Das Geheimnis der Mylady.

D'Artagnan machte fünf oder sechs Gänge rings um die Place- Royale, von widerstreitenden Empfindungen in Bewegung gesetzt, und wandte sich von zehn zu zehn Schritten um, damit er das Licht im Zimmer der Mylady sah, das durch die Jalousien flimmerte; die junge Frau war diesmal offenbar weniger bedrängt, als das erstemal, in ihr Zimmer zurückzukehren. Endlich schlug es elf Uhr. Bei diesem Schall entwich alle Entschlossenheit aus dem Herzen d'Artagnans. Er gedachte aller Einzelheiten der Unterredung zwischen ihm und der Mylady, und nach einer schnellen Wendung des Entschlusses, die unter solchen Umständen so häufig eintritt, eilte er mit klopfendem Herzen und brennendem Kopf in das Hotel, und begab sich zunächst in Kettys Zimmer. Das junge Mädchen, blaß wie der Tod und an allen Gliedern zitternd, wollte d'Artagnan abhalten, allein Mylady, die mit ihrem lauschenden Ohr das durch seinen Eintritt verursachte Geräusch gehört hatte, öffnete die Tür und hieß ihn eintreten. Auch Ketty stürzte nach der Tür. Die Eifersucht, die Wut, der verletzte Stolz, kurz, alle Leidenschaften, die in einem verliebten weiblichen Herzen streiten, trieben sie zu einer Erklärung; doch war sie verloren, wenn sie bekannte, daß sie bei einer solchen Machination die Hand im Spiele hatte, und was noch mehr alles zu berücksichtigen kam– d'Artagnan war für sie verloren. Dieser letzte Liebesgedanke riet ihr zu einem letzten Opfer. Indes hatte Mylady, die nicht dieselben Gründe hatte wie d'Artagnan, um zu vergessen, ihn alsbald aus seinen Betrachtungen gezogen und zur Wirklichkeit dieser Zusammenkunft zurückgerufen; sie fragte ihn, ob er bereits über die Maßregeln nachgedacht habe, die ihn am folgenden Tage mit dem Grafen von Wardes in Streit verwickeln sollten? Allein d'Artagnan, dessen Gedanken eine andere Richtung eingeschlagen hatten, vergaß sich wie ein Tor und antwortete auf eine schmeichelnde Weise, er könne in ihrer Nähe, wo er nichts als das Glück empfinde, sie zu sehen und zu hören, unmöglich an Kämpfe und Degenstiche denken. Diese Kälte für das einzige Interesse, das sie beschäftigte, erschreckte sie, und ihre Fragen wurden noch dringlicher, hierauf wollte d'Artagnan, der nie ernstlich an dieses unmögliche Duell gedacht hatte, dieses Gespräch wenden, doch hatte er nicht dazu die Kraft. Mylady hielt das Gespräch innerhalb der Grenzen, die sie in ihrem unwiderstehlichen Geist und eisernen Willen im voraus ausgezeichnet hatte. Nunmehr glaubte d'Artagnan sehr geistreich zu sein, daß er Mylady riet, sie möchte Wardes verzeihen und ihre wütenden Pläne ausgeben. Doch schon bei den ersten Worten, die er sprach, nahm das Antlitz der jungen Frau einen finsteren Ausdruck an. „Haben Sie etwa Furcht, lieber Herr d'Artagnan?“ sprach sie in einem schneidenden, höhnischen Tone, der in den Ohren des jungen Mannes seltsam klang.

„Ich denke nicht daran, liebe Seele,“ entgegnete d'Artagnan, „allein, wenn dieser arme Graf von Wardes zuletzt doch minder schuldig wäre, als Sie meinen?“


„In jedem Falle“, sprach Mylady ernst, „hat er mich betrogen, und von dem Moment an, wo er mich betrogen hat, verdient er den Tod.“

„Er wird somit sterben, da Sie ihn verurteilen,“ entgegnete d'Artagnan in einem so festen Tone, daß er Mylady als der Ausdruck einer Hingebung erschien, die jede Prüfung besteht. Sie lächelte ihm von neuem zu. „Ja, jetzt stehe ich ganz bereit!“ rief d'Artagnan voll unwillkürlicher Begeisterung; „doch vorher möchte ich in einer Sache versichert sein.“

„In welcher?“ fragte Mylady. „Daß Sie mich lieben!“

„Dies beweist schon, daß Sie hier sind, glaube ich,“ erwiderte sie, Verlegenheit heuchelnd. „Ja, ich gehöre Ihnen mit Leib und Seele. Verfügen Sie über meinen Arm.“

