Dritte Fortsetzung

Die Kunst erschaut im Leben des Volkes das Schöne und stellt es als Schönes dar, das Wahre in demselben zu erforschen und auszusprechen, ist die Aufgabe der Wissenschaft. Auch sie ist aufs Innigste mit jedem Organe des Volkes und dem Gesamtleben derselben verbunden und erhält von ihnen stufenweise wertvollere Beiträge ihrer Bildung. Das Gewerbe, der Handel, der Staat und die Kirche, sobald sie sich als ein Wissen vom Gewerbe, vom Handel, von Staat und Kirche darstellen, geben eine Grundtage, aus der bei fortgesetzter Ausbildung eine abgerundete organisch gegliederte Wissenschaft sich entwickelt und wiederum dient die Wissenschaft bereitwillig jedem Organe zu seiner Lebensentfaltung. Kein Organ ist ohne eine bestimmte, ihm dienende Einzelwissenschaft der höchsten Ausbildung fähig und die edelsten Organe haben ohne die vollendete Wissenschaft nur ein sieches Dasein. Dennoch irrt man, sieht man in ihrer Abhängigkeit von den Einzelorganen und in ihrer Anwendung auf dieselben ihren alleinigen und höchsten Zweck. Die Wissenschaft in ihrer Vollendung hat unabhängig und selbständig ihren letzten Zweck in sich selbst. Nicht der Staat noch die Kirche bestimmen die Grenzen ihrer Lebensäußerungen, sie hat keine Begrenzung als durch die Wahrheit und diese offenbart sich ihr nur unabhängig von jedem anderen Zweck. So lange die Wissenschaft bemüht ist durch die Sprache die Resultate ihrer Forschung, ohne die Absicht, eine bestimmte Tat zu erzeugen, darzustellen, ist jede Beschränkung, die nicht durch sie selbst ihr auferlegt wird, gewaltsam und ein unbilliger Zwang. Die Wissenschaft als die Lehre vom Wahren ist frei in der Forschung und der Darstellung und ihr Irrtum ist kein Verbrechen, das verfolgt und bestraft werden muss, sondern ein Mangel, der nur durch sie selbst in ihrer weiteren Ausbildung beseitigt und gebessert werden kann. Wenn die Wissenschaft taterzeugend in das selbständige Leben anderer Organe eingreifen will, dann erst haben diese das Recht ihr Eingreifen nach den eigenen Gesetzen zu prüfen und ihm Widerstand zu leisten oder, so weit ihre Zwecke dadurch gefördert werden, es zuzulassen. Erst die übergreifende Wissenschaft darf auf ihr Gebiet, aber nur auf dieses, zurückgewiesen werden; mit demselben Recht wie die anderen Organe verlangt sie, dass man ihr inneres Leben ungeschmälert lasse. Wie der Staat im Volke das Bewusstsein seines staatlichen Zusammenhanges mit den übrigen Völkern, wie die Kirche das Bewusstsein der höchsten und innigsten Gemeinschaft mit dem Weltganzen und dem das Weltganze durchwaltenden Gotte lebendig erhält, wie auch die Kunst auf ihrer Höhe das Volk über sich selbst zum Bewusstsein des menschlich Schönen emporschwingt, so ringt sich auch die Wissenschaft in ihrer Vollendung von dem Boten des Einzelvolkes los und wird der Ausdruck der allgemeinen, Alles umfassenden Wahrheit. Dieses vom ersten Keim beginnende allmähliche Wachsen der Wissenschaft bis zu ihrer Vollendung im innigsten Zusammenhange mit dem Leben des Volles zu erforschen und darzustellen, ist eine der bedeutsamsten Aufgaben der Kulturgeschichte.

Nachdem so als der Inhalt der Kulturgeschichte das organische Leben des Volkes in seiner Gliederung festgestellt worden ist, wollen wir versuchen, das Verhältnis, dieser Wissenschaft zu den anderen historischen Wissenschaften zu bestimmen, und wenn nicht jede Grenzlinie, doch die Grundsätze aufzusuchen, nach denen jene leicht gezogen werden können. — Jede Wissenschaft, die den Menschen und seine geistige Entwicklung nach irgend einer Richtung hin behandelt, ist auf das Engste mit der Kulturgeschichte verbunden und erhebt sich erst von ihr aus zu einer selbständigen Ausbildung. Die Kulturgeschichte ist der Stamm, die übrigen historischen Wissenschaften sind Zweige, Jeder Zweig bat sein relativ selbständiges Leben, seine Gestalt und Gliederung und ist dennoch wieder mit dem Stamme zu einem organischen Ganzen verwachsen. Der Zweig, im Stamme wurzelnd, erhält von ihm die Kraft sich nach feiner eigentümlichen Anlage zu entfalten; jede historische Wissenschaft verliert ihre Lebensfähigkeit, sobald sie aufhört, die Kulturgeschichte als den Boden, der ihren Wurzeln Nahrung gibt, zu betrachten.


