Erste Fortsetzung

Wenn wir den Gedanken, dass die Gegenwart des deutschen Volkes eine Zeit des Zurückschauens, des sich selbst Erforschens und Erkennens sei, häufig ausgesprochen finden, so scheint uns dieser Gedanke erst durch das Studium der Kulturgeschichte seine volle Wahrheit zu gewinnen. Die Erkenntnis des Einzelnen wie des Volkes ist nicht allein die Erkenntnis des in Tat und Lebensformen geoffenbarten Willens; die erste Bedingung dazu ist, die ganze Persönlichkeit in der Summe ihrer organischen Kräfte zu erfassen und aus dem Zuständlichen das diese Zustände Erzeugende, also die ganze ruhende Fülle der innerlichen Begabung eines Volles in ihrer organischen Gliederung zu bestimmen. Jedes Zuständliche entspricht einer geistigen Kraft des Volkes, ohne die jener Zustand nicht möglich ist, und die wieder jenes Zustandes bedarf, um sich äußern zu können. In der Gesamtsumme seiner Kulturzustände ist das Voll nach strenger Gesetzmäßigkeit von der inneren Möglichkeit zu der äußern Wirklichkeit übergegangen. Die Anschauung also dieser Zustände in ihrem ganzen Umfange zur Zeit der Vollentwicklung des Volkes gibt uns das umfassende, nach allen Richtungen hin charakterisierte Bild des Volkes als einer Person mit eigentümlicher, scharf ausgesprochener Begabung. Die Geschichte dieser Zustände gibt jene Anschauung als Resultat und lehrt zugleich die Bedingungen kennen, deren das Volk bedarf, um nach allen Richtungen hin seinen Organismus entfalten zu können. In seiner Kulturgeschichte also erkennt das Volk sich selbst in Beziehung auf sich selbst.

Hieraus ergibt sich die Bedeutung der Wissenschaft und ihr Inhalt. Durch sie wird eine Psychologie des deutschen Volkes angebahnt, wie wir sie noch nicht haben und doch nicht entbehren können, denn ohne diese Psychologie des Volkes ist ein sich bis in das Kleinste sorgfältig und zweckgemäß verbreitendes Ausbauen seiner Lebensformen so unmöglich wie eine die ganze Entwicklung aller seiner organischen Kräfte vollständig umfassende Geschichtsschreibung. Herder, da er als Jüngling eine Reise um die äußersten Grenzen Deutschlands machte, hatte in seinem reich organisierten, schöpferischen Geiste die Vorahnung einer solchen organischen Geschichtsschreibung und zeichnet mit geistreichen Zügen das Kunstwert im Umriss. Freilich konnte der Mann, nach dem damaligen Stand der Wissenschaft und dem Geiste der Zeit, dem sich kein bedeutender Mann entzieht, solches Werk im Ganzen nicht ausführen, doch wie sehr diese Ahnung aus der Tiefe seines eigentümlichen Geistes emporschoss, beweist die Liebe, welche er für die Kulturzustände der Völker sein Leben hindurch bewahrte, beweist auf das Schlagendste sein Bemühen um das Volkslied, dessen schöne Früchte die Gegenwart noch genießt. E. M. Arndt in seiner vergleichenden Völkergeschichte hatte im Hintergrund als leitenden Gedanken gewiss eine Psychologie des deutschen Volles, von der freilich in diesem Werte uns nur Einzelzüge im Vergleich und Gegensatz zu anders organisierten Völkern gegeben werben. Riehls ebenso originelle wie geistreiche Naturgeschichte des Volkes dient in ihren letzten Resultaten diesem Ziele.


