3. Kaum vierhundert Schritt von Mr. Powells Stationsgebäude entfernt begann der „Busch“ – das heißt, einzelne starke ...



Kaum vierhundert Schritt von Mr. Powells Stationsgebäude entfernt begann der „Busch“ – das heißt, einzelne starke Gumbäume standen dort parkähnlich zerstreut auf einer ziemlich zerstampften, nicht mehr mit Gras bedeckten Uferfläche des Murray, während ein niederes Unterholz von starren, Gott weiß weshalb so genannten Teebüschen und besenartigem Gesträuch hier und da in kleinen Gruppen oder Dickichten zusammenwuchs.


Dicht von dem hier ziemlich schmalen Waldstreifen und vom Flusse ab, den Malleyhügeln zugekehrt, lief ein kleiner sandiger, fast kahler Hügelrücken hinauf, der zugleich die westliche Grenze der Station bildete, und dicht unter diesem, noch im Schütze der Gumbäume, waren die Schwarzen eifrig beschäftigt, die dickstämmigen Gums abzuschälen und. ein Lager mit ihrer Rinde herzustellen.

Allerdings schützten diese Rindenstücke die darunter Liegenden nur nach einer Seite gegen Wind und Wetter und die heißen Strahlen der Mittagssonne, und die nackte Erde, nur selten mit einem Opossumfell als Unterlage, war das Bett. Was aber kümmerte das die abgehärteten und an Wind und Wetter gewöhnten Kinder dieser trostlosen Gumwälder! Sobald sie nur genug hatten, ihre Bäuche zu füllen – welcher Art die Speise auch war –, um das übrige trugen sie keine Sorge.

Von dem Eigentümer der Station nahmen sie weiter keine Notiz. Alle Hände voll hatten sie zu tun, um ihr Nachtquartier instand zu setzen, und als die Rindenblätter standen, wurden vor jeder einzelnen Gunyo Feuer angezündet zur Bereitung des Mittagessens, obgleich an Lebensmitteln, ein erlegtes Walloby und zwei Opossums ausgenommen, nichts zu sehen war.

Der australische Wald oder „Busch“ ist eine traurige Heimat für den Wilden, dem er wenig mehr bietet als Feuerholz und ein Stück Rinde, um sich gegen das Wetter zu schützen. Waldfrüchte wachsen gar nicht darin. Die wenigen, die in Form oder Farbe einer Frucht wirklich ähnlich sehen, sind ungenießbar, und entweder hart wie Holz und ebenso saftlos, oder wollig und fade von Geschmack. Natürlich muß der Eingeborene, was ihm der Wald an Früchten versagt, in der Insektenwelt suchen, und Larven und Käfer, Maden, Engerlinge und Raupen sind vor seinem Hunger niemals sicher. Sie essen überhaupt alles, was ihnen nur irgend vorkommt und genießbar erscheint.

Die Gunyos oder Rindenzelte waren dem Anschein nach unregelmäßig unter den Bäumen aufgestellt, alle das Schutzdach der Richtung zukehrend, von welcher der Wind herwehte. Sorgfältiger als die übrigen schien nur ein einziges Lager hergerichtet. Dort hauste eins der merkwürdigsten Wesen, das die schwarzen Stämme unter sich aufzuweisen hatten. Es war ein Krüppel, und zwar infolge jener, dem australischen Kontinent eigentümlichen Krankheit, bei der das Fleisch der Arme und Beine, gewöhnlich eines Beines oder eines Armes, unter der Haut wegschwindet und den auf diese Weise angegriffenen Teil wie ein Skelett erscheinen läßt.

Die Schwarzen schreiben das übernatürlichen Kräften und bösen Geistern zu, die heimlich und bei Nacht herbeischlichen und mit gierigen Lippen an den Gliedern solcher Unglücklichen sogen.

Der schwarze Bursche nun, der zu diesem Stamme gehörte, war schlimmer heimgesucht und durch den bösen Geist des Gebrauches beider Beine beraubt worden. Wenn auch der Oberkörper bis zu den Hüftknochen hinab völlig gesund, ja sogar stark und kräftig schien, mit breiter, gewölbter Brust und muskulösen Armen, so waren die Beine dagegen zum Skelett zusammengeschrumpft. Dadurch wurde er gezwungen, sich mit den Händen fortzubewegen, auf denen er, während er die Beine kreuzweise zusammenlegte, anscheinend ohne sehr große Beschwerde ging. Bei längeren Märschen erleichterte es ihm der Stamm übrigens dadurch, daß man ihn da, wo der Boden es erlaubte, auf ein Stück Rinde setzte. Dieses, von den Frauen gezogen, unterstützte ihn bei seinem Fortbewegen.

