Der Verfall.

Der Glaube an die nahe Revolution ging nach und nach verloren. Die Taktik blieb aber dieselbe, sie war noch immer auf die große Generalschlacht berechnet. Es war eine Form ohne Inhalt. Der reine Revolutionismus wurde nur Phrase.

Man bereitete sich immer auf die große Auseinandersetzung mit dem Staate vor, aber wenn es zu halbwegs ernsten Konflikten kam, wich man ihnen regelmäßig aus. Nein, noch nicht, wir sind noch nicht bereit! Warum denn? Darauf gab es keine Antwort. Wenn die Zeit gekommen sein wird! Aber Jahrzehnte vergingen, die Partei wuchs, ihre Dimensionen überschritten alle Erwartungen, und man hat sich noch immer nicht entschließen können, mit der großen Generalschlacht Ernst zu machen. Man versuchte gelegentlich Anlaufe zu einer schärferen Kampfesart — wie aber die Regierung sich ernstlich zur Wehr setzte, zog man sich regelmäßig zurück. Es war klar, dass die deutsche Sozialdemokratie sich niemals zu einem Sturmlauf gegen die Staatsgewalt wurde entschließen können. Die Revolution konnte nur noch gegen den Willen der revolutionären Sozialdemokratie stattfinden, sie musste ihr aufgezwungen werden — dann erst wurde man einsehen, dass die Zeit gekommen sei.


Die Revolution wurde zu einem Schemen, zu einer Beschwörungsformel. Zwischen ihr und der Wirklichkeit bildete sich eine unüberbrückbare Kluft.

Um diesen Widerspruch nicht zu merken, mussten die Geister erst besonders präpariert werden. Es war jene „theoretische Schulung" notwendig, wie sie vorzüglich von K. Kautsky durch die „Neue Zeit“ durchgeführt wurde.

Schon in dem von Kautsky verfassten Erfurter Programm, das die deutsche Sozialdemokratie als die dreimal geläuterte Wissenschaft heilig hielt, zeigten sich die Voraussetzungen dieses politischen Marasmus.

Nach dem Kommunistischen Manifest wollten die Verstaatlichungen den wirtschaftlichen Ausgangspunkt der sozialen Revolution bilden. F. Lassalle verlangte Staatskredit für Produktivgenossenschaften. Das Erfurter Programm setzte sich über die wirtschaftlichen Probleme der sozialen Revolution, über die Frage, wie das kapitalistische Produktions- und Verteilungssystem in ein sozialistisches umgewandelt werden soll, mit dem allgemeinen Satz von der Vergesellschaftung der Produktion hin weg. Wodurch diese Vergesellschaftung von den schon innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft entwickelten Kollektivbetrieben, wie Verstaatlichungen, Kommunalbetriebe, Genossenschaften, Aktiengesellschaften sich unterscheidet, darüber weiß niemand Bescheid. Die Massen glaubten, es sei etwas ganz Besonderes, es war aber nichts, es war ein in das äußerste Allgemeine aus gedehnter, verschwommener Begriff, dem jeder konkrete Inhalt entzogen wurde, wie einer ausgepressten Leberwurst.

Sollen wir für Verstaatlichungen, Kommunalisierungen, Genossenschaften eintreten? Das Programm gab darüber keine Auskunft, die Frage konnte ebensogut mit ja wie mit nein beantwortet werden.

Das Proletariat sollte die politische Macht erobern, um die Produktionsmittel zu vergesellschaften. Da man darüber keine Auskunft geben konnte, wie man sich diese Vergesellschaftung denkt, so bedeutete das einfach: Lasst uns in den Besitz der Staatsgewalt gelangen, dann werden wir schon sehen, wie sich die Dinge gestalten werden. Der sozialen Revolution wurde der soziale Inhalt entzogen, so dass sie als eine rein politische Frage erschien.

