Das Sozialistengesetz.

Der Aufschwung der Sozialdemokratie erschreckte die deutsche Regierung. Bismarck, der gewohnt war, mit Gewaltmitteln zu arbeiten, schuf das Sozialistengesetz. Aber die Arbeitermassen identifizierten sich mit den sozialistischen Agitatoren. Sie fassten das Gesetz als Herausforderung der Arbeiterklasse auf. Die Arbeiter wurden auch tatsächlich durch das Sozialistengesetz in eine politische Ausnahmestellung gebracht. Das Ergebnis war, dass dadurch zu der sozialdemokratischen Agitation, die die Arbeiter zu einer Klassenpolitik zu erziehen suchte, auch noch ein äußeres Band geschaffen wurde, das sie zusammenfasste, von der bürgerlichen Gesellschaft loslöste und in einen schroffen Gegensatz zu der Regierungsgewalt brachte.

Da ihr alle anderen Formen der öffentlichen Betätigung stark eingeschränkt wurden, verlegte sich die deutsche Sozialdemokratie vor allem auf die parlamentarische Aktion.


Innerhalb zehn Jahren seit dem Erlass des Sozialistengesetzes wurde sie zu einer starken parlamentarischen Partei.

Um diese Entwicklung zu begreifen, müssen wir uns noch die politischen Schicksale der deutschen Bourgeoisie in Erinnerung bringen.

Die deutsche Bourgeoisie zeigte nach 1871 in ihrem politischen Verhalten noch weniger Selbständigkeit als vorher. Die französische Bourgeoisie hat seinerzeit ihr soziales Ideal als welterlösende Idee verkündigt. Das war der bürgerliche Liberalismus, dessen äußerste Konsequenz die Abschaffung des Staates ist. Laissez faire, laissez passer! Die Bourgeoisie sagt dem Staat: Lass uns nur machen und tritt beiseite! Der Staat hat nur noch die Eigentumsordnung zu schützen, alles andere wird auf kaufmännischem Wege erledigt: durch Kauf, Verkauf und freien Vertrag. Dem Staat blieb nur noch die Rolle des Polizisten. Die englische Bourgeoisie hat dieses liberale Ideal nahezu voll kommen verwirklicht. Dagegen hat die deutsche Bourgeoisie ein eigenes soziales Ideal überhaupt nicht aufgestellt. Der französische Bourgeois lag stets in der Offensive, bereit, jeden, der das Kapital antastete, als Feind der Zivilisation, der Gesellschaft, des Menschengeschlechts hinzustellen; der englische Bourgeois grinste und schloss sein Kapital in eisernem Schrank ein — er wusste, dass es Raub ist (siehe Ricardo), wollte aber nicht, dass es ihm von anderen geraubt werde; der deutsche Bourgeois, selbst angekränkelt von den allgemeinen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des kapitalistischen Erwerbs, berief sich auf Gemeinwohl und Staatsinteressen. Aber das Geschäft der Kapitalanhäufung besorgten sie alle drei skrupellos, ohne auf die Interessen ihrer Mitmenschen zu achten.

Dazu kam, dass die deutsche Kapitalistenklasse bei ihrem ersten Auftreten den Weltmarkt bereits besetzt vorfand. Es ist bekannt, dass die englische Kapitalistenklasse zuerst den modernen Maschinenbetrieb in den wichtigsten Industrien einführte, und dass sie dank diesem Umstand, sowie dem englischen Kolonialbesitz und der Ausdehnung des englischen Welthandels in der Lage war, jede Konkurrenz auf dem Festlande zu schlagen. England schuf sich eine Monopolstellung auf dem Weltmarkt. Das europäische Festland war ihm gegenüber wirtschaftlich nicht viel mehr als eine Kolonie. Dem freien Briten schien dieser Zustand vollkommen in der Ordnung der Dinge — ebenso, wie es ihm gegenwärtig richtig und gerecht erscheint, dass England die Ozeane dem Weltverkehr absperrt. Die Schwierigkeit, schein bare Unmöglichkeit, das englische Industriemonopol zu brechen, stimmte die Bourgeoisie auf dem Festlande wirtschaftlich und politisch herab, machte sie bescheiden in ihrem Auftreten und ihren Forderungen. Die deutsche Bourgeoisie hatte von Haus aus keine wirtschaftlichen Weltplane, wie die englische oder die französische. Sie wollte bloß auf dem inneren Markt sich Platz schaffen, der Gedanke lag ihr fern, es mit England auf dem Weltmarkte aufnehmen zu wollen, und sie entwickelte sich tatsächlich auf der Grundlage des inneren Marktes, im Anschluss an den Eisenbahnbau, den Städtebau, die Militärlieferungen.

Die wirtschaftliche Stagnation, die auf dem Weltmarkt nach der 70er Handelskrisis eintrat, wirkte ebenfalls als ein politischer Dampfer auf die Bourgeoisie.

Und so sehen wir, dass die deutsche Bourgeoisie sich der Regierungsgewalt anschmiegt, sich ihr unterwirft, statt die politische Gewalt an sich zu reißen. Sie will es gar nicht. Ihr Ideal ist nicht der Liberalismus, sondern ein starkes Reich. Und da das Reich unter preußischer Leitung steht, so eignet sie sich das preußische Staatsideal an.

