Zweite Fortsetzung

Doch wir haben damit alle Organe der Gesellschaftstriebes noch nicht erschöpft. Die bis jetzt besprochenen sind so notwendig, wie ihre Grundlagen; so wenig diese das Volk jemals entbehren kann, ebenso wenig wird es aufhören, jene aus sich herauszubilden. Wir begegnen aber in der Geschichte des Volts auch Vereinigungen Weniger oder Vieler, die, indem sie einen bestimmt ausgesprochenen Zweck zu verwirklichen, zusammentreten, mit seiner Erreichung oder zeitweiligen oder dauernden Vernichtung schnell oder allmählich verschwinden. Es sind dieses die Vereine und die Summe ihrer Lebensäußerungen das Vereinsleben. Die unendliche Reihe aller Zwecke, die aus dem reichen Gesamtinhalte des Volkslebens emporwachsen und zu ihm zurückkehren, die mannigfaltigen Entwicklungsstufen des Volkes während der Jahrhunderte seiner selbständigen Lebensäußerung, bedingen die reichste Mannigfaltigkeit des Vereinslebens. Um die Wichtigkeit dieses Momentes hervorzuheben, weisen wir hin auf die politisch großartigen Vereine des Mittelalters und auf den reichen Wechsel des Vereinslebens unserer Zeit. Während das Genossenschaftsleben gegenwärtig die bildungsreiche Lebensfähigkeit des Mittelalters verloren hat, entfaltet sich um so mächtiger und mannigfaltiger das Vereinsleben und Kraft, welche, indem sie den Menschen der höchsten Freiheit unterwirft, von dem allein Unabhängigen abhängig macht, ihm die innere Freiheit gibt und dadurch allein die Möglichkeit sich als ein richtig organisiertes, im gesetzmäßigen Leben sich entfaltendes Wesen darzustellen. Ohne die gesunde, gebildete, willensstarke religiöse Kraft mangelt den Organen des Volkes der innerste Zusammenhang und dadurch dem Volke selbst jene Lebensfähigkeit, die die erste Bedingung einer selbständigen Persönlichkeit und einer Fortentwicklung derselben ist. Diese religiöse Kraft im Einzelnen wie im Volke und im Gesamtgeschlechte zu erhalten, sie vor allem Siechtum und allen Ausschreitungen zu bewahren, sie vom Unglauben zum Glauben, vom Irrtum zur Wahrheit zu läutern, und ohne Stillstand in leben- und taterzeugender Reinheit zu behüten, ist die Aufgabe der Kirche, die auf ihrem Gebiete selbständig ist, wie der Staat auf dem seinen und die doch mit dem Staate auf das Innigste verbunden und verschwistert bleiben muss, denn beide entwachsen demselben Boden des Volkslebens und finden in ihm ihre erste und letzte Zweckbestimmung. Wie diese Kirche in ihren Anfängen aus der religiösen Kraft des Volkes emporwuchs, wie sie sich fortbildend Einzelorgane aus sich entwickelt, wie sie in jedem Punkte ihrer Entwicklung in lebensvollster Weise auf das Volksleben und dieses auf sie Einfluss übt, wie Fremdes in ihr dem Volke aufgedrungen wird und das Volk dieses Fremde sich zu eigen macht, wie weit sie, endlich die Höhe jener Entwicklung erreicht, die sie befähigt das ganze Volk in seinem innersten Gemütsleben ohne Zwang zu umfassen, — dieses alles darzustellen, bemüht sich die Kulturgeschichte. —

Mit der Darstellung der Organe des Erhaltungs-, des Gesellschafts-, und des Bildungstriebes haben wir weder die Summe der Kräfte des Volkes noch den ganzen Inhalt der Kulturgeschichte erschöpft. Alle jene Organe sinken nicht die letzte Zweckbestimmung in sich selbst, sondern im Leben des Ganzen; ohne ein stetes tatsächliches Eingreifen in dieses Leben erscheinen sie als inhaltslose, erstarrte Formen. Es gibt aber noch Volkskräfte, die, obwohl sie allen jenen Organen mit steigender Entwicklung dienen und zu ihrem lebenskräftigen Bestehen unentbehrlich sind, dennoch ihren höchsten und eigentlichsten Zweck außerhalb des Zusammenreifens jener Organe finden. Es sind dieses die Sprache, die Kunst und die Wissenschaft, als die Organe des rein geistigen Lebens des Volkes.