Wenn wir die deutsche Kulturgeschichte die Geschichte des Gesamtorganismus des Volkes genannt haben, so ist schon aus diesem Namen ihr Inhalt mit Klarheit zu bestimmen. Das nur Physische des Volkes gehört, wie das des Einzelmenschen, in das Gebiet der Naturgeschichte; das Physische aber, insofern es unter der Herrschaft des Geistes steht, von diesem seine Zweckbestimmung erhalt und als ein durch die Willenskraft belebtes Organ in das Werden des Ganzen eingreifen lernt, gehört der Kulturgeschichte. Der Mensch gebraucht unter der Leitung des Verstandes seine physischen Kräfte zunächst zum Anbau des Erdbodens, um die Rohprodukte als die ersten und notwendigsten Lebensbedingungen zu gewinnen. Dieser Anbau des Erdbodens mit seinen Abzweigungen, dem Gartenbau, Weinbau, der Forstkultur, dem Bergbau, der Viehzucht usw. mit ihrer allmählichen Entwicklung, mit den Gewohnheiten und Formen, die der Mensch während der Ausübung jener um sich erschafft, mit dem Einfluss, den sie rückwärts auf die Bildung der Lebens- und Denkweise der Ausübenden äußern, gehört zur Kulturgeschichte. — Von der Gewinnung der Rohprodukte geht der Mensch über zu deren Verarbeitung und erreicht dadurch eine höhere Stufe der Kultur. Von der rohesten Art des Zermalmens der Körner, von der ungeschicktesten Zusammenfügung der Häute, der plumpsten Bearbeitung des Holzes zu Haus und Hausgeräte, bis zu der technisch wunderbar vollendeten Gewerbetätigkeit unserer Zeit durchläuft hier die Entwicklung eine unendliche Reihe von Punkten und Stufen, und dieses ganze Gebiet mit seiner eigentümlichen, durch dasselbe bedingten Gesittung, mit seiner stets charakteristisch hervortretenden Rückwirkung auf die Gewerbetreibenden fällt ebenfalls in die Geschichte der Kultur. — Die Gewerbetätigkeit ist die Mutter des Handels, dieser die vornehmste Triebkraft zur Entwicklung jener. Auch hier zeigt sich vom einfachen Austausch der rohesten Erzeugnisse bis zu den durchgebildeten Handelsverhältnissen unserer Zeit eine reiche Kette von Entwicklungen, und eben so charakteristisch wie das Gewerbe und der Anbau des Erdbodens gibt der Handel Anstoß zu einer eigentümlichen Sitten- und Gedankenbildung im Volke. Zugleich gibt er in seiner höheren Entwicklung die erste Veranlassung zu der geistigen Bildung des Volkes, die nicht in seinen materiellen Interessen ihre unmittelbare Zweckbestimmung erhält. In dieser Entwicklung des Handels und seiner Rückwirkung auf das Volk sehen wir einen Teil der Kulturgeschichte. — Jedes Volk wie der Einzelne bedarf, um das zu seinem Wohlbefinden, d. i. zu der ungehinderten Entfaltung seines Organismus, notwendige Gefühl der Sicherheit und der Selbständigkeit zu haben, der Kraft des Selbstschutzes. Dieses Gefühl der selbstbeschützten Sicherheit darf jedoch kein erträumtes sein, noch das Resultat der Kraftlosigkeit der Nachbarn oder der Gegner, sondern das Bewusstsein der eigenen wehrhaften und zur Abwehr auch des unerwarteten Gegners bereiten Kraft. Die sichere Grundlage dieses Bewusstseins bildet des Volkes Kriegswesen. Dieses Kriegswesen, d. i. also, die zum Selbstschutz organisierte, bewehrte physische Volkskraft, mit seiner Entwicklung von den rohesten Anfängen bis zu der kunstreichen Ausbildung der Gegenwart, mit der Art seiner verstandesmäßigen Leitung, der Anregung, die es auf das Volk zur Bildung eigener Wissenschaften ausübt, und seinem sitten- und charakterbildenden Einfluss gehört der Kulturgeschichte.