Das Erfurter Programm kennt nur die Verelendung der Massen und die Konzentration des Kapitals; darüber die Planlosigkeit der Produktion mit dem Knalleffekt der Handelskrisen. Die gesamte großartige Entwicklung des Weltmarktes fällt aus seinem Rahmen. Da dies aber die Grundlage ist für die Gegenwartskämpfe der Arbeiterklasse, so fallen auch diese aus dem Programm heraus. Es kennt nur das „Endziel“ — in der uns bekannten verschwommenen „Form“ — und hat keinen Platz für die Entwicklung. Die Perspektive wird kolossal verkürzt, die Gegensätze metaphysisch zugespitzt. Der Kapitalismus zersetzt das Handwerk, ruiniert das Bauerntum, auf dem Schauplatz erscheint der Proletarier — aber da hört auch schon das Programm auf. Für das Sichemporarbeiten des Proletariats innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, durch das erst die organisatorischen Grundlagen geschaffen werden für die sozialistische Umgestaltung des Staates und der Produktionsweise, gibt es im Erfurter Programm keinen Raum.

Als Anhang, ohne Begründung, ohne Zusammenhang mit dem eigentlichen Programm werden neben den Forderungen der bürgerlichen Demokratie einige proletarische Gegenwartsforderungen; aufgestellt.

Dieses Programm ist nicht vom Geiste des aufstrebenden Proletariats getragen, sondern es ist der rabiat gewordene Kleinbürger, der dem Kapitalisten mit dem Todbringer Proletariat droht.

Der Entwicklung der Gewerkschaften war das Erfurter Programm eher hinderlich als förderlich.

Einige Jahre nach der Aufstellung des Erfurter Programms machte der alternde Friedrich Engels die großartige Entdeckung, dass seit 1848 die Straßen der Hauptstadt breitgelegt wurden und dass in folge dessen erfolgreiche Barrikadenkämpfe nicht mehr möglich seien, zumal da die Waffentechnik sich seitdem enorm verfeinert habe. Er selbst verwahrte sich zwar dagegen, dass man daraus auf die Unmöglichkeit siegreicher revolutionärer Aufstände schlussfolgern solle, aber die Schlussfolgerung wurde doch gezogen. Wo man auch nicht so weit ging, den revolutionären Aufstand als Utopie hinzustellen, blieb doch ein Gefühl der Unsicherheit, der Ungewissheit übrig, das die Aktionslust lahmte.

Es bedurfte erst der belgischen Massenstreiks, der österreichischen Demonstrationen und der russischen Revolution, um zum allgemeinen Bewusstsein zu bringen, dass man die Chancen einer Revolution nicht allein vom militärtechnischen Standpunkte beurteilen kann.*)

*) Ich wandte mich schon 1895 in Artikeln der „Neuen Zeit", die später als besondere Broschüre erschienen, gegen die revolutionäre Flaumacherei, die sich auf Engels stutzte, hob die Bedeutung des Massenstreiks hervor und deckte die politischen Zusammenhänge der revolutionären Kampfe auf.

Sozialismus — der auf den nichtssagenden Begriff der Vergesellschaftung zurückgeführt wurde. Revolution — ohne dass man wusste, wie sie durchzuführen wäre. Es ist klar, dass man bei einer solchen geistigen Verfassung sich zu nichts entschließen konnte. Aber die Partei wuchs und gedieh. So fand man schließlich darin den Trost für alle Zweifel. Das Mittel wurde zum Zweck. Die alte Taktik wurde gepriesen, die uns von „Sieg“ zu „Sieg“ führte. Dass diese alte Taktik einen anderen Sinn hatte unter dem Sozialistengesetz, wieder einen anderen in der ersten Zeit nach dem Sozialistengesetz, als man jeden Augenblick einen scharfen Konflikt mit der Staatsgewalt erwartete, und dass sie in sich selbst zusammenfiel, als diese Gefahr ausgeschaltet wurde — das sah man nicht, dafür hatte man kein Verständnis.

