Die böse Stiefmutter

Autor: Wilhelm Busch (1832-1908), Erscheinungsjahr: 1910
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Meine Großmutter hat mir erzählt, es wäre mal eine kleine hübsche Dirne gewesen, die hat eine Stiefmutter und auch eine Stiefschwester gehabt. Die Stiefmutter ließ ihre rechte Tochter immer in schönen Kleidern gehen und that ihr alles zu Willen; sie brauchte auch gar nicht zu arbeiten; aber die Stieftochter mußte den ganzen lieben Tag draußen am Brunnen sitzen und Garn winden, daß ihr der Faden zuletzt die Finger ordentlich blutig schnitt. Davon hatte sie aber wenig Dank, mußte immer in lumpigem Zeuge gehen, und ihre Stiefmutter sagte ihr nichts als böse Worte. So saß sie auch mal wieder und wand und wand, und die Hände wurden ihr zuletzt so lahm von allem wickeln, daß ihr unversehends der dicke Knäuel in den Brunnen sprang. Da kriegte sie große Angst, denn die böse Stiefmutter hätte sie gewiß geschlagen, wenn sie den Knäuel nicht wiederbrachte. Darum stieg sie in den Brunnen hinab; der war wohl tief, aber ganz zerfallen und kein Wasser mehr drinn.

Wie das Mädchen nun unten auf den Boden kam, so war da eine ordentlich kleine Thür, die machte sie auf und ging hindurch; da war alles frei und schön. Dicht neben der Pforte lag auf einem Blocke ein großes scharfes Beil und Holz dabei, das rief: „Hau mich entzwei, hau mich entzwei!“ Da nahm das Kind das Beil und hackte das Holz. Als es das gethan, ging es weiter und kam zu einem Backofen, drinnen rief das Brot: „Zieh mich raus, zieh mich raus.“ Da zog das Kind das Brot aus dem Ofen, und als es nun weiter ging, begegnete ihm eine Kuh, die rief: „Melk mich, melk mich!“ Das tat das Mädchen auch und ging weiter. Nicht lange, so begegnete ihm eine Ziege, die rief: „Melk mich, melk mich!“ Als das Mädchen die auch gemelkt hatte, ging es weiter und kam zuletzt an ein Haus, davor saß eine alte Frau und spann und hatte einen Hund und zwei Katzen bei sich. „Du mußt nun bei mir bleiben,“ sprach die Alte zu dem Kinde, „und sollst es gut haben, wenn du alle Tage meinen Hund und meine beiden Katzen ordentlich flöhen willst; und dann habe ich da drei Stuben; zwei davon mußt du jeden Morgen hübsch ausfegen, aber in die dritte darfst du bei Leibe nicht gehen, sonst geht’s dir schlecht.“

Da ist denn das Mädchen bei der alten Frau geblieben, hat den Katzen und dem Hunde alle Tage ordentlich den Pelz besehen und auch die beiden Stuben gefegt; aber in die dritte Stube ist es nicht hineingegangen.

Als nun der Sonntag herankam, zog die alte Frau ihr Sonntagskleid an und sagte zu dem Kinde: „Ich will jetzt zur Kirche, darum geh mir derweilen nicht weg, sondern achte gehörig auf das Haus.“ Damit ist sie fort in die Kirche gegangen. Das Mädchen aber, während es so ganz allein im Hause war, überkam eine große Neugierde zu wissen, was die alte Frau wohl in dem dritten Zimmer haben möchte; es ließ ihr auch nicht eher Ruhe, bis sie das Zimmer aufgeschlossen hatte. O Leute! Was war da für vieles Geld! Ein Sack stand neben dem andern; hier Kupfergeld, hier Silbergeld, da nichts als lauter Gold. Da raffte das Mädchen schnell einen kleinen Sack voll Gold in seine Schürze, sprang aus dem Hause und fort.

Zuerst begegnete ihm die Ziege, der rief es zu: „Verrath mich nicht!“ „Ich verrath dich nicht,“ sagte die Ziege; „aber lauf was du kannst.“ Da kam es zu der Kuh und rief wieder: „Verrath mich nicht!“ „Ich verrath dich nicht,“ sagte die Kuh; „aber lauf was du kannst!“ Da lief das Mädchen weiter, so schnell es nur konnte.

Mittlerweile war aber auch die alte Frau aus der Kirche wieder nach Hause gekommen; als sie sah, daß die dritte Stube offen und das Mädchen fort war, sprang sie schnell hinaus und hinterher. Zuerst kam sie zu der Ziege und fragte: „Ist hier nicht eben eine kleine Dirne vorbeigelaufen?“ „Ne!“ sagte die Ziege; „ich habe hier keine Dirne gesehen.“ Da lief die Alte weiter zu der Kuh und fragte wieder: „Ist hier nicht eben eine kleine Dirne vorbeigelaufen?“ „Nein!“ sagte die Kuh; „ich habe keine Dirne laufen sehen.“ Da ist die alte Frau wieder umgekehrt, denn sie hat gemeint, das Mädchen müßte wohl einen andern Weg gelaufen sein.

Das Mädchen ist aber glücklich durch den Brunnen wieder heraufgekommen, ist zu seiner Stiefmutter und seiner Stiefschwester gelaufen und hat ihnen das viele Gold gezeigt und gesagt: „Seht! Das habe ich alles von einer alten Frau gekriegt, die da unten im Brunnen wohnt.“ Wie das die Stiefschwester hörte, trieb sie der Neid, daß sie auch alsbald in den Brunnen hinabstieg, die alte Frau zu suchen, von welcher ihre Schwester das Gold hatte. Sie fand unten auch die kleine Thür, und als sie hindurchging, lag da der Klotz mit dem großen Beil und Holz daneben, das rief: „Hau mich entzwei, hau mich entzwei!“ „Ich will dir was flöten!“ sagte das Mädchen, denn es war ganz erschrecklich faul und mochte keine Arbeit tun. Als es eine Strecke weiter gegangen war, kam es zu einem Backofen, darinnen rief das Brot: „Zieh mich raus, zieh mich raus!“ „Ich will dir was flöten!“ sagte das Mädchen, und ging weiter. Mit dem, so begegnete ihr eine Kuh, die rief: „Melk mich, melk mich!“ „Ich will dir was flöten!“ sagte das Mädchen, und als es nun weiterging, kam es zu einer Ziege, die rief auch: „Melk mich, melk mich!“ „Ich will dir was flöten!“ sagte das Mädchen wieder und ging ihres Weges. Zu letzt kam sie auch an das Haus, wo die Alte saß und spann. „Du mußt nun bei mir bleiben,“ sprach die Alte, „und sollst es gut haben; aber jeden Tag mußt du meinen Hund und meine beiden Katzen ordentlich flöhen; und dann habe ich drei Stuben, davon mußt du zwei jeden Morgen hübsch ausfegen, aber die dritte darfst du ja nicht aufmachen, sonst geht es dir schlecht.“ Da ist denn das Mädchen bei der alten Frau geblieben.

Den nächsten Sonntagmorgen, als es Zeit war in die Kirche zu gehen, zog sich die Frau hübsch an, nahm ihr Gesangbuch und sagte, als sie wegging: „Ich will jetzt mal in die Kirche; darum so achte mir ordentlich auf das Haus, bis ich wiederkomme.“ Damit ist sie fortgegangen. „Jetzt ist’s Zeit!“ dachte das Mädchen; „nun sollst du doch mal zusehen, was in der dritten Stube ist!“ Und als es die aufmachte, stand da ein Goldsack neben dem andern. Schnell raffte es sich die Schürze voll Goldstücke und lief fort aus dem Hause.

Mittlerweile war aber auch die alte Frau aus der Kirche zurückgekommen. Als sie sah, daß die dritte Stube offen und das Mädchen fort war, sprang sie schnell hinaus und hinterher. Zuerst kam sie zu der Ziege und fragte: „Ist hier nicht eben eine kleine Dirne vorbeigelaufen?“ „Ja wohl!“ sagte die Ziege; „da ist sie hingelaufen.“ Dann kam die Frau zu der Kuh und fragte wieder: „Ist hier nicht eben eine kleine Dirne vorbeigelaufen?“ „Ja wohl!“ sagte die Kuh; „dort hinten läuft sie noch.“ Da hat sich die alte Frau getummelt, was sie nur konnte, und gerade, als das Mädchen durch die Brunnenthüre entspringen wollte, faßte es die Alte bei den Haaren, nahm das große Beil, was da lag, und hackte ihm damit den Kopf ab.