Der deutsch-französische Krieg. Eine Warnung!

Es kam der deutsch-französische Krieg. Die deutschen Arbeiter haben, wie das gesamte deutsche Volk, diesen Krieg mit Begeisterung mitgemacht. August Bebel und Wilhelm Liebknecht nahmen eine isolierte Stellung ein. Die Haltung selbst von Karl Marx war schwankend. In der Frage der Annexion von Elsaß-Lothringen hatte er allerdings keine Zweifel, doch das war eine spezielle Frage, die, unabhängig von der allgemeinen Stellungnahme zum Krieg und dessen Folgen, mit ja oder nein beantwortet werden konnte.

Die deutschen Arbeiter waren begeistert für den Krieg, weil sie ihn mit der nationalen Einigung, mit dem Reichsgedanken verbanden.


Trotzdem schlug sehr bald nach dem siegreichen Krieg, der tatsächlich die nationale Einigung herbeigeführt hatte, die nationale Begeisterung der Arbeiter in eine oppositionelle Stimmung um, und es begann der rasche Aufschwung der deutschen Sozialdemokratie.

Das sollten sich diejenigen merken, die glauben, durch die nationale Begeisterung, die der gegenwärtige Krieg wiederum aus gelöst hat, sei die deutsche Sozialdemokratie überwunden worden.

Die nationale Bedeutung des 70er Krieges war für Deutschland sicher viel größer, stand den Volksmassen naher, als jene des gegenwärtigen Weltkrieges. Wenn dennoch schon damals der Nationalismus den Klassenkampf des deutschen Proletariats nicht hat zurückhalten können, um wie viel weniger ist das für die Gegenwart zu erwarten?!

Man täuscht sich übrigens überhaupt über den Charakter der nationalen Begeisterung, die jetzt Europa erfasst hat. Es ist nicht der Anfang einer neuen nationalistischen Ära der modernen Zivilisation, es ist vielmehr der Abschluss des Nationalismus, dessen großartige und blutige Agonie. Der Krieg hat alle nationalen Empfindungen, alle Kräfte des Nationalismus ausgelöst, die noch in den Völker wurzelten. Es ist die große Mobilmachung, die große Parade des Nationalismus. Weiter kann man nicht mehr gehen. Der Nationalismus ist erschöpft bis auf die Neige. Und doch hat gerade dieser Weltkrieg gezeigt, dass die Völker sich in ihrer Entwicklung nicht national absondern können. Im Rausch der nationalen Begeisterung sucht man die fremden Einflüsse in der Industrie, im Handel, in der Politik, in der Kultur, im Wortschatz auszumerzen — wenn das aber irgendwo gelingen konnte, so wurde man dadurch die eigene nationale Kultur entwurzeln. Es ist eine Verrücktheit sondergleichen, die großen Weltzusammenhänge, die der moderne Verkehr geschaffen hat, sich hinwegdenken zu wollen. Der Krieg selbst bewegt sich nicht um nationale, sondern um Weltinteressen. Diese Zusammenhänge fallen jetzt, da Schlachten zwischen den Völkern ausgefochten werden, außerhalb des Bewusstseins, müssen aber nach dem Kriege mit aller Deutlichkeit an das Tageslicht treten.

Der Krieg schuf abnorme Zustände und abnorme Stimmungen. Die Massen sind aus dem komplizierten Getriebe des modernen Wirtschaftslebens herausgeschleudert worden und führen ein Soldatenleben, das keinen Konkurrenzkampf, keine Nahrungssorgen und fast keine Unterschiede des Besitzes kennt; den Tod vor den Augen denken sie nicht an die Zukunft; für alles sorgt der Staat, der aber selbst von Wechseln auf die Zukunft lebt, da seine gewöhnlichen Einnahmequellen fast erschöpft sind. Wenn aber der Krieg zu Ende sein wird, dann wird jeder wieder in seine alte soziale Stellung hinein und den Kampf ums Dasein inmitten der kapitalistischen Konkurrenz aufs neue aufnehmen müssen. Dann wird sich vor allem das Zerstörungswerk zeigen, das der Krieg geschaffen hat, und der Zusammenhang, der die Produktion, Handel und Verkehr in der ganzen Welt auf das innigste verbindet. Dann werden auch die Ideen und Empfindungen einer Revision unterworfen werden, mit denen man in den Krieg zog, und vor dieser Revision wird der Nationalismus nicht standhalten können. Der Nationalismus brennt jetzt in einer hohen Flamme — was bleiben wird, ist Asche.

Nach dem Siegesrausch von 1871 trat also bei den deutschen Arbeitermassen eine Ernüchterung ein, die bald einer politischen Verdrossenheit Platz machte. Die Arbeiter sahen sich um den Sieg und auch um das Reich betrogen. Denn in ihrer sozialen Stellung trat durch den siegreichen Krieg und die Reichsgründung keine Änderung ein. Die Kapitalistenklasse freilich heimste Millionen ein. Die ersten Jahre nach dem Krieg profitierten auch die Arbeiter von dem Geschäftsaufschwung; dann aber kam die Handelskrisis, die sie aufs Pflaster warf, und besonders unter den kleinen Leuten, den Handwerkern, Kaufleuten etc., fürchtbar aufräumte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsche Sozialdemokratie.