Das Gericht.

Es war eine sturmbewegte, finstere Nacht; unheilschwangere Wolken trieben am Himmel hin und umflorten den Glanz der Sterne; der Mond sollte sich erst um Mitternacht erheben. Bisweilen bemerkte man beim Schein eines Blitzes, der am Horizont funkelte, die Straße, die sich weit und einsam hinzog; und mit dem Erlöschen des Blitzes kehrte dieselbe Dunkelheit zurück. Athos rief jeden Augenblick d'Artagnan zu, der immer dem kleinen Zug vorausritt, und forderte ihn auf, in sein Glied zurückzukehren, das er aber sogleich wieder verließ. Er hatte nur einen Gedanken, den, vorwärts zu gehen und er ging. Lord Winter, Porthos und Aramis hatten es wiederholt versucht, den Mann im roten Mantel anzusprechen, allein dieser verneigte sich auf jede an ihn gestellte Frage, und gab keine Antwort. Somit sahen die Reisenden ein, daß der Unbekannte aus triftigen Ursachen stillschweige, und drangen nicht länger forschend in ihn. Außerdem nahm der Sturm immer mehr zu, die Blitze folgten sich rascher, der Donner brüllte, und der Wind, der Vorläufer des Orkans, brauste durch die Fläche. Der Reiterzug setzte sich in schnellen Trab. Als man über Frommelles hinaus war, brach der Sturm los. Man zog die Mäntel zusammen. Es waren noch drei Meilen zurückzulegen, man legte sie unter Regengüssen zurück. D'Artagnan hatte seinen Hut abgenommen, und den Mantel nicht angetan. Es machte ihm ein Vergnügen, das Wasser über seine glühende Stirn und seinen von Fieberfrost geschüttelten Leib rinnen zu lassen. Als die kleine Schar durch Goskal ritt und eben vor dem Posthaus stand, trat ein an einen Baum gelehnter Mann hervor, legte seinen Finger auf die Lippen und ging bis in die Mitte der Straße. Athos erkannte Grimaud. „Was ist es?“ rief d'Artagnan. „hat sie etwa Armentières verlassen?“ Grimaud machte mit dein Kopf ein bejahendes Zeichen. D'Artagnan knirschte mit den Zähnen. „Stille, d'Artagnan,“ rief Athos, „ich nahm alles über mich, und so kommt es mir zu, Grimaud zu fragen.“

„Wo ist sie?“ fragte Athos. Grimaud streckte die Hand in der Richtung des Lysflusses aus. „Weit von hier?“ Grimaud wies seinem Herrn seinen gebogenen Zeigefinger. „Allein?“ fragte Athos. Grimaud bejahte es durch ein Zeichen. „Meine Herren,“ sprach Athos, „sie befindet sich eine halbe Meile von hier, in der Richtung des Flusses.“


„Gut,“ versetzte d'Artagnan; „führe uns, Grimaud!“ Grimaud schritt quer durch das Feld und diente dem Zug als Führer. Es zuckte ein Blitz; Grimaud streckte den Arm aus, und bei dem bläulichen Glanze der Feuerschlange gewahrte man ein kleines, vereinzeltes Haus am Ufer des Flusses, hundert Schritte von der Furt. Ein Fenster war erleuchtet. „Wir sind am Ziele,“ sagte Athos. In diesem Moment erhob sich ein Mann in einem Graben, wo er lag; es war Mousqueton. Er zeigte mit dem Finger nach dem erhellten Fenster hin und sagte: „Hier ist sie.“

