Die beiden Bassewitze.

Erzählung aus Mecklenburgs vergangenen Tagen.
Autor: Johannes Wille., Erscheinungsjahr: 1913
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg, Bassewitz, Plessen, Peter I., Russen, Wismar, Besatzer, Dänen
Zu allen Zeiten pflegte der heitere Genius der Menschheit, der Humor, seine launigen Zwischenspiele in die ernsten Dramen der Geschichte einzuflechten. Während die politischen Größen gewissermaßen auf dem Vordergrunde der Weltbühne und der öffentlichen Aufmerksamkeit ihre gewichtigen Rollen abwickeln, tummeln sich neben und hinter ihnen allerlei komische Käuze, deren Geschicke auf irgendeine seltsame Art mit den Waffengängen der Großen verkettet sind.

Eine solche komische Episode spielte sich während der heißen Wirren des nordischen Krieges auf mecklenburgischem Boden ab, dessen Scholle damals wie zu Fritz Reuters Zeit eine wahre Auslese origineller Charaktere und bäuerischer Kraftnaturen von derbstem Schrot und Korn zeitigte. Der sonderbare Held, dessen närrisches Märtyrertum nicht nur in der flüchtigen Erinnerung seiner Zeitgenossen lebte, sondern auch einen Chronikenschreiber jener Tage zu einer „ungeschminkten, unverbrämten, unbefransten Relation“ begeisterte, war Herr Engelke v. Plessen, erbgesessener Landedelmann auf Gut Barnekau im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin.
Bei seinen Standesgenossen, der mecklenburgischen Ritterschaft, wie bei den Bauern, hieß er schlechthin der „Kontrakt-Engelke“; denn Herr Engelke v. Plessen war ein ganz geriebener Schlaukopf, der sich in jedem Unternehmen auf seinen Vorteil verstand, kein Torfmoor verpachtete und keinen Ochsen kaufte, ohne sich bei diesem Handel durch einen schriftlichen Kontrakt gehörig seinen Nutzen zu sichern. Durch seine Leidenschaft für schriftliche Abmachungen wurde sein Name im ganzen Lande bekannt. Wenn ein Bauer irgendetwas als unumstößlich sicher bekräftigen wollte, so pflegte er zu sagen: „Das is so gewiss, als Herrn Engelke sien Kuntrakt.“ Da war es denn kein Wunder, dass der ,„Erbgesessene“ auf Barnekau „durch seine Finessen, Schlauheit und sonstige gute Kapazität“ - wie sein Biograph rühmend meldet, etwas Erkleckliches vor sich brachte und seinen ritterschaftlichen Gutsnachbarn, bei denen es in der Wirtschaft haperte, freundnachbarlich unter die Arme greifen konnte, wobei natürlich Herr Engelke nie ermangelte, den eigenen Vorteil über der helfenden Nächstenliebe nicht zu vergessen.

Wenigstens verhielt es sich so, als der alte Joachim v. Bassewitz, Oberst a. D. und Klosterhauptmann von Dobbertin, gleichfalls Wittwer wie Herr Engelke, auf dem nahe bei Barnekau gelegenen Lütken-Wolmstorff in zunehmende Verschuldung geriet, und Herr Engelke, um den alten Freund vor wucherischen Geldverleihern zu schützen, selbst die Summe von zwanzigtausend Thalern, ein für jene Zeit bedeutendes Hypothekendarlehen, auf den Lütken-Wolmstorffer Grund und Boden herlieh.

Der alte Bassewitz hatte sich vor der Unterzeichnung des Schuldbriefes allerdings noch zu einer Kleinigkeit verstehen müssen, bei der freilich nicht seine Zustimmung allein, sondern auch die seines einzigen Sohnes, Hans Detlev v. Bassewitz, Obersten in schwedischen Diensten, in Betracht kam. Nur unter einer gewissen Bedingung war nämlich Herr Engelke zu dem Darlehen zu bewegen gewesen.

