganz einfach eine Zeitfrage, eine Art Wettlauf wäre, wer zuerst ankäme; tragen in der Schnelligkeit Ihre Freunde den Sieg davon, so sind Sie gerettet; gewinnen die Boten des Kardinals den Vorsprung, so sind Sie verloren.“

„Ach, ja! ja! ohne Barmherzigkeit verloren. Doch was tun; was anfangen?“

„Da gäbe es ein ganz einfaches, ganz natürliches Mittel.“

„O, nennen Sie es.“

„Es bestände darin, daß Sie, in der Umgebung verborgen, harren, um sich zu überzeugen, welche Menschen nach Ihnen verlangen.“

„Aber wo soll ich harren?“

„O, das hält nicht schwer, ich selbst verberge mich einige Meilen von hier, und bleibe dort, bis mich mein Bruder holt; wenn es Ihnen beliebt, so nehme ich Sie mit, wir verstecken uns mitsammen und harren gemeinschaftlich auf Rettung.“

„Man wird mich aber nicht fortlassen, da ich gleichsam als Gefangene hier bin.“

„Bei dem Glauben, daß ich im Auftrag des Kardinals reise, wird man nicht dafür halten, daß Sie große Eile hätten, mir zu folgen.“

„Und dann?“

„Der Wagen steht vor der Tür. Sie sagen mir Lebewohl, steigen auf den Fußtritt, um mich zum letztenmal zu umarmen, der Bediente meines Bruders, der mich fortführt, wird in Kenntnis gesetzt, er gibt dem Postillon einen Wink und wir rollen im Galopp von hinnen.“

„Aber d'Artagnan —- wenn d'Artagnan kommt.“

„Werden wir das nicht erfahren?“

„Wie denn?“

„Nichts ist leichter als das, wir schicken den Bedienten meines Bruders, auf den wir rechnen können, zurück; er mietet unter einer Verkleidung eine Wohnung dem Kloster gegenüber; kommen Emissäre des Kardinals, so rührt er sich nicht, kommen aber d'Artagnan und seine Freunde, so führt er sie an den Ort, wo wir verborgen sind.“

„Er kennt sie also?“

„Allerdings; hat er denn nicht Herrn d'Artagnan bei mir gesehen?“

„O ja, ja, Sie haben recht. Auf diese Weise wird alles gut gehen. Aber machen wir uns nicht bald auf den Weg?“

„Um sieben Uhr oder längstens um acht Uhr sind wir an der Grenze und verlassen Frankreich bei dem ersten Lärm.“

„Und was soll ich bis dahin tun?“

„Warten.“

„Wenn sie aber kommen?“

„Der Wagen meines Bruders wird noch vor ihnen eintreffen.“

„Wenn ich in dem Moment, da man Sie abholt, von Ihnen fern bin, etwa beim Mittag- oder Abendessen?“

„So hören Sie, was zu tun ist.“

„Was?“

„Bitten Sie unsere gute Äbtissin, das Mahl mit mir einnehmen zu dürfen, damit Sie mich so wenig wie möglich zu verlassen brauchen.“

„Wird sie das erlauben?“

„Was ist denn an der Sache Ungereimtes?“

„O schön, schön, auf diese Weise trennen wir uns nicht einen Augenblick.“

„Nun, gehen Sie jetzt hinab, und tragen Sie ihr die Bitte vor; mein Kopf ist mir so schwer, ich will einen Gang durch den Garten machen.“

„Gehen Sie, und wo werde ich Sie wieder treffen?“

„Hier, nach einer Stunde.“

„O, ich danke; wie gütig sind Sie doch!“

„Wie sollte ich nicht eine warme Teilnahme für Sie empfinden, da Sie so schön und liebenswürdig sind, und sind Sie nicht auch die Freundin von einem meiner besten Freunde?“

„Der liebe d'Artagnan, wie dankbar wird er Ihnen sein!“ Die zwei Frauen wechselten ein holdseliges Lächeln und schieden.