„Und Bazin?“ fragte Athos. „Indes ich das Fenster bewachte, hütete er die Tür.“ „Wohl,versetzte Athos, „Ihr seid alle treue Diener.“ Athos sprang von seinem Pferde, dessen Zügel er in Grimauds Hände gab, und ging auf das Fenster zu, nachdem er den andern durch einen Wink bedeutet hatte, sich nach der Tür zu wenden. Das kleine Häuschen ward von einer lebenden, zwei bis drei Fuß hohen Hecke umschlossen. Athos setzte über diesen Zaun und kam bis zu dem Fenster, das ohne Balken war, dessen Halbvorhänge aber sorgsam zugezogen waren. Er kletterte ans das steinerne Gesims, um sich mit dem Ange über die Höhe der Vorhänge zu erheben. Er sah beim Schimmer einer Lampe eine in einen dunkelfarbigen Mantel gehüllte Frau, die neben einem verglimmenden Feuer auf einem Schemel saß. Sie stemmte ihren Ellbogen auf einen armseligen Tisch, und legte ihren Kopf in ihre elfenbeinweißen Hände. Man vermochte ihr Antlitz nicht wahrzunehmen, doch zog ein finsteres Lächeln über Athos Lippen hin. Es war kein Irrtum annehmbar; es war dieselbe, die er suchte. In diesem Moment wieherte ein Pferd. Mylady blickte rasch empor, bemerkte dicht am Fenster das blasse Angesicht von Athos und stieß einen Schrei aus. Athos ersah, daß sie ihn erkannt habe, stieß mit dem Knie und der Hand an das Fenster; dieses wich, die Scheiben zerbrachen, und so sprang Athos in das Gemach, ähnlich einem Rachegespenst. Mylady stürzte nach der Tür und riß sie auf. D'Artagnan stand an der Schwelle, noch blasser und bedrohlicher als Athos. Mylady sprang mit einem Schrei zurück. D'Artagnan dachte, daß sie Mittel zur Flucht hätte, und da er ihr Entwischen befürchtete, zog er eine Pistole hervor; aber Athos hob die Hand und sagte: „Gib diese Waffe wieder an ihren Platz, d'Artagnan, diese Frau soll gerichtet und nicht umgebracht werden. Warte noch einen Augenblick, d'Artagnan, und du sollst zufriedengestellt werden. Meine Herren, tretet ein.“ D'Artagnan leistete Folge, denn Athos' Stimme war so feierlich, seine Gebärde so mächtig, als wäre er ein vom Herrn des Himmels abgesandter Richter, hinter d'Artagnan traten Porthos, Aramis, Lord Winter und der Mann im roten Mantel ins Gemach. Die vier Lakaien bewachten die Tür und das Fenster. Mylady war auf ihren Sitz zurückgesunken und streckte die Hände aus, als ob sie diese schreckliche Erscheinung beschwören wollte. Als sie ihren Schwager erblickte, stieß sie einen furchtbaren Schrei aus und rief: „Was verlangt Ihr von mir?“

„Wir verlangen“, erwiderte Athos, „Anna von Breuil, die sich anfangs Gräfin de la Fère und hierauf Lady Winter, Baronin von Sheffield nannte.“

„Ich bin es,“ stammelte sie mit der größten Gemütserschütterung. „Was wollt Ihr von mir?“

„Wir wollen Sie nach Ihren Verbrechen richten,“ versetzte Athos. „Es steht Ihnen frei, sich zu verteidigen; rechtfertigen Sie sich, wenn Sie es vermögen. Herr d'Artagnan! Euch steht die erste Anklage zu.“ D'Artagnan trat vor und sprach: „Vor Gott und den Menschen klage ich diese Frau an, daß sie Konstanze Bonacieux, die gestern abend gestorben ist, vergiftet hat.“ Er wandte sich um zu Porthos und Aramis. Diese zwei Musketiere riefen: „Wir bezeugen das“ —- und d'Artagnan fuhr fort: „Vor Gott und den Menschen klage ich diese Frau an, daß sie mich zur Ermordung des Grafen von Wardes angereizt hat, und da niemand vorhanden ist, damit er die Wahrheit dieser Beschuldigung bezeuge, so bezeuge ich sie. Ich habe gesprochen.“ Nach diesen Worten trat d'Artagnan mit Porthos und Aramis auf die andere Seite des Gemachs. „Nun ist's an Ihnen, Mylord,“ sagte Athos. Der Baron trat gleichfalls vor und sagte: „Vor Gott und den Menschen klage ich diese Frau darüber an, daß sie den Herzog von Buckingham ermorden ließ.“

„Der Herzog von Buckingham ermordet!“ riefen alle Anwesenden mit einem Schrei. „Ja,“ entgegnete der Baron, „ermordet! Auf den Brief, den Sie mir geschrieben haben, um mich zu warnen, ließ ich diese Frau festnehmen, und übergab Sie einem rechtschaffenen Diener zur Behütung; sie verführte aber diesen Mann, steckte ihm den Dolch in die Hand, hieß ihn den Herzog durchbohren, und vielleicht muß in diesem Augenblick Felton mit seinem Kopfe die Missetat dieser Furie bezahlen.“

„Das ist noch nicht alles,“ sprach Lord Winter. „Mein Bruder, der Euch zur Erbin erklärt hatte, starb innerhalb drei Stunden an einer sonderbaren Krankheit, die am ganzen Leibe schmerzliche Male hinterläßt. Meine Schwester, sagt, wie starb Euer Gemahl?“