Verkrüppelte, besonders Blinde, werden von den Schwarzen keineswegs besonders geachtet. Hier bei diesem Unglücklichen jedoch, der selbst der Fähigkeit beraubt schien, sich zu ernähren, mußten andere Umstände obwalten, denn der Stamm bewies ihm nicht allein die größte Achtung und Aufmerksamkeit, sondern betrachtete ihn fast als ein höheres, jedenfalls mit den Geistern in enger Verbindung stehendes Wesen.

Besondere Fähigkeiten besaß er jedenfalls, und obgleich der Stamm nur selten mit den Weißen verkehrte, so hatte sich dieser Unglückliche doch so viel von der Sprache des fremden Volkes angeeignet, daß er sich recht gut, ja fast geläufig mit ihnen verständlich machen konnte. War es deshalb, oder vielleicht wegen seines Verkehrs mit den Geistern der Nacht, mit denen er, wie die Eingeborenen glaubten, stete Verbindung unterhielt, und zwischen denen und seinem Stamm er vermittelte, jedenfalls hatte er den Namen Nguyulloman, „der Dolmetscher“, erhalten mit dem Ehrentitel Burka, der alte Mann. Keine Beute wurde in das Lager gebracht, kein feistes Känguruh, kein rundes Opossum, kein Netz voll schneeweißer Engerlinge, von denen er nicht sein Teil als schuldigen Tribut bekommen hätte.

Nguyulloman nahm das auch an als eine Sache, die sich von selbst verstand, und forderte sogar Ehrerbietung von den Seinen, die sich nicht regen durften, wenn er manchmal nachts unter seinem einsamen Rindendache mit tiefer hohltönender Stimme seine Beschwörungen in den dunklen Wald hineinsang. Nur die Hunde heulten dazu, denn sie fürchteten den verkrüppelten Mann, der mit nie fehlender Sicherheit Steine und Holzstücke nach ihnen schleuderte, so oft sie nur in die Nähe seiner Hütte kamen.

Nguyulloman saß vor seinem Rindendach auf einem Mantel von Opossumfellen, und schaute aufmerksam einer Anzahl kleiner schwarzer Burschen zu, die trockenes Holz für ihn herbeischleppten und in den Bereich seines Armes schoben, damit er es selber auf sein Feuer werfen konnte.

Abends nach Dunkelwerden durfte niemand, den er nicht herrief, zu seiner Hütte kommen.

Die beiden Weißen schritten auf diesen Platz zu, um den sich auch einige der Burkas oder alten Männer versammelt hatten.

„Nun, Nguyulloman“, sagte Mr. Powell, der den Krüppel schon von früher kannte und ihm manches Gute erwiesen hatte,„auch wieder einmal hier? Wie ist es gegangen die Zeit über?“

„Gut, Master“, sagte der Wilde mit einer merkwürdig reinen Aussprache der Worte, wie sich die australischen Schwarzen überhaupt darin auszeichnen, ein ungemein empfängliches Ohr für fremde Klänge zu haben. „Tausend gut– aber Stamm ist arm– hat kein Känguruh mehr und kein Emu– weiße Männer haben alles fortgejagt– und viel Krieg mit Darling-Schwarzen– böse Schwarze – haben viel Butter genommen. Arme Rufus-Schwarze sind übel dran.“ 1)

„Nun“, sagte Mr. Powell freundlich, „Nguyulloman soll heute wenigstens keinen Hunger leiden. Ich habe euch erlaubt, hier auf meiner Station zu lagern, und ich hoffe, daß ihr euch die kurze Zeit, die ihr hier bleibt, gut aufführen werdet. Ich weiß, Nguyulloman kann seinen Stamm zwingen, es zu tun, denn er hat Macht über ihn.“

Ein flüchtiges Lächeln stahl sich über die dunklen Züge des Schwarzen, als er zwischen den buschigen Augenbrauen hindurch, ohne den Kopf zu heben, zu dem Weißen aufsah. Endlich erwiderte er langsam:

„Nguyulloman soll keinen Hunger leiden?“

„Nein – denn mein Stockkeeper mag dafür sorgen, daß euch heute drei Hammel und ebensoviele Damper 2) gegeben werden.“

„Butscheri!“ sagte Nguyulloman mit augenscheinlicher Befriedigung, indem er einigemal langsam mit dem Kopfe nickte – „Butscheri! Kein Speer wird von uns auf euer Vieh geworfen werden. Meine jungen Männer werden weder deine Rinder noch Pferde essen. Nguyulloman wartet auf die Damper!“

Mac Donald lachte.