Nach Verlauf einer Stunde vernahm Mylady eine süße Stimme, die ihr zurief. Es war Madame Bonacieux. Die gütige Äbtissin gab ihr natürlich die Erlaubnis zu allem, und für den Anfang sollten sie das Abendbrot gemeinschaftlich verzehren. Als sie in den Hof kamen, hörten sie einen Wagen rollen, der vor dem Tor anhielt. Mylady lauschte und sagte dann: „Hören Sie?“

„Ja, das Rollen eines Wagens.“

„Es ist derjenige, den uns mein Bruder sendet.“

„O, mein Gott!“

„Auf, nur mutvoll!“ Man läutete an der Klosterpforte. Mylady hatte nicht geirrt. „Gehen Sie hinauf in Ihr Zimmer,“ sprach sie zu Madame Bonacieux. „Sie haben wohl einige Kleinodien, die Sie gern mitnehmen.“

„Ich habe seine Briefe,“ antwortete sie. „Gut, so holen Sie dieselben; kommen Sie dann wieder schnell zu mir, daß wir geschwind ein kleines Abendbrot nehmen; vielleicht reisen wir einen Teil der Nacht, wo wir Kräfte nötig haben.“

„Großer Gott!“ rief Madame Bonacieux, „mein Herz droht zu brechen, ich kann nicht von hinnen.“

„Nur Mut, meine Teure, nur Mut! Bedenken Sie, daß Sie in einer Viertelstunde schon gerettet sind, und das, was Sie tun, nur für ihn tun.“

„Ja, ja, alles für ihn, alles. Sie erwecken mir durch ein einziges Wort den Mut wieder. Gehen Sie, ich folge.“ Madame Bonacieux nahm das Glas, das vor ihr stand, zur Hand. In demselben Moment aber, wo sie trinken wollte, erstarrte ihre Hand. Sie hörte von der Ferne das herannahende Stampfen eines Galopps, und fast zu gleicher Zeit glaubte sie Pferdegewieher zu vernehmen. Dieses Getöse riß sie aus ihrer Freude, wie uns das Brausen eines Sturmes mitten aus einem schönen Traume weckt; sie wurde blaß und lief nach dem Fenster, indes sich Madame Bonacieux am ganzen Leibe zitternd erhob und sich auf den Stuhl stemmte, um nicht umzusinken. Man sah noch nichts, doch hörte man den Galopp immer lauter. „O, mein Gott!“ rief Madame Bonacieux, „was hat dieses Geräusch zu bedeuten?“

„Es kommt von unsern Freunden, oder von unsern Feinden,“ entgegnete Mylady mit schauerlicher Kaltblütigkeit. „Bleiben Sie, wo Sie sind, ich werde es Ihnen sagen.“ Madame Bonacieux blieb auf ihrem Platze stehen, stumm, regungslos und blaß wie eine Bildsäule. Indes wurde das Geräusch immer stärker. Die Pferde konnten nicht mehr über fünfhundert Schritte entfernt sein. Man konnte sie bloß deshalb nicht sehen, weil die Straße eine Biegung hatte. Allein das Stampfen war so deutlich, daß man fast die Anzahl der Pferde an dem Hufschlag unterscheiden konnte. Mylady spähte mit aller Anstrengung der Aufmerksamkeit. Es war gerade noch hell genug, um die Ankömmlinge erkennen zu können. Auf einmal sah sie an der Krümmung des Weges Tressenhüte schimmern und Federn flattern. Sie zählte zwei, dann fünf, endlich acht Reiter. Einer davon ritt den andern um zwei Pferdelängen voran. Mylady brach in Stöhnen aus. Sie erkannte in demjenigen, der voraus ritt, d'Artagnan. „O, mein Gott! seufzte Madame Bonacieux, „was ist es denn?“