„Das ist schaudervoll!“ riefen Porthos und Aramis. „Mörderin von Buckingham! Mörderin von Felton! Mörderin meines Bruders! Ich fordere gegen Euch Gerechtigkeit, und wird sie mir nicht gegeben, so nehme ich sie mir selber.“ Lord Winter trat nun zu d'Artagnan hin und räumte den Platz für einen andern Kläger. Mylady ließ ihre Stirn in die beiden Hände niedersinken und suchte ihre Gedanken zu entwirren, die von einem tödlichen Schwindel herumgewirbelt wurden. „Jetzt ist an mir die Reihe,“ sagte Athos, selber bebend, wie ein Löwe beim Anblick einer Schlange bebt, „jetzt ist an mir die Reihe. Ich heiratete diese Frau, da sie noch ein junges Mädchen war, ich heiratete sie wider Willen meiner Familie; ich gab ihr mein Vermögen, ich gab ihr meine Hand, und eines Tages entdeckte ich, daß diese Frau gebrandmarkt war. Diese Frau trägt an der linken Schulter das Brandmal einer Lilie.“

„Ha!“ rief Mylady sich aufraffend, „ich fordere Euch auf, das Tribunal aufzufinden, das dieses schmähliche Urteil über mich verhängt hat; ich fordere Euch auf, denjenigen zu stellen, der es vollstreckt hat.“

„Still!“ rief eine Stimme, „das zu beantworten kommt mir zu!“ Der Mann im roten Mantel trat gleichfalls vor. „Wer ist dieser Mann? Wer ist dieser Mann?“ rief, vom Schrecken fast zermalmt, Mylady, während ihre Haare sich lösten und sich auf dem leichenfahlen Haupte sträubten, als wären sie lebendig. Aller Augen wandten sich nach diesem Manne, denn er war, Athos ausgenommen, allen unbekannt. Aber auch Athos starrte ihn mit ebensoviel Verwunderung an als die andern; er wußte nicht, wie derselbe mit dem schaudervollen Drama, das sich eben entwickelte, im Zusammenhang stehen könne. Nachdem sich nun der Unbekannte langsamen und feierlichen Schrittes und auf eine Weise Mylady genähert hatte, daß ihn nur der Tisch von ihr schied, nahm er seine Vermummung ab. Mylady stielte eine Weile lang mit allen Zeichen eines wachsenden Schreckens das blasse, mit schwarzen Haaren und schwarzem Bart umwachsene Gesicht an, dessen einziger Ausdruck eine eisige Fühllosigkeit war. Dann sprang sie plötzlich in die Höhe, wich bis an die Mauer zurück und rief: „O nein! nein! nein! das ist eine höllische Erscheinung! Er ist es nicht! Ha, zu Hilfe! zu Hilfe!“ kreischte sie mit heiserer Stimme und kehrte sich nach der Wand um, als wollte sie sich mit ihren Händen einen freien Ausweg bahnen. „Doch wer seid Ihr?“ riefen alle Zeugen dieses Auftritts. „Fragen Sie diese Frau,“ entgegnete der Mann im roten Mantel, „denn Sie sehen Wohl, daß sie mich wiedererkannt hat.“

„Der Henker von Lille! Der Henker von Lille!“ kreischte Mylady, von einem wahnsinnigen Schrecken erfaßt und sich mit den Händen an die Mauer klammernd, um nicht zu fallen. Alle Anwesenden traten zurück, und der Mann im roten Mantel stand allein mitten im Gemach. Die Ruchlose stürzte auf die Knie und ächzte: „O Gnade! Barmherzigkeit!“ Der Unbekannte wartete, bis es wieder still wurde, dann sprach er: „Ich sagte es, daß sie mich wiedererkannt hat. Ja, ich bin der Henker von Lille. Vernehmen Sie meine Geschichte.“