„Zu gegenseitiger Gewährleistung und Befestigung ihrer Beziehungen soll zwischen Barnekau und Lütken-Wolmstorff ein Familienvertrag geschlossen werden,“ so lautete wörtlich die absonderliche Urkunde, „dergestalt, dass sich der mitunterzeichnete Herr Engelke v. Plessen verpflichtet, seine einzige Tochter, Jungfrau Dorothea v. Plessen, dem Sohne Herrn Joachims v. Bassewitz, dem ehrenwerten Jungherrn Hans Detlev v. Bassewitz, zum Eheweibe zu geben, wogegen sich Letzterer mit eigenhändiger Namensunterschrift dazu bekennt, genannte Jungfrau Dorothea v. Plessen bis spätestens zu ihrem vollendeten fünfundzwanzigsten Lebensjahre zu ehelichen. Am Tage der kirchlichen Segnung des Paares aber soll alsdann die obige Schuld des Joachim v. Bassewitz als getilgt betrachtet und genannte Summe von zwanzigtausend Thalern als Mitgift der Braut gelten. Sollte indessen wider Erwarten der eine oder der andere Teil von diesem Vertrage zurückzutreten gewillt sein, so hat der zurücktretende dem anderen Teil eine Abstandssumme von zehntausend Thalern zu zahlen.“

So uneigennützig auch diese Veranstaltung von Seiten des „Kontrakt-Engelke“ schien, so steckte doch, wie sowohl der alte als der junge Bassewitz klärlich durchschauten, die bekannte schlaue Berechnung des Barnekauer Freundes dahinter, der hiermit zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen versuchte, indem er sich einerseits den an seine Feldmarken grenzenden Grundbesitz des Nachbarn für den Fall eines künftigen Zusammenbruchs der morschen Bassewitz‘schen Verhältnisse hypothekarisch zu sichern gedachte, während er zugleich andererseits für die Unterbringung seines Töchterleins mit väterlicher Umsicht Sorge trug.

Und Vater Engelke hatte seine triftigen Gründe, wegen der Verheiratung seiner „Dört“ ein wenig die Vorsehung zu spielen. So begehrenswert auch die Barnekau’sche Erbtochter hinsichtlich ihrer Mitgift erscheinen musste, so wenig Anlockendes konnte sie für Denjenigen haben, der sich bei der Wahl seiner Künftigen auch von Frauenschönheit und Anmut mitbestimmen ließ; denn „Engelken sin Goldvoß“ *) - so nannte die Nachbarschaft in doppelsinniger Bedeutung das Plessen'sche Edelfräulein - besaß außer ihren brennend roten Haaren, die ja im Verein mit schöner Gestalt und glattem Gesicht sehr anziehend sein können, noch zwei andere wenig empfehlende Eigentümlichkeiten: sie schielte erheblich und war nach übereinstimmendem Urteil des Barnekauer Hofgesindes zänkisch und keifsüchtig.

Trotz alledem hatte der dreißigjährige Hans Detlev v. Bassewitz, als er im Jahre 1718 in die schwedische Armee eintrat, um unter Karls XII. Fahnen gegen Dänemark, Russland und die übrigen Verbündeten im nordischen Kriege zu kämpfen, in den sauren Apfel des Familien- und Heiratsvertrages beißen müssen, um den Vater und somit sich selbst vor den drängenden Gläubigern zu retten.

Zwei Jahre waren seitdem verstrichen, ohne dass der schwedische Bräutigam wieder etwas von sich hätte hören lassen, abgesehen davon, dass die Nachrichten vom nahen Kriegsschauplatz die Kunde nach Barnekau und Lütken-Wolmstorff trugen, Hans Detlef v. Bassewitz sei wegen seiner in verschiedenen Schlachten bewiesenen Tapferkeit zum Obersten ernannt worden und genieße die persönliche Gunst des schwedischen Kriegshelden Karls XII.