Die Landwirtschaft mit ihren verschiedenen Abzweigungen hat ihre Geschichte und ihre theoretische Wissenschaft und ist dennoch ein wesentlicher Teil der Kulturgeschichte. Wie ihre erste Entwicklung notwendig aus den ersten Kulturzuständen des Volkes emporschießt, wie die fortschreitende Entfaltung der übrigen Volkskräfte erleichternd und fördernd auf sie einwirkt, wie sie selbst immer größeren Einfluss rückwärts auf die Charakterbildung des Volkes gewinnt, die Bedingung einer eigentümlichen Sitte, eines besonderen Standes und zu bestimmten Zwecken zusammengeschlossener Vereine wird, — dieses sind kulturhistorische Elemente. Freilich berücksichtigt dieselben Momente auch die Geschichte der Landwirtschaft, doch nur als Ausgangspunkte. Weitergebend untersucht diese, wie sich nach eigenen notwendigen Gesetzen die Landwirtschaft entwickelt, wie sie aus Unkenntnis und Vernachlässigung derselben in ihrer Entwicklung zurückbleibt, durch ihre Befolgung vorwärtsschreitet; sie vergleicht die Landwirtschaft des einen Volkes mit der des andern, sucht von dort hierher, von hier dorthin fördernde Beziehungen und benutzt die durch andere Wissenschaften gewonnenen Resultate, Verbesserungen der üblichen Landwirtschaft anzuregen.

Die Kulturgeschichte weist nach, wie allmählich im Volke das Bedürfnis des Warenumtausches sich geltend macht, wie mit der steigenden Entwicklung des Volkslebens dieser Umtausch geordneter und mannigfaltiger wird, bis ein geregelter, die gesamte Werktätigkeit des Volkes umfassender Handel sich gebildet hat; sie weist nach, wie die Form und die Gesetze dieses Handels sich notwendig aus dem Leben des Volkes heraus gestalten mussten und die Übung des Handels wieder rückwärts auf das Volk und sein organisches Leben charakter- und sittenbildenden Einfluss übt. Die Geschichte und die Wissenschaft des Handels fasst diesen als ein für sich bestehendes und nur in den Wurzeln mit dem Volksleben zusammenhängendes Ganze, stellt aus seiner Entwicklung die Gesetze fest, nach denen er sich entwickelt, sucht die Ausübung dieser Gesetze durch die Wegräumung hindernder Gewohnheiten oder Vorurteile zu fördern, weist die Verzweigung des Handels eines Volkes mit dem anderer, Völker nach und sucht aus der Handelssitte das Handelsrecht als die notwendige und unter jeder Bedingung zu verwirklichende Rechtsform dieses Kulturzweiges der Menschheit festzustellen.

Der Gesellschaftstrieb des Volkes mit seinen Organen bildet einen wesentlichen Teil der Kulturgeschichte und zugleich die Grundlage selbständiger vielgegliederter Wissenschaften. Wie dieser Trieb, um seine Organe entfalten zu können, allmählich die Rechtssitte und Rechtsgewohnheit schafft, wie das ganze Volk nach der Beschaffenheit seines Wohnortes, nach dem Stammescharakter, nach der Eigentümlichkeit hervorragender Persönlichkeiten in bunter Mannigfaltigkeit an diesem Rechtsleben Teil nimmt, wie es in fortlaufender Entwicklung vom rohesten Brauch bis zu der systematisch geordneten Rechtsform des entwickelten Volkes sich feststellt, schildert die Kulturgeschichte. Die Wissenschaft vom Rechte dagegen übersieht in keinem Augenblick, dass sie kritikübend sein muss. Wenn, sich die Kulturgeschichte begnügt, zu sagen: „Dieses ist und weil es so ist, muss es so sein —", so behauptet die Rechtswissenschaft: „es darf nur sein, wenn es Recht ist.“ Sie untersucht also durch Vergleich mit dem Rechtsleben anderer Völker und durch Hilfe des abstrakt verfahrenden Verstandes, was das Wesentliche des Rechtes ist und in diesem gründend, durchforscht sie das Leben des eigenen Volkes, um zu erfahren, wie weit jenes Recht in demselben Tatsache geworden ist. Die Kulturgeschichte folgt mit Teilnahme dem, Prozess, durch welchen sich das Leben des Volkes nach den aus seinen eigenen Tiefen emporschießenden Gesetzen des Rechtes mit den mannigfaltigsten Abweichungen kristallisiert. Jede Abweichung ist ihr ein bedeutsames Moment, der Rechtswissenschaft erst dann, wenn auch nicht das Kleinste in derselben der Verwirklichung des Rechtes im Wege steht. Die Rechtswissenschaft betrachtet das Leben des Volles als das Mittel, das Recht zur Realität zu machen, die Kulturgeschichte das Recht als ein Mittel, das flüssig und bildsam in der mannigfachsten Form dienen muss, die Entwicklung des Volkslebens zu fördern; jene sucht in der Mannigfaltigkeit die Darstellung des Einen, Untrennbaren, diese stellt das Eine dar als ein durch das Volksleben unendlich mannigfach Gestaltetes. —