„Es ist die Uniform der Leibwachen des Kardinals, verlieren wir keinen Augenblick,“ schrie Mylady, „entfliehen wir, schnell hinweg!“

„Ja, ja, entfliehen wir," wiederholte Madame Bonacieux, vermochte aber keinen Schritt zu tun, da sie der Schrecken an ihren Platz fesselte. Man hörte die Reiter unter dem Fenster vorübertraben. „So kommen Sie, kommen Sie doch,“ rief Mylady und suchte die junge Frau am Arme fortzuzerren; „mit Hilfe des Gartens können wir noch entschlüpfen; ich habe den Schlüssel, doch schnell, denn in fünf Minuten wäre es schon zu spät.“ Madame Bonacieux versuchte zu gehen, tat ein paar Schritte und sank in die Knie. In diesem Augenblick vernahm man das Rollen eines Wagens, der beim Anblick der Musketiere im Galopp davonsprengte. Darauf erdröhnten drei oder vier Schüsse. „Zum letztenmal,“ rief Mylady, „wollen Sie kommen?“ Plötzlich funkelte ein fahler Blitz aus ihrem Auge. Sie lief zu dem Tisch und goß in das Glas von Madame Bonacieux den Inhalt eines Ringkastens, den sie mit eigentümlicher Hastigkeit geöffnet hatte. Es war ein rotes Kügelein, das auf der Stelle zerfloß. Hierauf ergriff sie das Glas mit fester Hand und sprach zu Madame Bonacieux: „Trinken Sie, dieser Wein wird Ihnen Kraft geben, trinken Sie.“ Sie hielt das Glas an die Lippen der jungen Frau, die maschinenartig trank. „Ha! ich wollte mich nicht auf diese Weise rächen,“ stammelte Mylady, während sie mit einem höllischen Grinsen das Glas auf den Tisch stellte; „aber meiner Treu, man tut nur, was man kann.“ Darauf stürzte sie aus dem Zimmer. Madame Bonacieux sah sie fliehen, konnte ihr aber nicht folgen. Es war ihr wie jenen Menschen, die träumen, daß man sie verfolge, und umsonst zu laufen versuchen. So vergingen einige Minuten. Ein entsetzlicher Lärm entstand vor der Tür. Madame Bonacieux erwartete jeden Augenblick Myladys Zurückkunft, doch erschien sie nicht wieder. Es trat ihr zu öfterenmalen ein kalter Schweiß auf die brennende Stirn, zweifelsohne eine Wirkung des Schreckens. Endlich hörte sie das Knarren der Gitter, die man öffnete. Der Lärm von Stiefel u“d Sporen erdröhnte auf der Treppe; sie glaubte in einem starken Gemurmel von Stimmen, die sich näherten, ihren Namen nennen zu hören. Auf einmal erhob sich ein lautes Jubelgeschrei, und man stürzte nach der Tür; sie erkannte d'Artagnans Stimme. „D'Artagnan" rief sie, „d'Artagnan, sind Sie es? Hierher!“

„Konstanze! Konstanze!" erwiderte der junge Mann; „o Gott, wo sind Sie denn?“ In demselben Moment ward die Tür der Zelle durch einen gewaltsamen Stoß aufgesprengt. Mehrere Männer traten in das Zimmer; Ma- Mehrere Männer traten in das Zimmer; Madame Bonacieux war in einen Lehnstuhl gesunken, ohne daß sie sich von der Stelle zu rühren vermochte. D'Artagnan schleuderte eine noch rauchende Pistole von sich und sank vor seiner Geliebten auf die Knie. Athos steckte seine Pistole in den Gürtel; Porthos und Aramis, die ihre entblößten Degen in der Hand hielten, steckten sie in die Scheide. „O, d'Artagnan, mein geliebter d'Artagnan, endlich kommst du; ha,du hast mich nicht getäuscht, du bist es.“