So schmeichelhaft dieser Kriegsruhm des zukünftigen Schwiegersohnes Herrn Engelke auch war, so verschlechterte sich nichtsdestoweniger seine Laune, je näher der festgesetzte Schlusstermin der vereinbarten Heimführung Jungfrau Dorotheas, nämlich ihr fünfundzwanzigster Geburtstag, welcher Mitte Juli des Jahres 1716 fiel, heranrückte. Der sehnlichst zurückgewünschte Hans Detlev schien seinen Barnekauer „Goldvoß“ über seinen kriegerischen Lorbeeren gänzlich vergessen zu haben. Auf die wiederholten scharfen Mahnungen, die Herr Engelke unter vier Augen an seinen Freund Joachim v. Bassewitz richtete, war dieser jedesmal fürchterlich grob geworden und hatte gemeint, sein Hans Detlev könne doch nicht mir nichts dir nichts fahnenflüchtig werden, um der Jungfer Dorothea den Hof zu machen; wenn der Termin komme, werde er schon von sich hören lassen, ein Bassewitz habe noch nie sein verpfändetes Wort gebrochen! Außerdem sei ja die Jungfer Dört keine „Pogge“**), die ihm „davonhippe“.

*) Goldfuchs
** Frosch

Endlich gab auch wirklich Hans Detlev ein Lebenszeichen. Der junge Herr Oberst schrieb zu Beginn des neuen Jahres 1716, dass er gesund und wohlauf in Stralsund als Kriegsgefangener sitze, da er am 27. September des verflossenen Jahres bei der Stürmung dieser schönen und ansehnlichen schwedischen Festung mit anderem schwedischen Volk den Dänen in die Hände gefallen, während Karl XII. glücklich entkommen sei. Zu guter Letzt hatte der kuriose Herr Hans Detlev, welcher laut beigefügter Randglosse des Barnekauer Gutsschreibers „ein fein Erbteil Mutterwitz erhalten“, noch die Nachschrift hinzugesetzt: „Ob er aus den Ketten des Mars alsobald befreit in Hymens Bande eilen könne, müsse er der himmlischen Providence und den Dänen überlassen, in deren Hand es jetzt liege, ob er zu festgesetzter Zeit mit dem liebwerten Fräulein Dorothea vor den Altar zu treten vermöge.“ Das klang launig und galant, wenn es auch Herrn Engelke fast bedünken wollte, als wenn der Briefschreiber den Schelm im Nacken gehabt, als er das zierliche Postskriptum anfügte.

Indessen sorgten die plötzlich über Mecklenburg hereinbrechenden Ereignisse dafür, dass Herrn Engelke v. Plessen nur wenig Muße blieb, lange über die Aufrichtigkeit der Gesinnung seines kontraktmäßig gesicherten Schwiegersohnes nachzudenken. Wie von einer jäh und unerwartet heranrollenden Sturmflut wurde im April des Jahres 1716 ganz Mecklenburg von der russischen Armee Peters des Großen überschwemmt, angeblich wegen der Blockade der damals schwedischen Festung Wismar, in Wahrheit aber auf Veranstaltung des Herzogs Karl Leopold von Mecklenburg-Schwerin, welcher bei seinem Regierungsantritt 1712 durch seine Eingriffe in die Vorrechte der Ritterschaft einen Konflikt heraufbeschworen hatte, wie er schwerer und verhängnisvoller wohl niemals zwischen einem Regenten und seinem Adel bestand. Gleich kleinen Fürsten hatten bisher die mecklenburgischen Edelleute und Landstände Vorrechte genossen, die den Herzögen nur den Schein einer landesherrlichen Obergewalt ließen. Als nun der eben zur Regierung gelangte Herzog Karl Leopold auf den Landtagen zu Sternberg zum ersten Male unternahm, die übermäßigen Hoheitsrechte der mecklenburgischen Ritterscha?t zu beschneiden und sie zur Verzichtleistung auf verschiedene, ins Ungeheuerliche gewachsene Privilegien zu bestimmen, da war er auf den erbittertsten Widerstand der Adeligen gestoßen. Nicht nur, dass sie sofort einen Rechtsvertreter an den Reichshofrat in Wien absandten und beim Kaiser einen förmlichen Prozess gegen ihren Herzog einleiteten, auch in kleinlichen Chikanen, die sie gegen den Schweriner Hof ausspielten, machte sich ihr heftiger Groll Luft. Besonders wer es Herr Engelke v. Plessen gewesen, der als der zungenfertigste Kämpe des sogenannten engeren Landtagsausschusses dem herzoglichen Regierungsvertreter die bitterbösesten Beleidigungen an den Kopf geschleudert und später den Vorschlag gemacht hatte, Serenissimus dadurch die allgemeine Geringschätzung an den Tag zu legen, dass die Ritterschaft die Vermählung Karl Leopolds mit einer russischen Prinzessin gänzlich ignorieren und bei der Heimführung der jungen Herzogin, die Anfang Mai 1716 erfolgte, sich jeder Beglückwünschung zur Empfangsfeierlichkeit enthalten solle.