„Dank, mein wackerer Verteidiger! und wie ich Ihnen meine Liebe dadurch beweise, daß ich Sie empfange, so werden Sie auch die Ihrige beweisen, nicht wahr?“

„Allerdings. Doch, wenn Sie mich lieben, wie Sie vorgeben, sind Sie meinetwegen nicht ein bißchen bange?“

„Was soll ich fürchten?“

„Daß ich gefährlich verwundet, ja, sogar getötet werde!“

„Unmöglich!“ rief Mylady, „sind Sie doch ein mutvoller Mann, ein gewandter Degen!“

„Sie wollen also nicht lieber ein Mittel zu ihrer Rache, wodurch der Zweikampf unnötig würde?“ Mylady blickte den jungen Mann stillschweigend an; ihre leuchtenden Augen hatten einen seltsam düsteren Ausdruck angenommen. „In Wahrheit,“ rief sie, „mir dünkt. Sie nehmen abermals Anstand.“

„Nein, ich nehme keinen Anstand, doch tut es mir wirklich leid um den armen Grafen von Wardes, seit Sie ihn nicht mehr lieben, und mich dünkt, ein Mann muß schon durch den Verlust Ihrer Liebe so hart bestraft sein, daß es keiner andern Strafe mehr bedarf.“

„Wer sagt Ihnen, daß ich ihn jemals liebte?“ fragte Mylady. „Ich kann es jetzt wenigstens ohne Ungereimtheit glauben, daß Sie einen andern liebten,“ versetzte der junge Mann mit Artigkeit, „und ich wiederhole Ihnen, daß ich mich für den Grafen interessiere.“

„Sie?“ fragte Mylady. „Ja, ich.“

„Und warum?“

„Weil ich allein weiß...“

„Was?“

„Weil er gegen Sie lange nicht so schuldig ist, oder war, wie es den Anschein hat.“

„Wirklich?“ versetzte Mylady mit Unruhe, „erklären Sie sich, denn ich weiß in der Tat nicht, was Sie damit sagen wollen.“ Hier blickte sie d'Artagnan mit Augen an, in denen allmählich ein düsteres Feuer brannte. „Ja, ich bin ein Mann von Wort,“ sagte d'Artagnan, fest entschlossen, die Sache zu beenden, „und seit Sie mir Ihre Liebe gestanden haben, bin ich Ihres Besitzes versichert; nicht wahr, ich besitze Sie?“

„Ganz und gar. Fahren Sie fort.“

„Seitdem fühle ich mich umgewandelt. Ein Geständnis drückt mich.“

„Ein Geständnis?“

„Hätte ich an Ihrer Liebe gezweifelt, würde ich es nicht ablegen, aber nicht wahr, Sie lieben mich?“

„Gewiß.“

„Wenn ich mich nun aus übermäßiger Liebe gegen Sie versündigt hätte, würden Sie mir wohl verzeihen?“

„Vielleicht. Doch das Geständnis,“ rief sie erblassend, „was ist es?“

„Nicht wahr, Sie haben am verflossenen Donnerstag dem Grafen von Wardes in diesem Zimmer ein Stelldichein gegeben?“

„Ich, nein! es ist nicht so,“ entgegnete die Mylady mit so fester Stimme und solcher Ruhe im Antlitz, dass d'Artagnan daran gezweifelt hätte, wäre er der Sache nicht vollkommen gewiß gewesen. „O, lügen Sie nicht, schöner Engel, es wäre fruchtlos,“ sagte d'Artagnan, ein Lächeln erkünstelnd. „Wie das? reden Sie doch, Sie martern mich zu Tode.“