„Ja, ja, Konstanze! endlich vereinigt.“

„O, sie hatte gut sagen, daß du nicht kommest, ich hoffte dennoch und wollte nicht entfliehen. O, wie wohl tat ich daran, wie bin ich glücklich!“ Bei dem Worte sie erhob sich Athos plötzlich, nachdem er sich schon gesetzt hatte. „Sie, wer sie?“ fragte d'Artagnan. „Meine Gefährtin, diejenige, die mich aus Freundschaft meinen Verfolgern entreißen wollte, diejenige, die eben entflohen ist, weil sie Euch für Leibwachen des Kardinals gehalten hat.“

„Ihre Gefährtin?“ fragte d'Artagnan und wurde so blaß wie der weiße Schleier seiner Geliebten. „Von welcher Gefährtin reden Sie?“

„Von derjenigen, deren Wagen vor der Tür stand; von einer Frau, die sich Ihre Freundin nannte, d'Artagnan; von einer Frau, der Sie alles vertraut haben.“

„Ihr Name!“ rief d'Artagnan, „mein Gott! wissen Sie ihren Namen nicht?“

„Ja, man hat ihn in meiner Gegenwart genannt. Warten Sie, doch das ist sonderbar... ha, mein Gott! meine Sinne verwirren sich... ich sehe nichts mehr...“

„Seht nur, meine Freunde, seht; ihre Hände sind kalt wie Eis,“ sprach d'Artagnan. „Großer Gott! sie verliert das Bewußtsein.“ Während Porthos mit der ganzen Gewalt seiner Stimme um Hilfe rief, eilte Aramis zu dem Tisch, um ein Glas Wasser zu holen. Er blieb jedoch auf einmal stehen, als er die schreckliche Verstörung in Athos Gesichtszügen gewahrte, der am Tische stand, die Haare gesträubt, die Glieder starr vor Schreck, eines von den Gläsern betrachtete und von einer entsetzlichen Vermutung hingerafft schien. Dann sprach er: „O nein, das ist nicht möglich! Gott würde ein solches Verbrechen nicht zulassen.“

„Wasser, Wasser!“ schrie d'Artagnan, „Wasser!“

„O, arme, arme Frau!“ seufzte Athos mit gebrochener Stimme. Madame Bonacieux schlug unter d'Artagnans Küssen die Augen wieder auf. „Sie kommt zu sich!“ rief der junge Mann, „o mein Gott, mein Gott! ich danke dir.“

„Madame,“ fragte Athos. „Madame, in des Himmels Namen, wem gehört dieses leere Glas?“

„Mir,“ erwiderte die junge Frau mit ersterbender Stimme. „Wer hat aber den Wein eingeschenkt, der in diesem Glase war?“

„Sie.“

„Doch, wer sie?“

„Ha, ich erinnere mich,“ stammelte Madame Bonacieux. „die Gräfin Winter.“ Die vier Freunde stießen einen einzigen, gleichzeitigen Schrei aus, aber Athos' Stimme beherrschte die andern. In diesem Moment wurde das Gesicht der Madame Bonacieux leichenfahl. Ein dumpfer Schmerz warf sie nieder. Sie sank schwer atmend in Porthos' und Aramis' Arme. D'Artagnan erfaßte Athos' Hände mit unsäglicher Angst und sagte: „Wie -— du meinst?“ Seine Stimme ward von einem heftigen Schluchzen erstickt. „Ich glaube alles,“ versetzte Athos und biß in seine Lippen, daß das Blut hervorrann. „D'Artagnan, d'Artagnan!“ rief Madame Bonacieux, „ach wo bist du? Verlaß mich nicht; du siehst; daß ich sterbe.“ D'Artagnan ließ Athos' Hände los, die er in seinen krampfhaft gepreßten Fäusten gehalten hatte. Ihr so schönes Angesicht war ganz verstört, ihre glasigen Augen hatten schon keinen Blick mehr, ein krampfhaftes Beben schüttelte ihren ganzen Leib, und der Schweiß floß ihr in Strömen von der Stirn. „Im Namen des Himmels, eilt!“ rief Porthos. Aramis schrie um Hilfe. „Umsonst,“ versetzte Athos, „umsonst! für das Gift, das sie eingeflößt, gibt es kein Gegengift.“