Man feierte Jubiläen. Erst waren diese Feiern vereinzelt; als aber die Jahre sich sammelten, mehrten sich die runden Zahlen, und die Jubiläen wurden zu einem wichtigen Faktor der Parteibegeisterung — wie die Veteranenfeste. Man kramte die Erinnerungen aus der Zeit des Sozialistengesetzes aus. Man bewunderte sich selbst im Spiegel der Vergangenheit. Zwischen einer phantastischen Zukunft und einer glorreichen Vergangenheit vergaß man der Gegenwart.

Die Revisionisten, Opportunisten etc. legten wohl größeres Gewicht auf die Gegenwartsarbeit, aber zu einer großzügigen Politik fehlte ihnen, wie den anderen, das Vertrauen in die revolutionäre Kraft des Proletariats. Die einen verhießen große Leistungen des Proletariats in einer unbekannten Zukunft, scheuten aber in der Gegenwart vor ernsten Konflikten zurück; die anderen hatten keinen festen Glauben mehr an die Zukunftsverheißungen, erwarteten noch weniger große Leistungen von der Gegenwart und verfielen deshalb auf Kompromisse mit den bürgerlichen Parteien oder der Regierung, um auf diese Weise kleine Erfolge zu erzielen.

Die unentwegten Zukunftsrevolutionäre zogen sich ein Löwenfell über und brüllten fürchterlich — weniger um die Feinde zu erschrecken, als um sich selbst Mut einzuflößen. Die Opportunisten warfen flehentliche Blicke der Bourgeoisie zu: Kommt und krault uns das Fell!

Die Stimmung war flau. Seit vielen Jahren schon beklagt man sich über nachlassende Begeisterung, über tötende Langeweile in den Organisationen. Als Gegenstück hinzu kam lediglich wieder der Revolutionismus zum Durchbruch, der unter allen Umständen sofort losschlagen möchte. Es lag eine gewisse Berechtigung darin. Denn tatsächlich waren Kampfe notwendig, um die revolutionäre Energie des Proletariats zum Durchbruch zu bringen. Da aber die Revolution für das Proletariat nicht Selbstzweck ist, vielmehr nur Mittel zum Zweck sein kann, so lag die Losung nicht darin, sondern es war notwendig, eine proletarische Forderung aufzustellen, bei deren Durchsetzung man allerdings vor keinem Mittel zurückschrecken durfte. Eine solche Forderung war der Achtstundentag. Auf welchem Wege auch, ob revolutionär oder parlamentarisch, das Proletariat dieses Ziel erreicht hatte, so würde das doch auf jeden Fall seine soziale Stellung und seinen politischen Einfluss, folglich auch seine Unternehmungslust ungemein gehoben haben.

Aber an solche Probleme wagte man sich nicht heran. Der Achtstundentag geriet beinahe in Vergessenheit. Die Maifeier wurde zu einem Friedensfest. Zugleich nahmen auch die internationalen sozialistischen Kongresse immer mehr den Charakter von Friedensdemonstrationen an. Aus dem Kampfe gegen den Kapitalismus wurde der Kampf gegen den Militarismus. Dieser wiederum verwandelte sich in eine Propaganda des Weltfriedens. Einst fand die Sozialdemokratie nicht genug Hohn und Spott für die bürgerlichen Ideologen, die durch humanitäre oder fromme Redensarten, Friedensgesellschaften und internationale Beschlüsse die Kriege aus der Welt schaffen wollten. Jetzt bekämpfte sie selbst die Kriegsgefahr, die immer drohender wurde mit Redensarten und Beschlüssen.*)