Hinsichtlich des Staates untersucht die Kulturgeschichte, wo zeigen sich im Volke die ersten Äußerungen dieses Organes, unter welchen Einflüssen entwickelt es sich zu tätigerem Leben, wie weit nimmt das ganze Volk an der Formenbildung desselben Teil, wo hemmt oder fördert ein Fremdes oder Einheimisches, was ist endlich, wenn das Organ in seiner Selbstdarstellung einen Abschluss gewonnen hat, wirklich aus der Natur des Volkes emporgeschossen, was gewaltsam oder mit List oder aus freier Wahl in diese Form aufgenommen. Die Wissenschaft vom Staate sucht aus der staatlichen Entwicklung des Volkes vor allem die Vorstellung der Staatsform als ein, Abstraktum zu gewinnen. Wie die verschiedenen Volkskräfte in einander griffen um einen Abschluss möglich zu machen, ist ihr mehr oder minder gleichgültig; ihr gilt nur das Resultat und dieses nur, so weit es zur Entwicklung der als notwendig erkannten Staatsform beigetragen hat. Die Kulturgeschichte folgt mit Spannung jedem Ringen des Volksgeistes nach der staatlichen Selbstdarstellung, die Rechtswissenschaft heißt nur die Volksbewegung willkommen, deren Errungenschaften in Übereinstimmung mit dem schon Gewonnenen die weitere Ausbildung der einzig möglichen Staatsform fördern. Die letzte Entwicklung derselben betrachtet sie als eine Tat des gesamten Geschlechtes und strebt sie auch mit dem durch andere Völker gewonnenen Resultate im eignen Volke zu erleichtern; die Kulturgeschichte sieht in jedem Fremden zunächst ein Feindliches und begrüßt es auf heimatlichem Boden erst dann, wenn der Volksgeist es zu seinem Eigenen umgewandelt, hat. Die Wissenschaft vom Staate sucht jede Volksbesonderheit jener einzig möglichen Staatsform zu unterwerfen, die Kulturgeschichte hebt das dem Volke Eigentümliche als das Hauptsächlichste hervor und verlangt, dass diesem Besonderen gegen das Allgemeine sein Recht gewahrt werde und dass das Allgemeine sich umwandle, sobald die Eigentümlichkeit des Volkes von demselben gefährdet wird. Die Wissenschaft vom Staat nimmt also das Volk als ein Individuum, das sich nach der Staatsform bildet, die Kulturgeschichte diese als ein Erzeugnis, das nach den Gaben und den Gesetzen seiner Natur mit freier Selbsttätigkeit das Volk aus sich herausbildet.—
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsche Kulturgeschichte
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Calendarum 1-6

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Calendarum (Ambraser Sammlung zu Wien N. 116)

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Mittelalter, Kostüme, zirka 1320

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Mittelalter Miniaturen aus der Biblia Pauperum 1-2

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Mittelalter Miniaturen aus der Legenda Aurea von 1362

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Mittelalter Miniaturen aus der Weltchronik

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Mittelalter zirka 1320 Kostüme, Glasgemälde der Klosterkirche zu Königsfelden (1-4)

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Mittelalter zirka 1320 Kostüme, Glasgemälde der Klosterkirche zu Königsfelden (5-7)

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