„Ja, Hilfe, Hilfe!“ ächzte Madame Bonacieux. „Hilfe!“ Dann raffte sie alle ihre Kräfte zusammen, nahm den Kopf des jungen Mannes zwischen ihre beiden Hände, starrte ihn eine Sekunde lang an, als wäre ihre ganze Seele in ihren Blick übergeschmolzen, und preßte mit einem jammervollen Schrei ihre Lippen auf die seinigen. „Konstanze, Konstanze,“ stammelte d'Artagnan. Ein Seufzer ertönte aus dem Munde von Madame Bonacieux, der den von d'Artagnan berührte. Dieser Seufzer war die so reine, so liebevolle Seele, die zum Himmel emporschwebte. D'Artagnan hielt nur noch eine Leiche in seinen Armen. Der junge Mann stieß einen Schrei aus und stürzte neben seiner Geliebten nieder, so blaß und starr wie sie. Porthos weinte. Athos streckte die geballte Hand zum Himmel empor. Aramis schlug ein Kreuz. In diesem Augenblick erschien ein Mann an der Tür, der fast so blaß war wie diejenigen, die im Zimmer waren. Er blickte um sich, sah Madame Bonacieux entseelt und d'Artagnan ohnmächtig. Er traf gerade in dem Moment der Erstarrung ein, die immer auf große Katastrophen erfolgt. „Ich habe mich nicht geirrt,“ sprach er, „hier ist Herr d'Artagnan, und Sie sind seine drei Freunde: Athos, Porthos und Aramis.“ Die drei genannten Männer blickten den Fremden verwunderungsvoll an; allen dünkte, daß sie ihn kennen sollten. „Meine Herren,“ sprach der Fremde, „Sie suchen wie ich eine Frau, und diese“, fügte er mit einem schauerlichen Lächeln hinzu, „muß wohl hier durchgereist sein, da ich dort eine Leiche sehe.“ Die drei Freunde blieben stumm; nur erinnerte sie die Stimme wie vorher das Gesicht an einen Mann, den sie schon einmal gesehen hatten; sie konnten sich aber nicht entsinnen, unter welchen Umständen. „Meine Herren,“ fuhr der Fremde fort, „indem Sie mich nicht wieder als denjenigen erkennen wollen, der Ihnen zweifelsohne sein Leben zu verdanken hat, so muß ich meinen Namen sagen: ich bin Lord Winter, der Schwager jener Frau.“ Die drei Freunde drückten laut ihr Erstaunen aus. Athos erhob sich, bot ihm die Hand und sagte: „Willkommen, Mylord! Sie gehören zu uns.“

„Ich bin fünf Stunden nach ihr von Portsmouth abgesegelt,“ sprach Lord Winter; „ich kam drei Stunden nach ihr in Boulogne an; ich verfehlte sie um zwanzig Minuten in Saint-Omer; endlich habe ich in Lilliers ihre Spur verloren. Ich reiste nun auf gut Glück und erkundigte mich nach Ihnen, als ich Sie im Galopp vorübersprengen sah. Ich erkannte Herrn d'Artagnan, rief Ihnen auch zu, doch gaben Sie keine Antwort. Ich wollte Ihnen nachreiten, doch war mein Pferd zu erschöpft, um mit den Ihrigen gleichen Schritt halten zu können, und doch scheint es, daß Sie bei all Ihrer Hast zu spät gekommen sind.“