*) Ich war niemals Pazifist. Im besonderen hielt ich eine Auseinandersetzung zwischen der deutschen Sozialdemokratie und dem russischen Zarismus für unvermeidlich. Es war für mich todessicher, dass im Falle einer deutschen Revolution die zarischen Armeen die deutsche Grenze überschreiten würden. Ich weiß wohl, dass die deutschen Arbeiter in solchem Falle die Sympathien der gesamten sozialistischen Welt für sich haben würden. Mag sein, dass infolgedessen Russland dann in seinem Kampf gegen Deutschland isoliert bleiben würde, sicher bin ich dessen keineswegs. Unbedingt würde die kriegerische Begeisterung der deutschen Armee noch größer sein als gegenwärtig. Aber wenn auch ohne Begeisterung keine Siege erfochten werden können, so ist doch die Begeisterung allein nicht ausreichend, um Schlachten zu gewinnen und einen modernen Feldzug durchzufuhren. Dazu gehören eine Menge Fachkenntnisse, Organisation, Leitung, Feldzugsplan — kurz, das Offizierskorps und der Generalstab. Darum glaube ich, es ist besser, dass die militärische Auseinandersetzung mit Russland jetzt stattfindet unter der Leitung des deutschen Generalstabes, als wenn sie von der Revolutionsarmee vorgenommen werden musste — ohne Generalstab.
Aber auch abgesehen davon agitierte ich seit vielen Jahren für einen Krieg gegen Russland, denn ich hielt eine militärische Niederlage Russlands für die beste Vorbedingung der russischen Revolution. Als der Bau der transsibirischen und der zentralasiatischen Eisenbahnen die Beziehungen zwischen Russland und England verschärfte, trat ich für ein Bündnis zwischen Deutschland und England ein, um Russland niederzukämpfen. Im russisch-japanischen Krieg stand ich auf Seiten Japans. Das geschah selbstverständlich nicht deshalb, weil mir das kapitalistisch modernisierte Japan imponierte, und auch nicht aus Gerechtigkeitsgründen, denn Japan hatte ebensowenig Rechte auf Korea und die Mandschurei, wie Russland. Es geschah, weil ich die russische Niederlage voraussah und in ihr die Vorarbeit zur Revolution erkannte. Damals wurde diese Stellungnahme von der russischen Sozialdemokratie wie überhaupt von allen russischen Revolutionären geteilt. Das ist jetzt anders geworden, da die russische Intelligenz sich von dem Patriotismus der russischen Bourgeoisie hat beeinflussen lassen.

Man spielte allerdings mit dem Gedanken des internationalen Massenstreiks, um den Krieg zu verhindern. Aber das war nur ein Schreckgespenst. Niemand in der ganzen Internationale dachte ernstlich an einen Kriegsstreik. Die Stellungnahme litt auch an einem inneren Widerspruch, da man auf allen Seiten die Berechtigung eines Defensivkrieges anerkannte. Jemand musste doch offenbar der Angegriffene sein — folglich war von diesem Gesichtspunkte ein internationales Zusammengehen des Proletariats im Kriegsfall undurchführbar. Außerdem ist ein Mobilisierungsstreik überhaupt unmöglich. Die lärmenden Beschlusse des Internationalen Sozialistischen Kongresses waren die schlimmste Klopffechterei.*)

*) Da die sozialistischen Parteien nicht imstande waren, den Weltkrieg zu verhindern, so konnte die taktische Aufgabe des Proletariats nur die sein, den Weltkrieg im Interesse des Sozialismus auszunützen. Das war meine Auffassung. Darum blieb ich den internationalen sozialistischen Friedensdemonstrationen fern, deren innere Hohlheit ich erkannte.
Ich ging nach Konstantinopel, weil dort sich der Knotenpunkt der diplomatischen Verwicklungen befand. Ich fand unschwer heraus, dass der Orient und der Balkan von den kapitalistischen Großstaaten korrumpiert, ausgewuchert und zugrunde gerichtet werden. Es war notwendig, dass die Balkan und Orientvölker selbst sich diesem Treiben widersetzen. Zu diesem Zweck mussten sie sich einigen. Eine Einigung war nur möglich auf demokratischer Grundlage. Und zu diesem Zweck wiederum war es unerlässlich, dass unter den Türken und der übrigen muselmanischen Bevölkerung eine demokratische Bewegung sich geltend mache. Ich bekämpfte deshalb die herrschende Gruppe der Jungtürken auf das schärfste, soweit sie von der Demokratie abwichen und die Revolution verrieten, unterstutzte sie aber ebenso entschieden in ihrem Kampf um die Selbständigkeit der Türkei. Ich kritisierte mit der größten Bitterkeit die Potsdamer Übereinkunft, weil dadurch die Geschäfte Russlands besorgt wurden, Als nach dem Balkankrieg in den türkischen Reihen starke Entmutigung eintrat und viele bereit waren, das Reich preiszugeben, geißelte ich in der türkischen Zeitschrift „Türk Jordu“ die Mutlosen und Selbstsüchtigen, die die Losung ausgaben, das Vaterland sei in Gefahr, man müsse es sich zunutze kommen lassen, und suchte besonders die Jugend zu einem kühneren Streben aufzumuntern. Ala der europäische Krieg ausbrach, war ich der erste, der der türkischen Regierung öffentlich den Rat gab, sofort die Kapitulationen aufzuheben. Man traute sich nicht daran, da man in den diplomatischen Kreisen nur Widerstand und noch immer auf keiner Seite Ermunterung fand. Schließlich wagte man es doch.