Nachdem wir so des Volkes Organe, die in seinen materiellen Interessen ihre Zweckbestimmung finden, im Umriss gezeichnet haben, gehen wir zu den Organen über, durch die das Volk sein ethisches Leben aus sich heraus verwirklicht. Der Einzelne wie das Volk, je mehr sie ihr materielles Wohl festgestellt sehen, fühlen die Macht des Gesellschaftstriebes, teils um zum Vollgenuss physischer Kräfte und materieller Errungenschaften zu kommen, teils um den tieferen Bedürfnissen des Gemüts und des Geistes Genüge und den edleren Kräften den Spielraum zu schaffen, sich durch Tat äußern zu können. Die Familie erkennen der Mann wie die Frau als unentbehrlich zum physischen Wohl des Einzelnen und des Ganzen und zugleich als die erste und notwendigste Bedingung edlerer Willensäußerung. Im Familienleben zuerst erhält der menschliche Wille eine nicht in der Sorge um das Physische allein aufgehende Richtung. Der Mensch lernt sich hier zuerst als ein mit gleichgearteten Geschöpfen zu inniger notwendiger Gemeinschaft verbundenes Glied erfassen und indem er sich nur durch die Hilfe der Familie zum selbständig handelnden Manne erwachsen sieht, erkennt er es als Pflicht, mit derselben Hilfe Nachwachsenden zur Seite zu stehen, und wird dadurch gezwungen, seine Willenskraft im ethischen Handeln zu entfalten. Als Pflegerin des physischen Wohles des Einzelnen wie des Volkes schließt sich die Familie an die oben bestimmte Gruppe, als Organ des ethischen Gesellschaftstriebes bildet sie den Anfang einer neuen. Zu allen Zeiten und in allen Ständen haben die Familie und das Familienleben ihre besondere Formen, Gewohnheiten und Meinungen erzeugt. Dieses im gleichen Schritte mit dem Werden und Wachsen des Volkes zu entwickeln, die Wechselwirkung zwischen diesem Organe und dem organischen Leben des Volkes überhaupt nachzuweisen, übernimmt die Kulturgeschichte. —

Aus dem Zusammenleben der Familie, entwickelt sich die Gemeinde und das Gemeindeleben. Die Familie schon, durch eine naturgemäße Unter- und Nebenordnung ihrer Glieder, dient, das Recht zur Tat zu machen, das Recht unter wenigen; noch mehr dient dieses zu verwirklichen, die Gemeinde. Es will jeder in dem, was er hat, gesichert, bei dem, was er übt, geschützt sein, damit er jenes genieße, dieses zu seinem und der Seinigen Wohl weiter übe. Dass ihm nicht der Nächste in beiden, mehr als gebührlich beeinträchtige, verpflichtet er sich den Nächsten das Ihrige zu lassen und zu schützen, unter der Bedingung, von ihrer Seite stets gleicher Pflichterfüllung gegen sich versichert zu sein. Dieser gegenseitige, unentbehrliche Pflichtenverband bildet die Gemeinde; ihr Ziel und ihre Frucht ist die Freiheit des Einzelnen mit notwendiger Beschränkung derselben zum Nutzen der Freiheit des Andern. Die Familie sorgt für ihre Glieder, die für sich selbst zu sorgen noch nicht oder nicht mehr fähig sind; die Gemeinde tritt ergänzend ein, wo der Familie nach ihren beschränkten Kräften diese Sorge unmöglich wird. Für ein angemessenes Wohl jedes Gemeindegliedes, auch dessen, das sich selbst dieses Wohl zu verschaffen unfähig ist, zu sorgen, ist die Pflicht der Gemeinde. Die mit seinen Kräften übereinstimmende Tätigkeit des Einzelnen und die Sorge der Gemeinschaft dieser Einzelnen für die Sicherung und Ergänzung dieser Selbsttätigkeit sind die Hauptelemente des Gemeindelebens. Wie sich das deutsche Gemeindeleben aus dem Innern des deutschen Volkes heraus in reicher Gliederung und mannigfaltiger Gestaltung, mit eigentümlicher Gesittung, Gewohnheit und Rechtsform, in steter lebendiger Wechselwirkung zu dem Gesamtleben des Volkes herausbildet und fortentwickelt, lehrt die Kulturgeschichte.