Die Sprache, das flüssigste und bildsamste Organ, dient in Unmündigkeit des Volkes materiellem Leben und schmiegt sich als Ausdruck seiner physischen Bedürftigkeit, ein unselbständiges Mittel, allen jenen Organen an, die wir als hierhergehörend bezeichnet haben. Von ihnen empfängt sie die erste, notwendige und mit der steigender Bedeutung der Organe auch stets bedeutsamer werdende Bildung. Nicht minder folgt sie dienend, von Stufe zu Stufe geistiger sich entwickelnd, den Organen des ethischen Lebens des Volkes, und indem sie für jedes das notwendige Mittel der Verständigung bleibt, erhält sie von jedem einen Teil ihrer eigenen Bildung. Keines jener Organe aber erfasst sie ganz als letzten Zweck, ebensowenig alle jene Organe miteinander. Aus der höchsten Stufe ihrer Bildung und Freiheit ist die Sprache der sinnlich wahrnehmbar gewordene Geist des Volkes, der Gesamtausdruck seines geistigen Lebens und führt uns also unmittelbar in den tiefsten Schacht des Volksgeistes. Die Sprache von ihren ersten Äußerungen durch die ganze Stufenreihe ihrer Entwicklungen zu verfolgen, den Einfluss der übrigen Organe auf ihre Bildung zu bestimmen, die allmähliche Entfaltung ihrer freien, Wort- und Formschaffenden Kraftfülle als des unmittelbarsten Ausdruckes des Volksgeistes darzustellen, versucht ebenfalls die Kulturgeschichte.

Die Kunst folgt, wie die Sprache, nur weniger flüssig und schmiegsam, dienend der ganzen Reihe der Organe von der Landwirtschaft an bis zum Staat und zur Kirche und empfängt von jedem bildende Momente. Nachdem sie jedoch diese strenge Schule der Dienstbarkeit durchlaufen hat, ringt sie sich mit ernster, männlicher Selbständigkeit von jedem besonders Organe los und dient der Gesamtsumme von allen, dem Geistesleben des Volkes; ja, auf der höchsten Stufe ihrer Entwicklung hebt sie, innig mit dem Volksgeiste verschwistert, diesen über sich selbst hinaus und erkennt und stellt in ihm dann den Träger des Geisteslebens der Menschheit dar. Das gewöhnlichste Hausgerät, an das die Kunst ihre bildende Hand legt, erhält einen Wert, den es als Hausgerät nimmer erhalten könnte; aus dem nur dem Gebrauche und der Bedürftigkeit Dienenden wird es zu einem Ausdruck des Geisteslebens des Volkes, und solches Gerät zu zerstören, brandmarkt mit Recht die Geschichte als Vandalismus. Das Besondere also zu einem Allgemeinen zu machen, in dem schnell wechselnden Reiche der Erscheinungen das Dauernde zu erkennen und verspricht eine vielgestaltige, wirkungsvolle Entwicklung für die Zukunft. Für die Geschichte des deutschen Vereinslebens hat die Kulturgeschichte nur Einzelnes und Zerstreutes geleistet und doch bildet es einen höchst bedeutsamen Teil derselben, da dieses Organ vermöge seiner Beweglichkeit und Bestimmbarkeit vor allen fähig erscheint, der Ausdruck für feinere, mehr vorübergehende Richtungen im Volke zu werden. —

Die Gruppe, die wir hier als die Organe des Gesellschaft bildenden Triebes im Volke gezeichnet haben, dienen die eine Seite seines ethischen Lebens darzustellen, die Verwirklichung des Rechtes und der durch das Recht bedingten Freiheit. —

Um seine sämtlichen Organe zu ununterbrochener erfolgreicher Tätigkeit anzuregen und in derselben zu erhalten, bedarf das Volk einer unendlichen Menge der mannigfaltigsten Kräfte. Es ist ein auch schon anderswo ausgesprochener Satz, dass für jede Art der menschlichen Tätigkeit in der Menschheit selbst die für diese Tätigkeit eigentümlich begabten Individuen geboren werden. Der Satz behält auf das Volk, als das selbständige organische Glied des Gesamtgeschlechtes angewendet, seine volle Wahrheit. Wohl kann von außen her dem Volke eine ihm fremdartige Tätigkeit aufgedrungen werden, doch dann ist es im Zustande der Unfreiheit und wird, sobald es Lebenskraft ,genug in sich fühlt, dem Zwang widerstreben, bis es befreit aus sich selbst heraus nach inneren Gesetze seine Organe und deren Lebenstätigkeit zu entfalten vermag. Solches Widerstreben und Ringen nach Selbständigkeit beweisen, dass im Volk selbst die Kräfte, jenen notwendigen Organen Leben zu geben, vorhanden sind, denn nur das Bewusstsein der Kräfte erzeugt ein Verlangen nach Dem, was Resultat dieser Kräfte ist. Es ist aber nicht genug, dass die Kräfte vorhanden sind, sie müssen auch gebildet werden. Freilich erhält der Mensch nur durch das Organ, dem er dient, die letzte und notwendigste Bildung zu diesem Dienste; in allen Künsten, sagt das gemeine Wort, macht Übung den Meister. Die letzte und höchste Schule also ist das tätige Leben. Doch nicht mit der Geburt schon wird dem Menschen die Kraft zu einem solchen Leben gegeben, sondern nur die Möglichkeit, die Anlage dieser Kraft. Sie herauszubilden, den Weg ihrer Bildung vor hemmenden Einflüssen zu bewahren, sie nach richtigem Ziel zu lenken, ist die Aufgabe der Schule. Sich selbst überlassen, verwildern und entarten mit seltener Ausnahme die begabtesten Kinder. Wie kräftig auch im Menschen der Bildungstrieb leben mag, doch widerstrebt mit ununterbrochenem passiven Widerstand die Schwerkraft der physischen Natur, die zufrieden ruhen will, sobald der Selbsterhaltung Genüge geschehen ist. Je mehr das Physische, wie in der Kindheit des Einzelnen so in der Kindheit des Volkes, über das Psychische Herrschaft übt, um so gefährlicher ist jenes passive Widerstreben der Entwicklung des geistigen Lebens. Um jene Herrschaft zu brechen und diese Entwicklung möglich zu machen, schafft das Volk aus sich heraus die Schule, deren Aufgabe ist, den heranwachsenden Menschen soweit vorzubereiten, dass er als ein weiter zu Bildender in das tätige Leben übertreten kann. Jedes Organ verlangt von denen, die diesem Organ dienen wollen, noch eine besondere Bildung, die je nach dem geistigen Gehalte desselben mehr oder weniger tief gründen wird. Darnach gliedert sich das Organ der Schule in die verschiedenen Schulen. Von der untersten Volksschule durch die verschiedenen Wirtschafts-, Gewerbe-, Handels-, gelehrten Schulen bis zur Universität, der höchsten Schule, aus welcher der Jüngling entlassen wird, um mit freier Selbstbestimmung den edelsten und höchsten Organen des Staates zu dienen, bildet die Schule eine reichgegliederte Kette, welche mit ihrer Herausbildung im Ganzen, mit ihrer Entwicklung im Einzelnen, ihrem steten Zusammenhange mit dem Leben des Volkes darzustellen, Ausgabe der Kulturgeschichte ist.

Die Schule bildet den Einzelnen zum brauchbaren Mitglied der Volksgemeinschaft, doch diese Gemeinschaft ist nicht die einzige, der der Mensch angehört; er ist ein Glied der Menschheit, des Weltganzen, dessen bewusster Mittelpunkt Gott ist. Erst dadurch, dass er mit dem Bewusstsein, dieser höchsten Gemeinschaft notwendiges Glied zu sein, mit dem Gefühle der unmittelbaren innersten Abhängigkeit von dem Mittelpunkte jener Gemeinschaft, von Gott, über die Einzelerscheinungen des Lebens sich zu erheben und mit gewonnener innerer Freiheit zu dem Leben zurückzukehren vermag, erhalten seine Kräfte durch richtige Pflichterkenntnis und Pflichtbestimmung gegen sich, gegen die Nächsten und gegen jede Gemeinschaft die Heiligung und der Mensch seine Vollendung. Dass der Einzelne, wie das Volk und die Menschheit solcher Erhebung und freiwilligen Rückkehr fähig sind und bleiben, leistet die ihnen eingeborene religiöse durch Darstellung zu fesseln, ist der Kunst höchste Aufgabe. Sie, die eigentlichste schöpferische Kraft des Volksgeistes, durchläuft, nie ohne selbsttätige Teilnahme, den Inbegriff aller Offenbarungen desselben, sammelt, nachdem sie die Höhe der Entwicklung erreicht hat, alle ihre Erfahrungen, und von dem Geiste beseelt, der das Entlegenste vereint und das scheinbar Fremdartigste aufs Innigste zusammenhält, stellt sie als Resultat dar, was allen Erscheinungen als Ziel zu Grunde liegt, das Schöne. Darum irrt das Volk, das die Sorge für seine Kunst seinen Einzelorganen überlässt; das ganze Volk soll sie tragen und fördern, mit Hingebung ihren Offenbarungen lauschen, mit Aufopferung dieselben fördern, denn sie sind nur der Ausdruck des Edelsten und Schönsten in dem Leben des Volkes selbst. Darum soll auch die Kunst nie dem Volksgeiste sich entfremden und nach dir innigsten Verschwisterung mit ihm, doch nie ohne Freiheit trachten, denn der Volksgeist ist ihre einzige naturgemäße Grundlage und ohne in ihm zu wurzeln, erzeugt sie nur inhaltsleere tote Formeln. Diese Kunst mit den angedeuteten Momenten ihrer Entwicklung und ihres Wesens darzustellen, gehört der Kulturgeschichte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsche Kulturgeschichte
036 Kirchgang

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037 Bergwerk

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038 Küchen-Inneres

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039 Bauernkirmes

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040 Postreiter

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041 Straßenszene

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042 Kinderstube

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043 Landsknechtslager

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044 Kriegsrat vor belagerter Stadt

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045 Bauernkrieg

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046 Hirschjagd

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047 Kinderspiel (Turnier)

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048 Schembartläufer

048 Schembartläufer

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