Um die Kriegsgefahr zu beseitigen, mussten sich die sozialistischen Parteien in den einzelnen Ländern einen maßgebenden Einfluss auf die Staatspolitik verschaffen. Aber gerade weil sie diesen Einfluss nicht hatten, glaubten sie, auf dem Wege des internationalen Zusammenschlusses das erreichen zu können, was sie selbst in den einzelnen Ländern nicht haben durchsetzen können. Den Unmut, den die Ergebnislosigkeit des Kampfes gegen Kriegsgefahr in den einzelnen Ländern erzeugte, brachte man auf die Internationalen Sozialistischen Kongresse mit. Hier tobte man sich aus und erzeugte dadurch den Eindruck eines großen Widerstandes gegen den Krieg, wollte auch mit Absicht diesen Eindruck hervorrufen, um die Regierungen zu erschrecken — in Wirklichkeit aber offenbarte man nur die Ohnmacht des Sozialismus im Kampfe gegen den Krieg.

Als der Krieg kam, dachte niemand daran, zu streiken. Da für aber fielen alle über die deutsche Sozialdemokratie her. Diese hatte mit gutem Beispiel vorangehen sollen — nach dem Sprüchlein: „Hannemann, geh du voran, du hast die größten Stiebeln an."

Es konnte aber überhaupt nicht die Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie sein, beim Ausbruch dieses Krieges die deutsche Armee zu desorganisieren. Das konnte man von ihr ebenso wenig verlangen, wie etwa, dass sie die deutschen Munitionsvorräte in die Luft sprenge oder den feindlichen Armeen die Wege nach Berlin zeige.

Man verwechselt die Bestrebungen zur Verhinderung des Ausbruchs des Krieges mit dem Verhalten später, wenn der Krieg bereits ausgebrochen ist und es also nicht gelungen war, ihn zu verhindern.

Konnte der Krieg verhindert werden? Wie die Dinge sich entwickelt haben, nein!

Anders aber, wenn die deutsche Sozialdemokratie in ihrer ganzen Entwicklung seit dem Fall des Sozialistengesetzes mehr revolutionäre Entschlossenheit gezeigt und auf diese Weise sich mehr politische Geltung verschafft hatte. Sie wusste wohl, was nötig war, als sie die Politik der Regierung bekämpfte. Sie musste bloß auf ihrem Willen bestehen, statt immer wieder einem entscheidenden Konflikt auszuweichen. Das würde zum Heil für das Deutsche Reich wie für die ganze Welt gedient haben.

Wenn die Sozialdemokratie im Reich mehr zur Geltung gekommen wäre, so würde Deutschland Sympathien in der Welt besitzen, die es jetzt nicht hat. Auch würden die Erfolge der deutschen Sozialdemokratie auf sozialpolitischem Gebiete — besonders in der Frage des Achtstundentages — die Stellung des. Proletariats in allen Industrieländern ungemein gestärkt und die internationalen Bande gefestigt haben.