Bei dem Einzugsfest des hohen Paares ließ sich denn auch, gegen alle bisherige Gewohnheit, kein Mitglied der mecklenburgischen Ritterschaft in Schwerin blicken, und so wuchs auch auf Seite des Herzogs die Verstimmung, durch diese absichtlichen Kränkungen ge- nährt, zur Zornesflamme empor, die ihn zu den gewalttätigsten Maßnahmen gegen den rebellischen Adel verleitete. Es war ein öffentliches Geheimnis, dass er „seinen russischen Vetter“, Peter den Großen, mit seiner Armee von nahezu 50.000 Mann nur deshalb ins Land gerufen habe, damit er die starren Nacken der aufsässigen Adeligen beugen helfe und sie bis zur Verzichtleistung auf ihre Vorrechte mürbe mache. Diese in den Blättern der Geschichte als Unikum verzeichnete, in der Folge aber verunglückte Zähmungskur der mecklenburgischen Adelsherren begann im Mai mit dem persönlichen Eintreffen Peters des Großen und seiner Gemahlin auf dem Schloss zu Schwerin, während der russische General Fürst Repnin in Rostock Hauptquartier nahm und von hier aus die Verteilung einer kolossalen Einquartierung ins Werk setzte. Mit ohnmächtigem Ingrimm trugen die Gutsherren aller mecklenburgischen Ämter die drückende Last dieser aufgezwungenen Bewirtung bis Ende Juni, wo der größte Teil der Truppen mit den russischen Schiffen von Rostock nach dem Kriegsschauplatz auf Seeland übergesetzt wurde, so dass nur noch die um Rostock liegenden Kosaken nebst dem General Repnin, sowie Zar Peter der Große in eigener Person als unerwünschte Gäste im Lande verblieben.

Allein das erleichterte Aufatmen der Gutsherrensollte nur von kurzer Dauer sein. Es begann nun die Beitreibung der Verproviantierung des in Rostock aufgeschlagenen russischen „Generalmagazins“. Unter Androhung der schärfsten Strafen wurde der Ritterschaft aufgegeben, binnen acht Tagen 3.240.000 Pfund Zucharn *), 1000 Scheffel Grütze, 946 Scheffel Roggen und 1556 Scheffel Salz beizusteuern. Da machte der Gutsherr auf Borgfeld im Amte Stavenhagen, Herr v. Marschall, den Anfang, „zu Kreuze zu kriechen“. Er unterzeichnete nämlich einen Schein, laut welchem er Seiner Durchlaucht Karl Leopold die streitigen Gerechtsame für seine Person abtrat und wofür ihm sofort vollständiger Erlass seines Lieferungsanteils für jetzt und später verbrieft wurde. Gleicher Erlass wurde jedem Edelmann zugesichert, der seine Privilegien dem Landesherrn abzutreten gewillt sei. Allein nur Wenige gingen in das ihnen gestellte Netz. Unter denen, die sich „lieber den letzten Mehlsack ihres Speichers ausklopfen la??en“, als auf ihre alten Erbrechte verzichten wollten, unternahmen vier Herren sogar das Wagnis, gegen die unerschwingliche Lieferung bei Karl Leopold und Peter dem Großen in entschiedenster Form zu protestieren und die Kriegssteuer geradezu zu verweigern, „möge daraus werden, was da wolle“.

*) In Würfel geschnittenes, geröstetes Brot.

Diese vier Kühnsten waren Herr Engelke v. Plessen, sein Nachbar Joachim v. Bassewitz, Herr Ludwig v. Pederstorf auf Hintzenhagen und Herr v. Oeltzen auf Roppau. Zwar erfolgte auf ihr energisches Protestschreiben keine Antwort, doch lief plötzlich die beunruhigende Nachricht von Hof zu Hof, der „Erbgesessene“ von Hintzenhagen wie der von Roppau seien gewaltsam und nächtlicherweile in ihren Behausungen von Kosaken festgenommen und nach Rostock auf eine russische Galeere gebracht worden. Der Zar Peter der Große aber gedenke mit den Gefangenen, als wären es seine Untertanen, wie mit Majestätsverbrechern zu verfahren und sie zur See nach Petersburg wegführen zu lassen.