Die Augen aller waren auf den Mann gerichtet, dessen Worten man mit ängstlicher Spannung entgegenhorchte. „Diese junge Frau war einst als ein junges Mädchen so schön, wie sie heute ist. Sie war in dem Kloster der Benediktinerinnen von Templemar. Ein junger Mann von unbefangenem, gläubigem Herzen, der sich dem geistlichen Stande widmen wollte, lernte sie kennen. Sie unternahm es, ihn zu verführen, und ihren Künsten ist es auch gelungen. Ihr Liebesverhältnis konnte nicht lange bestehen, ohne beide ins Verderben zu bringen. Sie wußte ihn zu bereden, mit ihr die Gegend zu verlassen; um aber gemeinschaftlich zu entfliehen, und einen andern Teil von Frankreich zu erreichen, wo sie unbekannt und eben deshalb ruhig leben könnten, war Geld vonnöten, das keines von beiden besaß. Der junge Mann entwendete die Kirchengefäße und verkaufte sie, doch wurden sie beide in dem Moment verhaftet, wo sie abreisen wollten. Acht Tage darauf hatte sie den Sohn des Kerkermeisters verführt, und sich geflüchtet. Jener liebende Jüngling wurde zu zehnjähriger Kettenstrafe und Brandmarkung verurteilt. Ich war, wie diese Frau sagte, Henker in der Stadt Lille. Ich mußte den Schuldigen brandmarken, und der Schuldige, meine Herren, war – mein Bruder. Ich schwur es dieser Frau, die ihn ins Verderben brachte und mehr als seine Mitschuldige war, da sie ihn zum Verbrechen anstachelte, daß sie mindestens seine Strafe teilen sollte. Ich vermutete den Ort ihres Aufenthaltes, verfolgte sie, erreichte sie auch, knebelte sie, und drückte ihr dasselbe Mal auf, das ich meinem Bruder eingebrannt habe. Am Tage nach meiner Zurückkunft nach Lille gelang es meinem Bruder, gleichfalls zu entwischen. Man klagte mich der Mitschuld an. und verurteilte mich so lange zum Gefängnis, bis er wieder dahin zurückgekehrt wäre. Mein armer Bruder wußte von diesem Richterspruch nichts. Er war mit seiner Geliebten wieder zusammengekommen und mit ihr nach Berry gegangen, wo er eine Bedienstung erhielt. Er gab diese Frau für seine Schwester aus. Der Herr jenes Gutes lernte diese vorgebliche Schwester kennen und verliebte sich in sie derart, daß er ihr die Ehe antrug. Sie verließ nun denjenigen, den sie ins Verderben gestürzt hatte, um dem Manne zu folgen, den sie zu Grunde richten sollte, und wurde Gräfin de la Fère.“ Alle blickten nun Athos an, denn das war sein wirklicher Name. Athos bekräftigte mit einem Kopfnicken, daß alles das wahr sei, was der Henker gesprochen. Dieser fuhr wieder fort. „Mein armer Bruder, dem sie Ehre, Glück und alles geraubt hatte, geriet in Verzweiflung, kehrte mit dem Entschluß, sein Dasein zu enden nach Lille zurück, und als er von dem Urteilsspruch hörte, der mich anstatt seiner verdammt hatte, begab er sich freiwillig in das Gefängnis, erhängte sich aber noch an demselben Abend am Luftloch seines Kerkers. Um denen Recht widerfahren zu lassen, die mich verurteilt hatten, muß ich anführen, daß sie Wort gehalten haben. Die Identität des Leichnams war kaum nachgewiesen, als man mich wieder frei ließ. Das ist das Verbrechen, weshalb ich sie anklage, das ist die Ursache, weshalb ich sie gebrandmarkt habe.“

„Herr d'Artagnan,“ sagte Athos, „welche Strafe fordert Ihr gegen diese Frau?“

„Die Todesstrafe!“ erwiderte d'Artagnan. „Mylord von Winter,“ fuhr Athos fort, welche Strafe fordern Sie gegen diese Frau?“

„Die Todesstrafe!“ entgegnete Lord Winter. „Meine Herren Porthos und Aramis,“ sprach Athos, „Ihr, die Ihr Richter seid, welche Strafe verhängt Ihr über diese Frau?“

„Die Todesstrafe!“ antworteten die beiden Musketiere mit dumpfer Stimme. Mylady brach in entsetzliches Heulen aus und zerrte sich auf den Knien einige Schritte gegen ihre Richter. Athos streckte seine Hand gegen sie aus und sagte: „Anna von Breuil, Gräfin de la Fère, Mylady Winter, Eure Missetaten, haben hienieden die Menschen und Gott im Himmel ermüdet. Wenn Ihr ein Gebet wisset, so verrichtet dasselbe, denn Ihr seid verurteilt und müsset sterben!“ Mylady richtete sich bei diesen Worten, die ihr keine Hoffnung mehr übrigließen, in ihrer ganzen Höhe empor und versuchte zu sprechen. Es versagte ihr jedoch die Stimme. Sie fühlte es: eine gewaltige, unwiderstehliche und unversöhnliche Hand faßte sie an den Haaren und zerrte sie unaufhaltbar fort, wie das Verhängnis den Menschen fortzieht. Sie versuchte daher auch keinen Widerstand mehr und verließ das Häuschen. Lord Winter, d'Artagnan, Athos, Porthos und Aramis folgten ihr nach.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die drei Musketiere