Selbst das Verhältnis zu England wäre unbedingt ein besseres geworden. Wenn auch die englischen Imperialisten den gegenwärtigen Weltkrieg planmäßig und zielbewusst vorbereitet haben, so wäre es doch falsch, von diesem Gesichtspunkte das ganze Land zu beurteilen. Die englischen Arbeiter sind stets für ein friedliches Zusammenarbeiten der Völker eingetreten. Aber auch unter der englischen Bourgeoisie gibt es bereits Schichten, die geschäftlich an der Entwicklung der Handelsbeziehungen zu Deutschland interessiert sind. An dem Krieg gegen Deutschland sind, auch nur jene Kolonialengländer, die längst das Geschäft durch, den Sport ersetzt hatten und in der beschaulichen Ruhe ihrer; exotischen Existenz durch das rührige Vordringen der deutschen Geschäftsleute aufgescheucht wurden, und einige englische Finanz- und Industriecliquen interessiert, die den Weltmarkt monopolisieren möchten. Dem Einfluss dieser Cliquen kann am besten entgegengewirkt werden durch die Entwicklung der Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und England. Da die deutsche Sozialdemokratie grundsätzlich für den Freihandel eintritt, so würde ihr Einfluss die deutsche Schutzzollpolitik jedenfalls mäßigen und so zur weiteren Förderung der auch jetzt schon für beide Länder sehr wichtigen Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und England beitragen. Die geschäftlichen und kulturellen Bande zwischen Deutschland und England waren also enger geknüpft und so dem Intrigenwerk der Imperialisten entgegen gewirkt.

Die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich haben sich schon Ende der 90er Jahre gebessert und sie waren in guter Entwicklung, als England sein Intrigenwerk der Einkreisung; Deutschlands begann. Dies war es, das den Revanchegedanken in Frankreich aufs neue entfachte und ihm eine ungeahnte Kraft verlieh. Würde Frankreich einsehen, dass es im Kriegsfall sich, nicht auf England stützen kann — und das müsste es, wenn die Beziehungen zwischen Deutschland und England sich bessern würden —, so würden auch seine Beziehungen zu Deutschland sich weiter günstig entwickeln können.

Die Orientfrage wurde vor allem deshalb zur Gefahr für den europäischen Frieden, weil die europäischen Großmächte ihre gegenseitige Rivalität nach dem Orient verlegt hatten. Die wirtschaftliche Erschließung des Orients wurde am besten vor sich gehen, wenn man sie nicht mit politischen Nebenzielen verbunden hatte. Ein Nachlassen der Spannung in Europa würde deshalb auch dem Orient eine ruhigere Entwicklung sichern.

Anders das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland. Die russischen Sozialisten, die jetzt vor Entrüstung gegen die deutsche Sozialdemokratie die tollsten Luftsprünge machen, um dann sehr unsanft auf ihren nationalistischen Hintern niederzufallen, mögen versichert sein, dass, wenn die deutsche Sozialdemokratie mehr Einfluss im Reich hatte, die deutsche Politik dem zarischen Russland gegenüber längst eine ganz andere Tonart und ein ganz anderes Verhalten gezeigt hatte.

Wenn aber die deutsche Regierung mit ihrer traditionellen Russenfreundlichkeit gebrochen und Russland gegenüber mehr Trotz und Entschlossenheit gezeigt hatte, so würde das wiederum ein Faktor sein, der eine Annährung zwischen Deutschland und England begünstigen wurde. Denn die englische Politik war bis zum Ausgang des russisch-japanischen Krieges vor allem gegen Russland gerichtet.*)

*) Es war vielleicht der größte Fehler der deutschen Diplomatie seit der Entfernung Bismarcks, dass man, wahrend das Reich militärisch zu einem Kampf um die Weltherrschaft rüstete und der deutsche Welthandel an allen Ecken der Welt Neider und Rivalen schuf, glaubte, mit alter Welt gut Freund bleiben zu können, mit England, Frankreich, Russland. In der Weltpolitik maßgebend waren die große Ozeanmacht England und die große Kontinentalmacht Russland. Deutschland musste sich entweder der einen oder der anderen anschließen, wenn es nicht beide gegen sich haben wollte. Da aber Russland infolge seines, veralteten politischen Systems vor dem politischen und militärischen Bankerott stand, so war schon aus diesem Grunde eine Orientierung nur nach der Seite Englands ratsam. Es war denn auch das Fiasko Russlands im japanischen Krieg, das es in die Arme Englands warf.