„Wetter, wen haben wir da!“ rief er erstaunt, als sein Blick über die übrigen Schwarzen schweifte und dort der Gestalt eines vollkommen nackten Wilden begegnete, der, vielleicht zehn Schritt von ihnen entfernt, auf seinen langen hölzernen Speer gelehnt stand. Der Körper des etwa dreißigjährigen Mannes war tadellos schön; sein Gliederbau ebenso kräftig wie wohlgestaltet, Hand und Fuß sogar klein und zierlich, während die Augen wie ein paar dunkle Kohlen unter dem lockigen rabenschwarzen Haar hervorfunkelten. Aber das Merkwürdigste an ihm war der Bart, der ihm nicht allein vorn bis auf die Brust herabfiel, sondern auch den Hals, die Schultern und den obern Teil des Rückens vollständig bedeckte.

„Kakurru!“ rief Mac Donald in der Sprache der Eingeborenen. „Wie kommst du hier zwischen die Rufus-Schwarzen? Hast du die wilden Sümpfe der Encounterbai verlassen und Frieden mit deinen alten Feinden geschlossen?“

„Kakurru hat die Augen des weißen Mannes gesehen und seine Stimme gehört“, erwiderte der Schwarze, „aber das Gesicht ist ihm fremd geworden. Es hat gewechselt wie der Mond.“

„Hallo, Mr. Mac Donald!“ rief jetzt sein Gastfreund erstaunt aus, „wo in aller Welt haben Sie die Sprache der schwarzen Burschen so vortrefflich gelernt? Sie sprechen ja so geläufig wie ein Eingeborener.“

„Langer Aufenthalt zwischen ihnen einesteils, und ein wohlangeborenes Talent, fremde Sprachen zu erlernen, möchten als Ursache gelten“, sagte Mac Donald lächelnd. „Übrigens ist ihre Sprache nicht schwer, und mit einiger Aufmerksamkeit kann man es leicht dahin bringen, sich verständlich zu machen.“

„Allerdings haben Sie recht, aber was sollen wir mit dem Kauderwelsch anfangen? Aber kennen Sie den Burschen?“

„Ja; ich habe ihn einst an der Encounterbai getroffen und ihm auch, wie ich wenigstens glaube, damals einen Dienst geleistet. Er scheint mich aber ebenfalls kaum wieder zu erkennen, denn ich trug damals keinen Bart.“

Kakurru hatte indes sein Auge nicht von der Gestalt des Fremden gewendet, der ihn in seiner eigenen Sprache angeredet, und auch die übrigen Schwarzen blickten staunend zu ihm empor. Es war der erste Weiße, den sie geläufig die Sprache eines ihrer Stämme reden hörten.

„Kommen Sie fort von hier, Mr. Mac Donald“, sagte jetzt Mr. Powell, seinen Arm ergreifend.

„Ihr werdet Damper bekommen“, wandte sich Mac Donald an die Schwarzen und dann noch einen Blick auf den bärtigen Wilden zurückwerfend, der regungslos in seiner Stellung verharrt war, sein Auge aber nicht von dem Weißen weggewendet hatte, schritt er mit Mr. Powell nach dem Hause zurück.

Kaum hatten die beiden Männer ein paar Schritte getan, als Kakurru sich langsam aufrichtete und, den Speer in der Rechten haltend, vorsichtig hinter ihnen herging. Nur die im trockenen Lehm und Sandboden zurückgelassene Spur des jungen Weißen behielt er dabei im Auge, bis er zu einer Stelle kam, an der die Fährten klar und rein abgedrückt waren. Hier blieb er stehen, beugte sich einige Minuten aufmerksam darüber, maß sie dann mit seiner Hand, indem er auf eine eigentümliche Weise die Knöchel darüber drückte, und sprang dann plötzlich, während ein triumphierendes Lächeln über seine Züge flog, empor und hinter den Weißen her, die er in wenigen Sätzen eingeholt hatte.

Mac Donald hörte die Schritte hinter sich und drehte sich rasch danach um. Als er Kakurru erkannte, blieb er stehen.

„Nun, was willst du?“ fragte er, ihn lächelnd betrachtend.