Dem alten Joachim v. Bassewitz, der seit Jahren an heftigem Podagra litt, war der Schreck über diese Kunde dermaßen in die Beine gefahren, dass er ächzend in seinem Lehnstuhle saß, als am Abend nach dem Bekanntwerden der Verhaftungen sein Nachbar Engelke v. Plessen verstörten Gesichts bei ihm eintrat. Es war am Vorabend des in ganz Mecklenburg am 17. Juli gefeierten „großen Buß- und Bettags“. Der von raschem Ritt erschöpfte Herr Engelke rang nach Atem, ehe er, sich vor dem Nachbar auf einem Stuhle niederlassend, beginnen konnte.

„Heraus mit der Sprache!“ stöhnte ungeduldig der alte Bassewitz. „Um welche neue Hiobspost handelt es sich?“

„Dass wir Beide noch in dieser Nacht ausreißen müssen, wenn uns nicht die Kosaken holen sollen!“.

Und nun berichtete Herr Engelke, wie ihm ein Rostocker Freund soeben unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit die Mahnung zugesandt, ungesäumt außer Landes zu fliehen, da Zar Peter, vom Herzog ermächtigt, in der folgenden Nacht des allgemeinen Buß- und Bettages die heimliche Verhaftung einiger der störrischsten Landherren plane, weil man an diesem Feiertag die Gutsbesitzer am sichersten in ihren Behausungen anzutreffen vermute. *) Bereits nach Mitternacht gedenke er daher zu Pferde nach Wismar aufzubrechen.

*) Das Gerücht hatte irrtümlich die Nacht vom 17. Zum 18. Juli angegeben, während in Wirklichkeit der Vorabend des Bußtags für den Handstreich bestimmt war.

Statt einer Antwort griff Joachim v. Bassewitz mit leisem Stöhnen an sein schmerzendes Bein, während Herr Engelke, mit seinem Gedankengange beschäftigt, gallig fortfuhr: „Wie wird's nun mit unserem Kontrakt, Joachim? Morgen ist der fünfundzwanzigste Geburtstag meiner Dörte. Ehe ich, wer weiß auf wie lange, zu den Schweden flüchte, muss es klar zwischen uns werden. Kurz und gut: Heiratet Hans Detlev meine Dorothea oder nicht?!“

„Das wird sich finden, wenn er aus der dänischen. Gefangenschaft zurückkommt,“ fuhr Joachim v. Bassewitz grimmig auf, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. „Ich wünschte nur, dass Deinen verdammten Kontrakt gleichfalls die Kosaken holten!“

Das Wort Kosaken ging Herrn Engelke jedesmal wie ein Messerstich durchs Mark. „Wir sprechen später weiter davon,“ lenkte er kleinlaut ein, da eben die zehn Schläge der Turmuhr ihn daran mahnten, dass es für ihn jetzt das Nächstliegende sei, die eigene werte Person in Sicherheit zu bringen. Er warf noch einen verärgerten Blick auf das schöne Mädchen, welches das Zimmer betrat, um zur gewohnten Stunde dem alten Herrn vor Schlafengehen den kranken Fuß zu umwickeln.

„Dir werden sie freilich bei Deiner jetzigen Verfassung nicht an den Kragen gehen. Was aber mich betrifft, so habe ich keine Zeit zu verlieren, um noch zu Hause meiner Dörte Lebewohl zu sagen und mich dann ohne Verzug zu salvieren.“

„Holl Di jo nich upp!“ *) rief Joachim dem erregt davonschreitenden Engelke nach, während seine junge Pflegerin den Fuß in Wolle zu packen begann.