Es ist klar, dass unter diesen Verhältnissen die Reichsregierung während der russischen Revolution nicht in der Weise Partei für den Zarenthron hatte nehmen können, wie es tatsächlich der Fall war, sondern desto mehr sich dem Revolutionären zukehren würde, je größer der Einfluss der Sozialdemokratie. Ein entschiedener Sieg der russischen Revolution würde Russland in einen demokratischen Staat verwandeln, und ein demokratisches Russland ist nur denkbar als Föderation der großen Nationen, aus denen sich das Reich zusammensetzt. Damit wäre die säkulare Gefahr für die demokratische Entwicklung und den Frieden Europas ihrer reaktionären Lebensquelle beraubt.

Man kann selbstverständlich nicht mit Sicherheit behaupten, dass auf diese Weise der Weltkrieg vermieden worden wäre, zweifellos aber ist, dass die Chancen für den Krieg vermindert und der Widerstand des Proletariats gesteigert worden waren.

Allein die deutsche Sozialdemokratie hatte es nicht verstanden, sich beizeiten Rechte und Macht zu erkämpfen. Dazu kam, dass sie die eigene Kleinmütigkeitsstimmung auf alle Welt übertrug. Wie sie selbst sich gewohnt hatte, mit dem Revolutionsgedanken zu spielen, so glaubte sie, das auch die Regierungen bloß mit den Waffen rasseln, sich aber nie zu einem europäischen Weltkrieg entschließen werden. Zum Teil hatte sie Recht. Denn es hat sich in den 80er und 90er Jahren eine Friedenspsychose herausgebildet, die sich in der öffentlichen Meinung breit machte. Eine ganze Literatur war entstanden, die aus wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Gründen einen europäischen Krieg als unmöglich hinstellte. Die Beweise erinnerten an die Gutachten, die seinerzeit von wissenschaftlichen Kapazitäten gegen die Einführung der Eisenbahnen abgegeben wurden. Die Sozialdemokratie ließ sich von diesen Stimmungen gern einlullen. In den letzten Jahren merkte sie wohl, dass die Stimmung der öffentlichen Meinung umschlägt. Da schrie sie auf, aber es war schon auf alle Fälle zu spät. Das Versäumte konnte nicht mehr eingeholt werden, und die Ereignisse wuchsen der Sozialdemokratie über den Kopf.*)

*) Wenn die deutsche Sozialdemokratie eine Revolution versäumt hatte, so hat die österreichische Sozialdemokratie sich selbst um eine Revolution betrogen.

Als der Krieg kam und Deutschland von den russischen Armeen bedroht wurde, blieb nichts anderes übrig, als zum Gegenschlag auszuholen. Die deutsche Sozialdemokratie erkannte, dass von den zarischen Armeen die demokratische Entwicklung Europas und das Deutsche Reich bedroht war, mit dem ihre eigene Geschichte auf das engste verknüpft ist. Da musste man sich wehren. Dies einmal entschieden, konnte kein Zweifel bestehen, dass die Führung dem Generalstab übertragen werden musste, der sich seit Jahrzehnten auf diesen Kampf vorbereitete, über die Armee und die Staatsmittel verfügte.

Es musste sein. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren.

Ich will die deutsche Sozialdemokratie keineswegs rein waschen. Sie trägt eine große politische Schuld. Aber das war nicht die Schuld eines Augenblicks, einer Abstimmung, es war eine falsche Taktik, die durch fünfundzwanzig Jahre angewandt wurde und nicht mehr im kritischen Augenblick geändert werden konnte — eine Schuld, die sich durch Jahrzehnte ansammelte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsche Sozialdemokratie.