Die Regierungsgewalt fühlt sich stark und setzt eine energische Staatspolitik durch, von der besonders zwei Momente hervorgehoben werden müssen: die Verstaatlichung der Eisenbahnen und die Arbeiterversicherung. Beides blieb Stückwerk. Die Verstaatlichung der Eisenbahnen müsste mindestens von einer Verstaatlichung der Kohlenwerke begleitet sein. Die spätere Entwicklung hat gezeigt, dass eine in den 80er Jahren durchgeführte Verstaatlichung der Kohlenwerke die großartigsten finanziellen und wirtschaftlichen Ergebnisse zur Folge gehabt hatte. Die Arbeiterversicherung war ungenügend, weil ihre finanziellen Unterlagen zu gering waren, weil in ihrer Organisation die Arbeitervertretungen nicht zu ihrem vollen Rechte kamen und weil sie es unterlassen hatte, die Arbeitszeit zu normieren — denn die Festlegung eines kurzen Arbeitstages ist das wichtigste Mittel zur Verhütung von Betriebsunfällen und Gewerbekrankheiten.

Dass die Reichsregierung geglaubt hatte, durch die Arbeiterversicherung die Sozialdemokratie aus dem Sattel heben zu können, das war allerdings ein grober, wenn auch begreiflicher Irrtum der Staatsmänner, die das Wesen der Sozialdemokratie in der sozialistischen Agitation erblickten, statt sie aus der sozialen Stellung der Arbeiterklasse und der Entwicklung des Reiches begreifen zu lernen. Da die Arbeiterversicherung als Kampfmittel gegen die Sozialdemokratie in Szene gesetzt wurde, musste sie schon deshalb von dieser mit dem größten Misstrauen aufgenommen werden. Die Unzulänglichkeiten der projektierten Arbeiterversicherung boten der Sozialdemokratie Stoff genug zu der schärfsten Kritik. Außerdem empfanden die Arbeiter die brutale Kombination von Arbeiterversicherung und Sozialistengesetz, „Zuckerbrot“ und ,,Peitsche“, als Verletzung ihres Ehrgefühls, als tiefste Kränkung. Wenn man sich noch weiter orientiert über die Art, wie damals die Kämpfe um die Arbeiterversicherung ausgefochten wurden, so findet man, dass bis zu einem gewissen Grade denn doch in der deutschen Sozialdemokratie selbst die Befürchtung bestand, dass es Bismarck vielleicht doch gelingen konnte, das Proletariat durch seine Versicherungsgesetze vom revolutionären Wege abzulenken. Die Wahnidee, dass die Arbeiterversicherung die Entwicklungsmöglichkeiten der Gewerkschaften eingeschränkt habe, hielt sich noch lange aufrecht und trübte den Blick selbst so kühner Geister wie August Bebel.*)

*) Ich wandte mich dagegen zuerst in meiner 1896 erschienenen Schrift „Die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie“.

Die Sozialdemokratie erlitt keinen Abbruch durch die Arbeiterversicherung; im Gegenteil, ihre Popularität vermehrte sich und ihre Kraft stieg durch die Machtstellung, die die Arbeitervertreter in den Versicherungsorganisationen erreichten. Das beweist, dass man bei der Beurteilung einer Staatsaktion nicht bloß die Absichten ins Auge zu fassen hat, die die Regierung oder die herrschenden Klassen dabei verfolgen, sondern auch die Konsequenzen, die die Maßregel innerhalb des modernen sozialen Getriebes nach sich ziehen muss. Die Arbeiterversicherung war eine Eroberung der Sozialdemokratie, obwohl sie als Kampfmittel gegen diese gedacht wurde.

Viel einfacher war die Stellung der Sozialdemokratie zu der Verstaatlichung der Eisenbahnen. Denn hier verfolgte die Regierung überhaupt keine sozialpolitischen und nicht einmal wirtschaftliche Pläne, sondern die Verstaatlichung geschah aus militärischen Gründen. Die Sozialdemokratie war dagegen, weil sie die Macht des Staates, der sie vergewaltigte, nicht hat vermehren wollen.

Gegenwärtig gibt es kaum einen Menschen, der die preußische Verstaatlichung der Eisenbahnen ungeschehen sein lassen mochte. Das deutsche Beispiel wurde seitdem von anderen Staaten nach gemacht, und allgemein wird die Zweckmäßigkeit der Verstaatlichung der Eisenbahnen sowohl aus militärischen wie aus finanziellen und wirtschaftlichen Rücksichten anerkannt. Die Sozialdemokratie setzt sich grundsätzlich nirgends mehr der Verstaatlichung der Eisenbahnen entgegen, wohl aber scheiterte in manchen Staaten bis jetzt das Werk an dem Widerstand der kapitalistischen Eisenbahngesellschaften, die übertriebene finanzielle Forderungen stellten, oder durch parlamentarische Intrigen die Aktien zu verteilen wussten. Gerade in Frankreich und England, den „liberalen“ Staaten, die man uns jetzt als Träger der Zivilisation hinstellt, der zuliebe Deutschland von der russischen „Walze“ zermalmt werden sollte, kommen diese kapitalistischen Cliqueninteressen am stärksten zur Geltung. Was die Regierungsgewalt in Deutschland, gestützt auf den Militarismus, schon in den 80er Jahren mit Erfolg durchgeführt hatte, das haben jene Staaten des bürgerlichen Liberalismus bis auf den heutigen Tag nicht fertig gebracht. Woraus sich ergibt, dass auch der Militarismus seine guten Folgen haben kann.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsche Sozialdemokratie.