Fünfte Fortsetzung

Wer aber hat sich in diesem Weltkrieg am tiefsten und schwersten gegen den kolonialen Gedanken versündigt: Wer hat der weißen Rasse unermesslichen Schaden, vielleicht unersetzbaren Schaden wegen kurzfristigen Kriegsgewinnes in Afrika zugefügt? Es ist England. Die Kongoakte, feierlich unterzeichnet durch Deutschland, Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Portugal, Russland, Schweden und Norwegen, Spanien, Türkei, Vereinigte Staaten von Amerika, Kongostaat und Sansibar, bestimmte in ihrem Artikel 11:

„Falls eine Macht, welche Souveränitäts- oder Protektoratsrechte in den im Artikel 1 erwähnten und dem Freiheitssystem unterstellten Ländern ausübt, in einen Krieg verwickelt werden sollte, verpflichten sich die Hohen Teile, welche die gegenwärtige Akte unterzeichnen, sowie diejenigen, welche ihr in der Folge beitreten, ihre guten Dienste zu leihen, damit die dieser Macht gehörigen und in der konventionellen Freihandelszone einbegriffenen Gebiete, im gemeinsamen Einverständnis dieser Macht und des anderen oder der anderen kriegführenden Teile, für die Dauer des Krieges den Gesetzen der Neutralität unterstellt und so betrachtet werden, als ob sie einem nichtkriegführenden Staate angehörten. Die kriegführenden Teile würden von dem Zeitpunkt an darauf Verzicht zu leisten haben, ihre Feindseligkeiten auf die also neutralisierten Gebiete zu erstrecken oder dieselben als Basis für kriegerische Operationen zu benutzen.“


Wer hat diesen feierlichen internationalen Vertrag in Fetzen zerrissen? England. Katholische und protestantische Missionare legten bereits im ersten Vierteljahr des Krieges feierliche Verwahrung gegen diesen Völkerrechtsbruch ein. Wie weit aber der Völkerrechtsbruch ging, das gesteht der Bischof von Sansibar, den Evans Lewin als Kronzeugen anführt, in seinem offenen Brief selbst ein, in dem er schreibt: „Tausende von eingeborenen deutschen Untertanen dieser Kolonie wurden von Großbritannien als Träger zur Front in Dienst genommen. Sie halfen unseren Streitkräften, ihre früheren Herren töten oder gefangen nehmen, Großbritannien nahm diese Menschen in Dienst, weil es ihrer bedurfte.“

Die rücksichtsloseste Verletzung der Kongoakte wird also von dem englischen Kronzeugen selbst zugegeben, und nur eine Berechtigung für dieses Europa so schwer schädigende Treiben kann dieser Kronzeuge angeben: Englands Egoismus. „Weil es ihrer bedurfte“. Kein Rechtssatz, keine moralische Forderung, sondern krasser Egoismus, ein Teil von jenem Egoismus, der die englische Politik dazu treibt, ganz Afrika unter englische Vormundschaft zu stellen, damit neben Australien noch ein zweiter Erdteil England ausschließlich zur Verfügung steht. So hat England den „Militarismus“ in den schwarzen Erdteil eingeführt.

Wie aber hat England während des Krieges in Ost-Afrika Kultur getrieben? Der „Norddeutschen Allgem. Zeitung“ (Nr. 442, vom 30. August 1918) liegt ein ausausführlicher Bericht über die Zustände vor, wie sie sich bis zum Ende des Jahres 1917 in Deutsch-Ostafrika unter der englisch-belgischen Besetzung entwickelt haben. In dem Bericht heißt es u. a.:

„Der Krieg räumt unter den deutsch-ostafrikanischen Eingeborenen erschreckend auf. Genickstarre, Schlafkrankheit, Pocken wüten überall. In Urundi herrscht eine Seuche, deren Natur den Ärzten noch unbekannt ist. Die Eingeborenen kommen am Morgen noch frisch zum Markt, fangen plötzlich an zu taumeln und sind meist abends tot. . . .

Wie ich amtlich erfahren habe, ist der Trägerverbrauch besonders der Engländer ein ungeheurer. 30.000 tote Träger ist der Monatssatz der beiden Verbündeten. Einen Teil tragen Britisch-Ostafrika, Portugiesisch-Ostafrika, der Kongo. Die größere Anzahl stammt aber aus Deutsch-Ostafrika. Ich habe krank zurückkehrende Träger in großen Scharen gesehen, die wohl nie wieder gesundwerden. Deutsch-Ostafrika wird durch den Krieg so vollkommen ruiniert, dass es fraglich ist, ob es wieder hochgebracht werden kann. Dazu kommt, dass nahezu alle den Deutschen gehörigen Pflanzungen verkommen, Auch hier muss von vorn angefangen werden. . . .

Das rollende Material der Tanganj?ka-Bahn gerät, seit die Deutschen die Maschinen nicht mehr führen — sie wurden im Mai 1917 bei Beginn der neuen Offensive der Belgier von den Maschinen genommen, — in Verfall. Die Personen- und andere Wagen starren von Schmutz; obgleich genug Personal für alle Arbeiten vorhanden ist, geschieht nichts.“

Der Bericht verrät dann noch weiter, dass von den Belgiern in Massen Schlachtvieh aus Deutsch-Ostafrika nach dem Kongo geschafft wird und dass für dieses den Eingeborenen weggenommene Vieh nur ganz geringe Preise gezahlt werden. Weiter wird in dem Bericht auf das völkerrechtswidrige Verfahren der Engländer aufmerksam gemacht, Eingeborene aus Deutsch-Ostafrika, insbesondere frühere Askari und Diener der deutschen Beamten, Offiziere und Zivilpersonen, in die fechtende Truppe einzustellen. Mit Rücksicht auf das angekündigte englische Blaubuch über die angeblich schlechte deutsche Verwaltung in Ostafrika ist es nicht uninteressant, dass der Berichterstatter in seinem Bericht erwähnt, wie sowohl von belgischer als auch von englischer Seite in Deutsch-Ostafr?ka während des Jahres 1917 lügenhafte und den Tatsachen offensichtlich hohnsprechende Aussagen von Eingeborenen gesammelt wurden, insbesondere von solchen Eingeborenen, die Beziehungen zu den fremden, d.h. englischen, belgischen oder französischen Missionen hatten.

Die Strafe für diese Versündigung an der Kolonisation wird England selbst treffen — aber leider ganz Europa mit. Ein Weltinteresse liegt vor, die Ausführung dieser englischen Pläne zu verhindern und in Afrika allen kolonisatorischen Völkern Gleichberechtigung und freie Bahn zum Wohle der Eingeborenen und für die Förderung der europäischen Interessen zu gewähren.

Berlin, August 1918.
M. Erzberger, Mitglied des Reichstags.
[(1875-1921) Mitglied des Reichstags, Kritiker der Kolonialpolitik. Er beteiligte sich an der Aufdeckung mehrerer Kolonialskandale]