*) Ein um jene Zeit allgemein verbreiteter Spottruf der Mecklenburger: „Halt’ Dich ja nicht auf!“

„Du bist die einzige treue Seele, Liesch,“ atmete der Alte, von dem Alpdruck seines Besuches befreit, auf; „was sollte aus mir altem Krüppel werden, wenn Du mich auch im Stich ließest, wie mein leichtlebiger Herr Sohn, oder wenn Du, nachdem er Engelkes Goldvoß heimgeführt hat, wegen dieser bösen Sieben vom Hofe gingst!“

Luise v. Plützkow, eine entfernte Verwandte der Bassewitz‘schen Familie, war von Joachim aufgenommen worden, als sie kurz nach ihrer Konfirmation die Eltern verloren, und die Verwaiste hatte sich ihm als liebevolle Pflegerin wie als zuverlässige Stütze in der Wirtschaft geradezu unentbehrlich gemacht.

Auf ihre Schultern gestützt, war er zur Schlafkammer gehinkt, wo sein lautes Schnarchen bald verkündete, dass ihn vorderhand die Sorge für die nächste und fernere Zukunft nicht mehr anfechte. Im Zimmer, wo Luise v. Plützkow beim Schein einer selbstgegossenen Talgkerze rechnend hinter ihrem Wirtschaftsbuche saß, war es still geworden, bis die Uhr die elfte Stunde verkündigte und ein heftiges Pochen am Hoftor das Mädchen emporfahren ließ. Gleich darauf wurde die Stimme des alten Hofmeisters laut, der die geschlossene Pforte öffnete, und im nächsten Augenblick überschritt eine elastische Männergestalt die Zimmerschwelle. Der Ankömmling stutzte einen Augenblick, als er dem Mädchen gegenüberstand, dann rief er: „Ist das wirklich die kleine Liesch, die jetzt als stattliches Fräulein vor mir steht, oder?!

„Detlev — wie kommt der Herr Oberst zu so später Stunde hierher?“ hatte errötend Luise v. Plützkow erwidert. Aber nur eine kurze Zeitspanne währte die Beklommenheit des Mädchens, dann fand sie, von dem treuherzigen Ton des Heimgekehrten ermutigt, die frühere Unbefangenheit der Kinderjahre wieder, mit ihm wie mit einem älteren Bruder über den Vater, seinen leidenden Zustand, seine Bedrängnis zu plauern.

„Seinetwegen kam ich hauptsächlich her,“ erklärte Hans Detlev, „wenn ich auch nur deshalb für acht Tage aus der Gefangenschaft beurlaubt bin, weil ich dem dänischen Kommandanten, General v. Scheel, vorstellte, dass ich wegen Einlösung meines verpfändeten Edelmannswortes am mecklenburgischen Buß- und Bettag in meiner Heimat sein müsse. Du kennst doch den verwünschten Kontrakt, Liesch? Engelke soll nicht sagen können, dass ein Bassewitz sein Versprechen nicht pünktlich bis auf die Minute gehalten habe.“

Luise v. Plützkow war bleich geworden und hatte stumm das Gesicht weggewandt.

„Es wird mir jetzt schwerer werden, als ich noch vor wenigen Minuten dachte, Liesch,“ fügte er beklommen hinzu, als das Mädchen ihm plötzlich ihre Hand, die er in der seinen hielt, entzog; „doch an mich zu denken, ist jetzt keine Zeit. Höre, Liesch, der Vater muss fort, noch in dieser Nacht; morgen können schon die Kosaken hier sein! In Stralsund raunt man sich das Gerücht in die Ohren, dass der Zar Peter den Edelleuten einen Bußtag bereiten wolle, an den sie zeitlebens denken würden. Mit dem Hofmeister habe ich schon draußen das Nötige verabredet. Er muss versuchen, den Vater im verdeckten Planwagen nach Wismar zu bringen, wo er vorläufig geborgen sein wird, und Du, Liesch, fährst zu seiner Pflege mit ihm. Freilich, wie ich Dir jemals alle Deine Aufopferung vergelten soll?!“

Das Gespräch blieb unvollendet, denn in demselben Moment erscholl abermals ein dröhnendes Klopfen am Hoftor; dann stürzte, zitternd wie Espenlaub, der Hofmeister mit dem Angstschrei: „Die Kosaken!“ herein.

Hans Detlev hatte das bebende Mädchen in die anstoßende Kammer geschoben mit der Weisung, dass der Vater mit keinem Laute seine Anwesenheit verraten möge. Unbefangen öffnete er dann selbst die Tür zum Flure und trat dem Hauptmann, der in Begleitung eines Dolmetschers ins Zimmer schritt, entgegen.

