Interessen und Machtverhältnisse

In diesem gewaltigen Städtekranze sind nun Gemeinwesen der mannigfachsten Rechts- und Machtstellung: wenige reichsunmittelbare, die meisten einem geistlichen oder weltlichen Herrn in verschiedenster Weise untertan, zeitweilig fast völlig unabhängig, zu anderen Zeiten durch die Ungunst der Verhältnisse kraftlos unter die Landeshoheit gebeugt. Dem ungeachtet sind sie innerlich engverbunden durch gleiche, dem Slaven- und Dänentum entgegengestellte Interessen, durch gleiche Sitte, durch im Übrigen verwandte Rechtszustände. Früher als in den älteren Städten Oberdeutschlands verschwinden in diesen, meist von Freien gegründeten Kolonien die scharfen Gegensätze von Freiheit, Halbfreiheit und Unfreiheit, schmilzt die mannigfach abgestufte Ständewelt des Mittelalters zu einem harmonischen Ganzen, zu dem Stadtbürgertum, zusammen, in welchem die Arbeit zu Ehren kommt, Wohlstand und Bildung sich erzeugt, an dem sich das Staatsbürgertum und der moderne Staat langsam heranbilden. Das Verfassungs- und Privatrecht des alten westfälischen Soest, auf Lübeck übertragen, und zweckmäßig umgebildet, verbreitet sich als lübisches Recht durch das ganze Ostseegebiet; mehr im Westen herrscht das verwandte kölnische Recht; im Binnenlande und in Preußen gelangt das Stadtrecht von Magdeburg zur Herrschaft, — so werden die städtischen Gerichte namentlich von Lübeck und Magdeburg zu Oberhöfen, d. i. zu Zentralpunkten für das Rechtsleben dieser weiten Länderstrecken. Ein volksfreundliches Regiment der wesentlich kaufmännischen Aristokratie beginnt hier erst seit dem Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts sich gegen populäre Regungen in eine oligarchische Junkerherrschaft abzuschließen, und auch hier jene furchtbaren Kämpfe der ratsfähigen Geschlechter und der Zünfte zu erzeugen. — Die Sitten waren, nach Art der Zeit, rau und hart, doch diese Plumpheit und selbst Rohheit deckte einen Kern tatkräftigen Mannessinnes und sicherer Entschlossenheit, welche vor den schwersten Aufgaben nicht zurückschreckten. Kehrte der norddeutsche Kaufmann von seinen jährlichen Reisen, oder von langem Aufenthalte in den halbbarbarischen Niederlassungen des Nordens, den Weltmärkten Flanderns zurück, so brachte er in die Heimat ein gestähltes Herz und reiche Welterfahrung. Überall bestand ein wehrhaftes Bürgertum, wohl geübt, mit Spieß und Armbrust und dem langen Schwertmesser umzugehen. An den Übungen und den schönen bürgerlichen Waffenfesten nahmen auch die Zünfte, die ehrbaren Meister und Gesellen der Schuster- und Schneiderinnung, regen Anteil, — und überall galt der Spruch:

Wer zu Danzig will ein guter Bürger heißen,
Muss beyds auf Kaufmannschaft und Waffen sich befleißen.


Die Seeschiffe, die Koggen, welche schon im fünfzehnten Jahrhundert bis zu 300 Last groß gebaut werden, waren leicht in Kriegsschiffe umzuwandeln, viele zu diesem Zwecke eingerichtet, mit hohen turmartigen Kastellen: das sind die Holken, die Orlogs- oder Vredeschiffe, mit starker Bemannung, welche bis zu 400 Mann Besatzung steigt. An der Spitze des Bürgerheeres, wohl auch der teuren, unzuverlässigen Söldner, wie der städtischen Flotten stand meist ein Bürgermeister oder Ratsherr, aus jenem kernigen Geschlechte, welches, gleich den großen Handelsrepubliken Italiens, verschlagene Kaufmannschaft, reiche Erfahrung in städtischer und Weltpolitik, Tapferkeit und Umsicht im Kriegsgetümmel glücklich verband. Wie den glücklichen Führer Ehre und Ruhm lohnten, so gefährdete der im Kriege unglückliche Bürgermeister neben seinem Rufe auch Leben oder Freiheit. Nicht unfähige oder schlechte Männer allein haben in Lübeck, in Rostock, in Stralsund ihr Unglück mit dem Tode oder langer Gefangenschaft gebüßt.

Der gleiche Grundzug des niederdeutschen Bürgertums tritt nicht minder hervor in den monumentalen Denkmälern dieser Zeit, in den stattlichen Kirchen und prächtigen Rathäusern, in den glänzenden, seltsam ausgeschmückten Junker- oder Artushöfen, wo die hervorragenden Geschlechter und Gilden sich zu geselliger Unterhaltung und zu fröhlichem Spiel, wie zu ernster Beratung und zu Handelszwecken zusammenfanden. Diese hochgiebligen Häuser, nicht selten mit schöner Steinhauerarbeit verziert, die einfache, strenge und doch nicht unschöne Massenhaftigkeit der weltlichen und kirchlichen Prachtbauten, mahnen uns noch heute an den eigenartigen strengen Sinn jener Geschlechter, wie an die Fülle von Glanz und Reichtum, welchen die Meeresherrschaft verlieh. In der größten aller baltischen Kirchen, der Marienkirche zu Danzig, prangt als herrlichster Schmuck jenes berühmte Jüngste Gericht des flämischen Meisters Hans Mernling, welches einst im hansischen Seekriege gegen England der kühne Danziger Seeheld Paul Benecke mit seinem guten Schiffe „das große Kraweel von Danzig“ auf der reichen burgundischen Galeere zu anderen Schätzen erbeutet hat. —

So wiesen gleiche Sinnesart und Sitte, die gemeinschaftlichen Interessen des gesicherten Handels die freien Gemeinwesen Niederdeutschlands auf engeren Verband hin. Gleichwohl hat selbst hier, trotz der Ohnmacht des Kaisers und des Landesherrn, eine deutsche Hansa nur in Folge ganz eigengestaltiger Verhältnisse entstehen können. Nicht ein niederdeutscher Städtebund ist sie ursprünglich gewesen, sondern ein niederdeutscher Kaufmannsbund. Der in unserer Nation gleich mächtige Vereinzelungs- und freie Vergesellschaftungstrieb hat sich nicht genügen lassen an der Verbindung festgeordneter Gemeinwesen. Rastloser Tätigkeits- und Gewerbsdrang, und noch nicht erloschener Abenteurersinn hat den deutschen Kaufmann aus Wall und Mauer seiner Stadt an die Küste Englands, an die Märkte Flanderns und Brabants, aber auch weit hinaus getrieben in die raue, gesetzlose Welt des Nordens. Von dem gemeinen deutschen Kaufmann gegründet, entsteht hier ein weiter Kreis von Handelsniederlassungen, welche alsbald in engem, einträchtigem Zusammenwirken das deutsche Handelsnetz über die nördlichen Meere von Russland bis Flandern schlingen. Der Norden, noch wenig entwickelt, von einheimischen Fehden zerrissen, lieferte das reiche Pelzwerk, Wachs und Honig, Leder und Häute, in unermesslichen Meldungen: Holz, Asche, Teer, Pech, in großen Erzlagern das vielbegehrte schwedische Eisen, in unendlichen Herings- und Stockfischzügen die unentbehrliche Fastenspeise des mittelaltrigen Europa. Willig nahm er dafür die Industrieerzeugnisse Deutschlands, Korn und Bier, die Tuche und Leinen Flanderns, Brabants und Englands, das Salz von der Westküste Frankreichs, Spaniens und Portugals, die Weine vom Rhein und von Frankreich, die orientalischen und italienischen Waaren, die Seiden, Gewürze und Edelmetalle entgegen, welche vom Brügge'schen Stapel ihm zugeführt wurden.

Dieser deutsche Kaufmannsbund, auf seinen Niederlassungen wohlgeordnet, ist die deutsche Hansa in ihrer ersten und ursprünglichen Gestalt, Ausgangs- und Stützpunkt des späteren Städtebundes, während dessen Blütezeit der norddeutsche Handel weitere Wege aufsucht, von Island bis Portugal hin den Ozean befährt, von Finnland bis zur türkischen Grenze seine Verbindungen knüpft, im Salzburgischen Gebirge das Holz fällt, welches auf weiten Land- und Wasserstraßen die Weichsel hinab dem englischen Bogenschützen als Armbrust zugeführt wird. —
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsche Hansa