Aus dem Gemeindeleben entwickelt sich der Staat, als das Organ, durch welches sich das Volk als ein zusammengeschlossenes, klar und bestimmt nach außen begrenztes, nach innen geordnetes Ganze darstellt. Der Staat wacht über die Familie, aber er schafft nicht die Familie; er sorgt, dass jedes Hindernis verschwinde, was die Familie beschränkt oder aufhebt, er verhütet das Ausschweifen des Familienlebens, aber er gibt nicht die Gesetze, nach denen sich die Familie bilden und darstellen soll. Die Familie, indem sie sich selbst die notwendigen Gesetze ihres Darlebens gibt, ist dem Staate gegenüber im Innern selbständig. Derselben Selbständigkeit dem Staate gegenüber bedarf das Gemeindewesen. Dass es in möglichster Blüte sich entfalte und nach richtigen inneren Gesetzen sich bewege, vermag nicht der Staat als solcher zu bewirken, sondern einzig und allein der Bildungszustand der Glieder, die zu einer Gemeinde vereinigt sind. Doch der Staat fördert das Gemeindeleben durch Wegräumung der Hindernisse, verhütet sein Ausschreiten nach innen und außen, ergänzt die Kräfte der Gemeinde, wo diese zur Ausübung notwendiger Pflichten nicht hinreichen, regelt die Verhältnisse der Gemeinde unter einander und hält ihre nach innerer Gesetzmäßigkeit gegliederte Verbindung aufrecht. Er ist also der Ausdruck des Volkes als einer Persönlichkeit, das Organ, durch welches das Volk als Volk seinen Willen äußert in Beziehung aus sich und im Gegensatz zu andern Völkern. Des Staates Bestimmung also ist, die Einzelorgane des Volkes in gesetzmäßigem Gleichgewichte zu einander zu erhalten, jedem einzelnen die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, sobald es nicht stark genug ist, sich die zu seiner Entfaltung notwendige Freiheit selbst zu erringen, und zugleich das gesetzmäßige Verhältnis jedes Organes zum Ganzen und des Ganzen zu jedem seiner Organe zu bewahren. Als solches Organ des Volkes bildet es einen wesentlichen Teil der Kulturgeschichte.

Neben Familie, Gemeinde und Staat finden wir im Laufe der Geschichte die allmähliche Herausbildung von Organen, die nicht die Verwirklichung des Rechtes und der Freiheit der Einzelnen und des Ganzen im gegenseitigen Verhältnisse, sondern eine viel beschränktere Grundlage und Zweckbestimmung zum Ziele haben. Jeder Beruf, d. i. jedes tätige Hingeben des Einzelnen an ein Organ des Volkes zu seinem und des Ganzen Wohl, bildet einen besonderen Stand, von denen jeder auf eigentümliche Weise sitten- und charakterbildenden Einfluss auf das Volk ausübt. Die Stände sind nicht Organe des Staates, sondern des Volkes, dessen Organ der Staat ist. Sie sind die Schichten, die neben einander gelagert des Volkes Masse bilden. Das richtige Verhältnis unter diesen Schichten herzustellen und zu erhalten, ist teils das Resultat der Lebenstätigkeit dieser Stände selbst, teils die ergänzende Aufgabe des Staates. — Jeder Stand strebt wieder nach einer, seinem Wesen angemessenen Gliederung, deren Grundlage durch den Stand selbst bedingt ist. So zerteilt sich der Gewerbestand nach den verschiedenen Gewerben in eben so viele verhältnismäßig selbständige Glieder. Diese durch den Stand selbst bedingte Gliederung desselben ist das Genossenschaftswesen. Auch hier zeigt unsre Geschichte eine Reihe der Mannigfaltigsten Entwicklungen, die die Kulturgeschichte mit Recht in ihr Bereich zieht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsche Kulturgeschichte
015 Frauenreise

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016 Tanzfest bei Hofe

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017 Ständchen

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018 Mysterienspiele

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019 Ritter-Turnier

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020 Ausritt zur Jagd

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021 Armbrustschießen

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022 Zweikampf im Ring

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023 Burginneres

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024 Belagerung einer Burg

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025 Gelehrtenstube

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028 Alchimist

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030 Waffenschmiede

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031 Rathausdiele

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032 Gerichtssitzung

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034 Hafen mit Hanseschiff

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035 Hirtenleben

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