„Meine Ordre,“ sagte der Russe, indem er ein mit dem Petschaft des Zaren und dem des Herzogs versiegeltes Schreiben in Hans Detlevs Hände legte.

„Kosakenhauptmann Roppen hat Befehl, den Herrn v. Bassewitz auf Lütken-Wolmstorff gefänglich wegzuführen,“ erläuterte der Dolmetscher. Hans Detlev sah, dass man ihn offenbar für den Gutsherrn hielt, und mit rascher Geistesgegenwart war sein Plan, das Missverständnis zu Gunsten des Vaters zu benutzen, gefasst.

„Ich füge mich,“ sagte er, indem er den Verhaftungsbefehl höflich zurückreichte, während der Dolmetscher den scheu an der Tür spähenden Hofmeister am Ärmel hereinzerrte und zur gewissenhaften Rekognoszierung des Arrestanten die Frage an ihn richtete: „Kennt Er diesen Herrn?“

„Zu Gnaden – woll! Der Herr von Bassewitz,“ lautete die im Bewusstsein, damit die volle Wahrheit zu bekennen, hervorgestammelte Antwort. Sodann wurde dem jungen Bassewitz ohne Umschweife bedeutet, das von zwei Kosaken bereit gehaltene Pferd zu besteigen, worauf die etwa 30 Mann starke Schaar, den Gefangenen in ihrer Mitte, in die mondhelle Julinacht
hinaustrabte.

Ungefähr um dieselbe Zeit, wo sich diese Scene auf Lütken-Wolmstorff abwickelte, hatte sich auch auf Gut Barnekau ein Kosakentrupp unter Führung des Hauptmanns Jakoble?f, der der deutschen Sprache ziemlich mächtig war und deshalb keinen Dolmetscher brauchte, eingefunden. Es machte der Schlauheit der Jungfer Dörte alle Ehre, dass sie, schnell gefasst, hoch und teuer versicherte, ihr Vater sei, nachdem er für längere Zeit Abschied genommen, soeben auf und davon geritten. Wohin - wisse sie nicht. Da man nach genauer Durchsuchung des Gutes Herrn Engelke nicht gefunden hatte, so war der Kapitän mit seiner Mannschaft in der Richtung nach Lütken-Wolmstorff aufgebrochen, weil er, der vorhergegangenen Verabredung gemäß, mit seinem Kameraden Roppen wieder zusammentreffen wollte, um dann gemeinschaftlich mit diesem die Gefangenen nach Rostock zu bringen. Nun führte tatsächlich die Laune des Zufalls eines jener Wirrnisse herbei, wie sie sonst nur die Phantasie der Lustspieldichter zu erfinden pflegt. Wohl schwerlich hatte Herr Engelke bei seinem Nachhauseritt geahnt, dass er denen schnurstracks in die Hände laufe, welchen er in den nächsten Stunden zu entrinnen gedachte. Eben wollte er an der Lütken-Wolmstorffer Schäferei, die an der äußerten Gemarkungsgrenze des Gutes lag, vorüberreiten, als er im Mondschein deutlich die berittene Schaar hinter einem Fichtenwäldchen auftauchen sah. Von eisigem Schreck überrieselt, folgte er einer instinktiven Eingebung, sprang vom Pferde und kroch aufs allen Vieren in die kaum mannshohe Strohhütte, welche dem Lütken-Wolmstorffer Schäfer zum Nachquartier diente. Es blieb ihm nur gerade noch so viel Zeit, sich mit dem Guthirten über die Veranlassung seines unfreiwilligen Besuchs zu verständigen und sich als Engelke v. Plesssen zu erkennen zu geben, als auch schon das reiterlose Pferd den Verdacht der herangekommenen Kosaken rege machte und sie zum Anhalten veranlasste. Kalter Angstschweiß trat dem Lauschenden auf die Stirn, als er aus den abgebrochenen Reden des Hauptmanns mit seinen Leuten vernahm, dass man lediglich auf ihn Jagd mache. Er drückte bebend dem neben ihm auf dem Stroh kauernden Schäfer seine Börse in die Hand und beschwor den Alten, mit keiner Silbe seinen wahren Namen zu verraten, wenn er nun doch entdeckt würde, sondern zu bezeugen, dass er der Herr v. Bassewitz sei. Wie ein Ertrinkender, der sich an einen Strohhalm klammert, baute wohl Herr Engelke mit diesem, der blassen Furcht entsprungenen Einfall auf die freilich nur sehr schwache Möglichkeit, dass der Hauptmann nur zur Verhaftung des Barnekauer Herrn Auftrag habe und sich deshalb um den von Lütken-Wolmerstorff nicht bekümmern werde. Vielleicht war des alten Bassewitz Verhaftung in Rücksicht auf seinen hinfälligen Zustand überhaupt nicht beabsichtigt. Unumstößlich gewiss und verbürgt ist es, dass Herr Engelke in der nächsten Minute den Versuch machte, sich herauszuflunkern. Die Kosaken durchstöberten, wie nicht anders zu erwarten, die Strohhütte und zogen Beide, Herrn wie Knecht, hervor. Als sich Herr Engelke, mehr tot als lebendig, als Oberst v. Bassewitz ausgegeben hatte, und der Schä?er bezeugte, dass er „der gnädige Herr Oberst“ sei, geschah das Gegenteil von dem, was Herr Engelke erhoffte.