„Dieser Ring ist in meinen Händen, der Graf von Wardes vom Donnerstag und d'Artagnan von heute sind ein und dieselbe Person.“ Der Unbesonnene erwartete eine Verwunderung, gemengt mit Beschämung, einen Sturm, der sich in Tränen auflösen würde; doch irrte er gewaltig, und sein Irrtum dauerte nicht lange. Mylady richtete sich auf, blaß und schrecklich, und wollte d'Artagnan durch einen heftigen Stoß gegen die Brust zurückdrängen und sich entfernen. D'Artagnan hielt sie am Kleide zurück, um Verzeihung zu flehen, sie suchte aber mit einer raschen und entschlossenen Bewegung die Flucht zu ergreifen. Da zerriß oben das Kleid am Leibe und d'Artagnan erblickte auf einer ihrer schönen Schultern, die sich entblößte, mit unsäglichem Erschrecken die Lilie, das unvertilgbare Mal von der Hand des Henkers, eingedrückt. „Großer Gott!“ rief er, ließ das Kleid aus den Händen gleiten und verharrte stumm am Platz, unbeweglich, zu Eis erstarrt. Mylady fühlte sich aber eben durch d'Artagnans Schrecken verraten. Er hatte zweifelsohne alles gesehen, der junge Mann wußte jetzt ihr Geheimnis, ein schreckliches Geheimnis, das bisher der ganzen Welt verborgen war. Sie wandte sich um und war nicht mehr das rasende Weib, sondern ein verwundetes Panthertier. „Ha, Elender!“ rief sie, „du hast mich feige verraten, und noch mehr, du weißt nun mein Geheimnis und mußt sterben!“ Sie eilte zu einem kleinen Kistchen von eingelegter Arbeit, das auf ihrem Putztisch stand, schloß es mit fieberhaft bebenden Händen auf, nahm einen kleinen Dolch mit goldenem Griff und dünner, scharfer Klinge hervor und stand wieder mit einem Satz vor d'Artagnan, der auf seinem Sitze geblieben war. Wiewohl der junge Mann viel Mut besaß, so erschrak er doch vor diesem verwüsteten Antlitz, diesen hervorragenden Augen, diesen blassen Wangen, diesen geröteten Lippen; er stand auf und trat zurück, wie er es vor einer Schlange getan hatte, die auf ihn zugekrochen wäre, fuhr mit seiner schweißfeuchten Rechten instinktartig an den Degen und zog ihn aus der Scheide. Ohne daß sich aber Mylady beim Anblick der blitzenden Klinge fürchtete, rückte sie vor, um ihm einen Stoß zu versetzen, und hielt erst dann inne, als sie seine Klingenspitze auf ihrer Brust fühlte. Sie suchte nun den Degen mit ihren Händen zu erfassen, allein d'Artagnan entzog ihn unablässig ihren Griffen, streckte ihr denselben, ohne zu stoßen, bald gegen die Brust, bald gegen die Augen hin, und wich stets mehr und mehr zurück, um die Tür zu gewinnen, die zu Ketty führte, und durch dieselbe zu verschwinden. Mittlerweile drang Mylady mit furchtbarem Ungestüm und einem wahrhaften Löwengebrüll auf ihn ein. Da aber das zuletzt wie ein Duell aussah, so gewann d'Artagnan allmählich mehr Ruhe, und sprach zu ihr: „Genug, schöne Dame, genug! aber ich bitte Sie um Gottes willen, sich zu besänftigen, oder ich will auf Ihre andere Schulter eine zweite Lilie zeichnen.“

„Verwünschter! Nichtswürdiger!“ heulte Mylady. D'Artagnan aber suchte fortwährend die Tür, und war nur auf seine Verteidigung bedacht! Auf den Lärm, den sie durch das Umwerfen der Möbel verursachten, sie, um ihn zu erreichen, er, um sich vor ihr hinter den Geräten zu schützen, machte Ketty die Tür auf. D'Artagnan, der fortwährend manövrierte, um sich der Tür zu nähern, war von derselben nur noch drei Schritte entfernt. Er sprang mit einem Satz aus dem Zimmer der Mylady in das der Zofe und verschloß mit Blitzesschnelle die Tür wieder, gegen die er sich mit ganzer Gewalt stemmte, indes Ketty den Riegel vorschob. Hierauf bemühte sich Mylady, den Stützpfeiler umzustürzen, der sie in ihr Zimmer einschloß, und zwar mit Kräften, die weit über die einer Frau gingen. Da sie fühlte, dies wäre unmöglich, so durchbohrte sie die Tür mit Dolchstößen, von denen einige ganz durchdrangen. Auch begleitete sie jeden Stoß mit einer entsetzlichen Verwünschung. „Schnell, Ketty, schnell!“ rief d'Artagnan, „mach, daß ich aus diesem Hause komme; wenn wir ihr nur Zeit lassen, sich umzuwenden, läßt sie mich durch ihre Bedienten umbringen. Laß uns eilen, hörst du, denn davon hängt Leben und Tod ab.“ Ketty verstand ihn nur zu wohl und führte ihn im Finstern die Treppe hinab. Es war die höchste Zeit; Mylady hatte schon geschellt und das ganze Haus aufgeweckt; der Portier zog auf Kettys Stimme die Schnur, während Mylady aus dem Fenster rief: „Öffnet nicht!“ Der junge Mann entwich, während sie ihn mit einer ohnmächtigen Gebärde bedrohte, und als sie ihn aus ihrem Gesicht verlor, sank sie in ihrem Zimmer ohnmächtig zu Boden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die drei Musketiere