„Jack!“ sagte aber dieser und streckte ihm die linke Hand entgegen– „Jack gewiß!“

„Alle Wetter!“ rief der junge Mann, „so hat der Bart dir mein Gesicht doch nicht genug versteckt gehalten!“

„Bart gewiß, aber die Füße nicht“, lachte der Schwarze, auf die Fährten niederzeigend – „Kakurru kennt sie, wenn er sie ein einziges Mal gesehen.“

„Was sagt er?“ fragte Mr. Powell erstaunt.

„Er hat mich nach meinen Fußstapfen wiedererkannt“, erklärte ihm Mac Donald, „man sollte es kaum für möglich halten.“

„Doch, doch“, erwiderte Powell. „Es ist erstaunlich, was die schwarzen Burschen darin leisten, und die Fährte eines Menschen merken sie sich auch fast rascher als sein Gesicht. Der Bursche scheint Ihnen aber noch etwas sagen zu wollen.“

„Ich komme nachher wieder zu dir, Kakurru“, nickte ihm ohne weitere Erwiderung Mac Donald zu, und schritt dann mit Mr. Powell zum Hause zurück.

Wie lebendig es aber jetzt in dem Lager der Schwarzen zuging. Die Frauen schleppten Holz herbei und die Männer lagen schon lange auf dem Rücken, der Dinge harrend, die da kommen sollten. Die Schafe waren ihnen einmal versprochen worden und mußten nun auch kommen. Und sie kamen auch, aber nicht so bequem, wie es die Schwarzen erwartet hatten.

Eine halbe Stunde etwa dauerte es, als Mr. Bale, der Stockkeeper, auf seinem Braunen in das Lager sprengte und in einem furchtbaren Kauderwelsch von englischen, australischen und überhaupt gar keiner Sprache angehörenden Worten ein halbes Dutzend Männer aufforderte, oben nach dem Stationshause zu gehen und die für sie bestimmten Geschenke in Empfang zu nehmen. Ein Teil der Schwarzen schien nicht übel Lust zuhaben, die Frauen hinaufzuschicken, da sie es unter ihrer Würde hielten, sich damit selber zu befassen. Nguyulloman entschied das aber durch einen Machtspruch – er war jedenfalls hungrig geworden und fürchtete, daß die Frauen zu lange zögern möchten – indem er dreien von seinen jungen Leuten befahl, mit vier Frauen die versprochenen Lebensmittel zum Lager zu schaffen.

Das geschah auch verhältnismäßig rasch. Die drei jungen Burschen kamen kaum zehn Minuten später, jeder ein Schaf auf den Schultern, in wilden Sprüngen angesetzt, und während die Frauen etwas langsamer mit den Dampern folgten, ging der ganze Stamm an das Ausschlachten der erhaltenen Tiere, bei dem sie eine außerordentliche Geschicklichkeit zeigten.

Sämtliche Nieren bekam Nguyulloman, der sie auf die Kohlen warf und verzehrt hatte, ehe die übrigen nur mit dem Ausschlachten und Abstreifen der Tiere fertig waren, wonach er noch eine doppelt so große Menge Fleisch verschlang.

Es ist ganz erstaunlich, welche Massen diese Schwarzen auf einmal in sich hineinschlagen können, und ihre Bäuche schwellen danach wie wohlgefüllte Säcke auf. Ebensolange können sie aber auch fasten, und das Hanf- oder Bastseil, das sie häufig als Gürtel um den nackten Körper tragen, dient ihnen dann fest angezogen zum Hungerriemen, um den rebellischen Magen im Zaum zu halten.

Das Fleisch, wie überhaupt sämtliche Lebensmittel wurden jetzt von den Burkas, den alten Männern, die zugleich die Häuptlinge jedes Stammes sind, eingeteilt, um den verschiedenen Altersklassen und Geschlechtern zugewiesen zu werden. Wie nun alles fertig war, gaben sich diese sorglosen Kinder der Wildnis dem Genuß des Mahls mit einer solchen Gier hin, als ob ihnen eine gleiche Lieferung, wie die heutige, für jeden der folgenden Tage versprochen wäre.




1) Butter ist die Bezeichnung für alles, was fett ist. Besonders wird das Nierenfett der Menschen – darunter verstanden, welches die Schwarzen dem überwundenen Feinde ausreißen und sich damit bestreichen, indem sie dabei dessen Stärke auf sich zu übertragen vermeinen.
2) ein Gebäck aus Weizenmehl und Wasser

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die beiden Sträflinge