„So wird sich Kamerad Roppen freuen, wenn ich für ihn den schon halb entwischten Vogel fange,“ hatte Jakobleff gelassen bemerkt und ohne Weiteres angeordnet, den vermeintlichen Bassewitz auf seinen eigenen Gaul zu setzen und mit ihm den Abmarsch nach dem etwa eine Meile von beiden Gütern gelegenen Dorfe Lütken-Schwan, das von Jakobleff und Roppen als Ort des Zusammentreffens bestimmt worden war, anzutreten.

Nach scharfem Ritt, bei dem Herrn Engelke nach der Aufzeichnung seines Biographen „Bauch und Rippen krachten“, gelangte man kurz nach Mitternacht vor dem Dorfe Lütken-Schwan an. Roppen war bereits zur Stelle und hielt mit seinen Kosaken auf einer mit frischgemähtem Heu bedeckten Wiese, auf der, seiner Anordnung zufolge, bis zum Anbruch des Morgens gerastet werden sollte. Aus dem am Eingange des Dorfes befindlichen Wirtshause hatten seine Kosaken ein Fässchen Branntwein herbeigeschafft, mit dessen Inhalt sich die russischen Kehlen eben zu erlaben begannen. Beide Hauptleute machten höchst verdutzte Gesichter, als zuerst Jakobleff seinen Gefangenen dem Kameraden als Herrn v. Bassewitz vorgeführt hatte, und Roppen hierauf versicherte, dass er gleichfalls den Oberst v. Bassewitz in Gewahrsam habe. Beide waren auch zugleich darüber einig, dass nur einer von ihren Gefangenen der echte Bassewitz sein könne und hier ein ihnen unerklärlicher Irrtum walten müsse, den zu entwirren sie jedoch keineswegs als ihre Aufgabe erachteten. Jeder erklärte vielmehr, vollauf seiner Pflicht genügt zu haben, da bei jeder Verhaftung durch die Aussage eines Dritten die Persönlichkeit des zu Verhaftenden genügend festgestellt worden sei, und die Untersuchung höheren Ortes werde ja unzweifelhaft ans Licht bringen, welcher von den beiden gleichnamigen Gefangenen der gewünschte sei. So wurden sie, nachdem sie gleichfalls dem beliebten russischen Labetrank gebührend zugesprochen, darüber einig, ihre beiden Bassewitze am nächsten Morgen ruhig nach Rostock zu befördern und alles Übrige der Weisheit und Einsicht des Generals Repnin oder des Zaren selbst zu überlassen, und mit Seelenruhe streckten sich beide Kosakenführer in der Mitte ihrer Leute aufs Heu, auf dem auch den Gefangenen, mit den Füßen an einen alten hohlen Weidenbaum festgebunden, ihr Nachtlager bereitet worden war.

Das unverhoffte Wiedersehen zwischen Engelke v. