Vierte Fortsetzung

Die Wissenschaft von der Kirche und die Kulturgeschichte behandeln beide mit gleichem Interesse des Volkes religiöse Kraft, wie sie Glauben schaffend und Gemeinschaft bildend sich äußert. Die Wissenschaft von der Kirche empfängt den Glauben des Volkes um ihn zu prüfen und zu reinigen; sie will in ihm die endliche Darstellung und ununterbrochene Sieghaftigkeit des wahren Glaubens als Resultat der Entwicklung der Menschheit verwirklichen. Die Kulturgeschichte sucht im Glauben des Volkes das, was unmittelbar als Ausdruck seines eigensten innersten Gefühls emporschießt; den wahren Glauben heißt sie nur wahr, nachdem er durch die Eigentümlichkeit des Volkes umgestaltet, sich als den wahren, dieses Volk und seine Bildungszustände fördernden erwiesen hat. Jede Abweichung von der Glaubensnorm bekämpft die Wissenschaft von der Kirche als Irrglauben und Aberglauben, als Zeugnisse der Unwahrheit und der Sündhaftigkeit; die Kulturgeschichte findet im rohesten Aberglauben beachtenswerte Wahrheit, denn jede Meinung, sobald sie der Ausdruck eines Bildungszustandes im Volke war, hat kulturhistorische Wichtigkeit. Die Wissenschaft von der Kirche strebt, jede religiöse Gemeinschaft, die vereinzelte, durch Gleichmäßigkeit der Bildung verwandte Elemente des Volkes, getrennt von der allgemeinen Kirche selbständig umfasst, in diese allgemeine Form endlich aufgehen zu machen; die Kulturgeschichte dagegen fasst jede religiöse Gemeinschaft, die sich im Zusammenhange mit dem Volksgeiste bildete, als eine Form, deren das Volk bedurfte, um seiner dermatigen Bildung gemäß seine Selbstdarstellung nach allen Richtungen hin möglich zu machen. Die Wissenschaft von der Kirche stellt den endlichen Sieg der Kirche dar über das Volk, die Kulturgeschichte in der Entwicklung der Kirche den Sieg des Volkes über sich selbst; jene sieht in dem Siege der Kirche das Aufgehen jeder Subjektivität in das allgemein Wahre, diese beweist, dass trotz dem endlichen Siege der rein objektiven Wahrheit im Glauben und in der Kirche sich das Subjekt in seiner reinsten und eigentlichsten Wesenheit bat erhalten können und müssen.

Die Wissenschaft der Kunst prüft alles, was der künstlerische Genius des Volkes erzeugt, nach den Regeln des Schönen und hält es der Wertschätzung nur würdig, so weit es mit dieser übereinstimmt. Die Kunstgeschichte ist also die Darstellung der allmählichen Entwicklung des Schönen. Jede Entwicklungsstufen des Volkes gilt vor ihrem Urteil nur, soweit sie fähig ist, jene Entwicklung zu erleichtern und je mehr Opfer sie bringt, dieselbe zu fördern. Die Kulturgeschichte schildert das Ringen des Volksgeistes, aus sich heraus die Regeln des Schönen zu entdecken, die seiner unendlichen Mannigfaltigkeit die Mittel geben, sich schön darzustellen. Sie zeigt nicht im einzelnen Kunstwerk, was schön in ihm, sondern was trotz der Schönheit volkstümlich ist, d. h. Ausdruck des Volksbewusstseins auf irgend einer Stufe seiner Bildung. Oft entdeckt sie mit Teilnahme in dem, was die Kunstgeschichte als lächerlich darstellen muss, das zwar mühevolle, durch die eigene Unbeholfenheit beengte, doch gerade darum achtungswerte Ringen des Volksgeistes. Umgekehrt preist die Kunstgeschichte die Bemühungen einer Zeit oder eines Mannes um den endlichen Steg des Schönen als groß und unsterblich, während die Kulturgeschichte diesem Bemühen als einem vergeblichen vorübergeht, da sie weiß, dass nur die Form des Schönen wahres Leben gewinnen kann, die ihren Inhalt aus der Tiefe des Volksgeistes zu nehmen fähig ist. Die Kunstgeschichte sieht in der Kunst eines Volkes die mehr oder minder mangelhafte Verwirklichung des allgemein Schönen, die Kulturgeschichte in ihr die Darstellung des innersten Seelenlebens des Volkes nach den Regeln des Schönen und wo diese sich mangelhaft zeigen, findet sie jenes, oft um so unmittelbarer offenbart.


Die politische Geschichte bekämpft die Sage und indem sie in ihr nur Unwahrheit und Dichtung erblickt, strebt sie nach deren Vernichtung. Die Kulturgeschichte nimmt die von der ernsten Schwester Verscheuchte mit Vorliebe auf und findet in ihr als dem Ausdruck eines innigen Volksgefühls bedeutendere Wahrheit als in dieser und jener gewonnenen oder verlorenen Schlacht. Ebenso freut sich die Kulturgeschichte, wenn sie von den Meinungsäußerungen des rohesten Bauernstandes in dunklen Zeiten erkennbare Spuren entdeckt, während doch die Geschichte der Welt-Weisheit dieselben Meinungen unbeachtet lässt, dagegen bewundernd bei der Betrachtung eines künstlichen philosophischen Systems weilt, das weder in dem Leben des Volkes wurzelte, noch jemals auf dasselbe eine Rückwirkung äußerten. —

Jede Wissenschaft also fällt, insofern ihr Objekt ein Glied des organischen Lebens des Volkes ist, auf dieses bestimmend einwirkt und von ihm Bestimmung erhält, mit der Kulturgeschichte zusammen; insofern sie jedoch ihr Objekt als ein selbständiges, nach eigenen Gesetzen fortlebendes und fortzubildendes Organ betrachtet, trennt sie sich von der Kulturgeschichte und wird ein abgerundetes selbständiges Glied in dem System der übrigen historischen Wissenschaft. Die Kulturgeschichte stellt uns die Entwicklung des Volkes in seinen Organen und deren ununterbrochenes Ineinanderleben dar; das einzelne Organ erscheint ihr stets nur im engsten Zusammenhange mit dem Boden, dem es entwächst, dem Gesamtorganismus des Volkes, sie ist also die Darstellung der organisch gegliederten Grundlage sämtlicher historischen Wissenschaften. —

Man erlaube uns jetzt noch einige Worte über die Form ihrer Darstellung und die Art ihrer inneren Gliederung.

Ihr Gegenstand ist Leben, ein unendlich reiches, bis in die kleinsten Bruchteile hinab organisch gegliedertes Leben, denn jedes Organ zerfällt wieder in eine Anzahl von organischen Gliedern und das letzte Glied, der einzelne Mensch, ist wiederum ein eigentümlich begabtes, selbständig organisiertes Wesen. Um für dieses reichgegliederte Leben mit seinen mannigfaltigen Entwicklungsstufen den genügenden Ausdruck zu finden, muss die Kulturgeschichtsschreibung dahinstreben, auch in dem Kleinsten noch konkret zu erscheinen. Das Leben lässt sich nicht durch Räsonnement noch durch Betrachtungen darstellen, sondern allein durch Tatsachen und Zustände. Nicht allein des Volkes Fleisch und Blut, wie es von innen heraus beseelt und nach notwendigen Gesetzen geleitet wird, auch sein innerstes Leben selbst ist Objekt dieser Wissenschaft. Der innerste Gedanke, das geheimste Gefühl, die schüchternste Willensregung des Volkes, sobald sie Ausdrucks also vor, einem Inneren zu einem Äußeren geworden ist, aufzusuchen und darzulegen, ist die Aufgabe der Kulturgeschichte. Sie ist die Darstellung der Summe der Lebensäußerungen des Volksgeistes. Die weilende Betrachtung über das Einzelne gehört andern Wissenschaften an. Die beste Theorie beschäftigt die Kulturgeschichte nur, insoweit sie in allen Punkten mit der ausübenden Tätigkeit des Volkes auf das Innigste und Gesetzmäßigste verbunden ist. —

Wir finden nicht selten die Geschichte der Sitten eines Volkes als seine Kulturgeschichte angekündigt, nach unserer Ansicht mit Unrecht. Die Sitte ist die notwendige Form, die unentbehrliche Bedingung, unter welcher sich der Volksgeist in seiner Lebensäußerung betätigt und feststellt. Sobald ein Organ des Volkes Kraft gewinnt sich zu äußern, bildet sich notwendig mit ihm die Form, in welcher das Innere zu einem Äußeren, Fühlen, Wollen und Denken des Volkes zur Tat wird. Diese Form in ihrer Feststellung und lebendigen Fortpflanzung von Geschlecht zu Geschlecht ist die Sitte. Die Gesamtsumme aller Sitten gliedert sich gesetzmäßig nach den Organen, denen ohne diese Sitten die Hauptbedingung der Lebensäußerung fehlen würde. Die Bildungsgeschichte eines Organes lässt sich ohne die Sitten, welche sich im engsten Zusammenhange mit ihm gebildet haben, nicht darstellen und die Schilderung sämtlicher Sitten des Volkes gibt noch bei weitem nicht seine Kulturgeschichte. Es ist also mehr als billig, dass das Organ als die sittenbildende Kraft das Herrschende ist und die Sitte, als durch jenes gebildet, auch in der geschichtlichen Darstellung sich jenem anschmiege. — Die chronologische Anordnung, von der auch die politische wie die Kirchengeschichte oft abzuweichen gezwungen sind, wird sich für die Kulturgeschichte als durchaus ungenügend beweisen. Das Volk entfaltet wohl seine Organe stufenweise nach einander, doch in ihrer weiteren Entwicklung nehmen diese Organe keineswegs einen gleichmäßigen Gang. Die Landwirtschaft stellt sich schnell mit der ersten Entwicklung des Volkes in gewissen Formen fest, fast zugleich mit ihr zeigen sich die ersten Anfänge des Handels und der Gewerbe. Plötzlich sehen wir diese beiden jene erste schnell überflügeln und zu einer bewundernswerten Ausbildung und Herrschaft gelangen, während die Landwirtschaft mit den einmal gewonnenen Formen zufrieden, fast erstarrt scheint. In gleichem Verhältnis sehen wir den Bauern- und den Bürgerstand sich entwickeln, dieser droht die Herrschaft über das ganze Volksleben an sich zu reißen, während jener, der ursprünglich Herrschende, sich kaum vor gänzlicher Dienstbarkeit zu schützen vermag. Staat und Kirche zeigen in der Geschichte des Volkes ähnliche Erscheinungen. Ein rasches Vorwärtsschreiten also mit dem schnell sich Entwickelnden, ein Zurückkehren und Verweilen bei dem Zurückbleibenden, das später oft um so weitere Schritte vorwärts tut, ist der Darstellung der Kulturgeschichte notwendig. — Die Grundlage der inneren Gliederung dieser Wissenschaft geben gleich die Organe des Volkes. Die Einzelorgane, wie wir oben versucht haben sie zu zeichnen, geben das Objekt der Einzelteile der Kulturgeschichte; ihr Zusammenschließen zu einer Gruppe verbindet auch in der Wissenschaft die Einzelteile zu größeren Abschnitten; der Gesamtorganismus endlich des ganzen Volkes gibt das architektonische Gerüste der ganzen Wissenschaft. —

Das Leben eines Volkes ist seine Selbstdarstellung in der Zeit als der Form des Werdens; seine Entwicklungsstufen üben also auf die Zeit einen bestimmenden Einfluss und bilden, indem sie Zeitabschnitten besondere Charakterzüge verleihen, Perioden. Je nachdem die mächtig vordrängende Entwicklung eines Organs oder einer Gruppe derselben einer Zeit das leicht zu erkennende Gepräge aufdrückt, sondert, sich diese von anderen Zeiten. Das Vorwiegen der Landwirtschaft, verbunden mit dem Kriegswesen, gibt der ersten Hälfte des Mittelalters durch die Herrschaft des Lehnswesens seinen ganz bestimmten Charakter, indes die zweite Hälfte des Mittelalters durch die glückliche Entwicklung der Gewerbe, des Handels und des Bürgerstandes seine Farbe erhält. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wendet sich der Volksgeist mit Vorliebe der Gestaltung der Kirche zu; die erste Hälfte des 17. begünstigt mit Unterdrückung fast aller übrigen Organe die Entwicklung des Kriegswesens. In der ganzen hinter uns liegenden Entwicklung des deutschen Volks sehen wir zu jeder Zeit das mächtige und auf Kosten anderer Organe siegreiche Vordrängen einzelner Organe; erst die Gegenwart strebt es an und der Zukunft ist es als größte Aufgabe vorbehalten, dem Volke die nach allen Richtungen ungehemmte gesetzmäßige Entfaltung seiner sämtlichen Organe möglich zu machen, und dadurch das wahre Wohlbefinden des Volkes in allen seinen Gliedern zu verwirklichen. — Diese Perioden also nehmen wir als die Grundlage für die äußere Teilung des Gesamtgebietes der Kulturgeschichte, während die Organe ihre, innere Gliederung bedingen. —

Nachdem wir so den Inhalt unserer Wissenschaft bestimmt, ihre Grenzen anderen Wissenschaften gegenüber festgestellt, die Methode ihrer Darstellung, die Grundsätze ihrer inneren Gliedern, und äußeren, Einteilung besprochen haben, wiederholen wir zum Schluss den oben ausgesprochenen Satz, dass die entwickelte Kulturgeschichte die umfassende Selbsterkenntnis des Volkes ist die, Erkenntnis aller seiner Organe, deren Lebensäußerungen und der zu diesen Lebensäußerungen notwendigen Bedingungen. Mit solcher Selbsterkenntnis des Volkes fallen von selbst alle jene Geschichtsanschauungen, die, auf die Erkenntnis einer Seite des Volkes auf die Hervorhebung einzelner Organe sich stützend, den minder beachteten oder ganz geleugneten Organen, nur zu einem sehr verkümmerten Leben die Möglichkeit zu schaffen, gedenken und dadurch dem Wohl des Volkes hindernd entgegentreten. Die naturalistische Geschichtsanschauung, der wir so oft in den Schriften der, Gegenwart begegnen und die, indem sie das Volk den Gesetzen seiner physischen Natur ganz unterwirft, alle selbstbelebende Kraft in ihm leugnet und das mit Willensfreiheit Begabte den willenlos der Natur unterworfenen Geschöpfen gleichstellt, erscheint jetzt, in ihrer Einseitigkeit. Jene spirituelle Geschichtsanschauung, welche die zwingende Macht der physischen Natur gänzlich verkennt und geängstigt von dem nie weichenden Gespenste der Unzulänglichkeit alles Menschlichen in das Reich der Abstraktion mit übereilter Flucht sich rettet, leidet nicht minder an Einseitigkeit wie die ersteren, und ist, indem sie die natürliche Grundlage des Volkes missbildet statt zu bilden, unterdrückt, statt ihr Gebiet gesetzmäßig zu bestimmen, in ihren Folgen so schädlich wie jene. Jede Sünde wider sich selbst rächt sich und eine Sünde wider sich selbst begeht, wer einen Teil seiner Fähigkeit vernachlässigt oder unterdrückt. — Der Mensch hat die Kraft durch die Heiligung seiner ethischen Kräfte zwar nicht die Macht der physischen Natur aufzuheben, doch soweit zu beherrschen, dass sie der freien Entfaltung der edleren Organe nicht hindernd entgegentritt, sondern fördernd dient. Dieselbe Kraft ward dem Volke. In ihm selbst waltet, was es belebt und was allen Zwang der Physischen Natur in seine Schranken zurückzuweisen vermag. Freilich hat die ihn umgebende und seine eigene physische Natur einen bildenden Einfluss auf sein organisches Leben und am wenigsten die Kulturgeschichte darf diesen Einfluss jemals, übersehen; doch jene Momente sind nicht die allein bildenden. Aus seinem Inneren heraus quillt dem Volke in unerschöpfter Fülle, was trotz jener die bildende Herrschaft behauptet; seine ethischen und rein geistigen Kräfte sind das Belebende und Wesentliche seiner Natur. Die Gesundheit der Organe hier bedingt das richtige Verhältnis und die strenge Begrenzung dort. Diesen Organen daher jedes Hemmende zu räumen, jedes Fördernde zu stützen, dass sie in ununterbrochener kräftiger Lebenstätigkeit in einander greifen, ist die erste Aufgabe des Volkes und Aller, die die Sorge für das Volk zu ihrer Lebensaufgabe gewählt haben.
[Seite 30 des Originals fehlt]
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsche Kulturgeschichte
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