„Sie sehen es,“ versetzte Athos und zeigte auf die entseelte Madame Bonacieux und auf d'Artagnan, welchen Porthos und Aramis ins Leben zurückzurufen bemüht waren. „Sind denn beide tot?“ fragte Lord Winter kalt. „Glücklicherweise nicht,“ antwortete Athos, „d'Artagnan ist nur ohnmächtig.“

„Um so besser,“ versetzte Lord Winter. D'Artagnan schlug die Augen wieder auf. Er entwand sich den Armen von Porthos und Aramis und stürzte sich wie ein Wahnsinniger auf den Leichnam seiner Geliebten. Athos stand auf, ging langsamen, feierlichen Schrittes auf seinen Freund zu, und als dieser in ein Schluchzen ausbrach, sagte er mit seiner so edlen, beschwichtigenden Stimme zu ihm: „Freund! sei du Mann, nur Weiber beweinen die Toten, aber Männer rächen sie.“

„O ja,“ versetzte d'Artagnan, „wenn du von Rache sprichst, so bin ich bereit, dir zu folgen.“ Athos nützte diesen Augenblick der Kraft, die seinem Freunde die Hoffnung auf Rache wieder erweckte, und gab Porthos und Aramis einen Wink, sie möchten die Äbtissin holen. Die Freunde trafen sie im Korridor, tief bestürzt ob dieser Vorfälle. Sie berief einige Nonnen, und diese erschienen gegen die klösterliche Regel vor den fünf Männern. „Madame,“ sprach Athos und faßte d'Artagnan am Arme, „wir überlassen Ihrer frommen Obsorge den Leib dieser unglücklichen Frau. Sie war ein Engel auf Erden, ehe sie ein Engel im Himmel wurde. Behandeln Sie dieselbe so wie eine Ihrer Schwestern, wir wollen eines Tages zurückkommen, um auf Ihrem Grabe zu beten.“ D'Artagnan verbarg sein Gesicht an seines Freundes Brust und brach abermals in ein Stöhnen aus. „Weine,“ sprach Athos, „weine, du Herz voll Liebe, Jugend und Leben; ach! könnte ich doch so weinen wie du.“ Er zog seinen Freund nach sich, zärtlich wie ein Vater, trostreich wie ein Priester, groß wie einer, der viel ausgestanden hat. Sonach begaben sich alle fünf mit ihren Bedienten, die ihre Pferde am Zügel nachführten, in die Stadt Bethune, und hielten vor der ersten Herberge an, die sie sahen. „Verfolgen wir denn nicht diese Frau?“ fragte d'Artagnan. „Später,“ erwiderte Athos, „erst muß ich meine Maßregeln treffen.“

„Sie wird uns entschlüpfen,“ versetzte der junge Mann, „sie wird uns entschlüpfen, Athos, und daran bist du schuld.“

„Ich bürge für sie,“ entgegnete Athos. „Ich glaube aber,“ sagte Lord Winter, „es gehe mich an, wenn Maßregeln gegen die Gräfin zu nehmen sind, da sie meine Schwägerin ist.“

„Und sie ist meine Gemahlin,“ sagte Athos. D'Artagnan bebte, denn er fühlte, daß Athos seiner Sache gewiß war, weil er ein solches Geheimnis kundgab; Porthos und Aramis sahen sich erbleichend an; Lord Winter hielt Athos für wahnwitzig. „Ziehen Sie sich nun zurück,“ sprach Athos, „und lassen Sie mich gewähren. Sie sehen wohl, daß die Sache mich angeht, als den Gemahl. Gebt mir nun das Papier, d'Artagnan, wenn Ihr es nicht verloren habt, das aus dem Hute jenes Mannes gefallen ist, und worauf der Name der Stadt geschrieben stand.“

„Ah,“ rief d'Artagnan, „ich begreife, der Name von ihrer Hand geschrieben.“

„Du siehst wohl,“ sagte Athos, „daß es einen Gott im Himmel gibt!“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die drei Musketiere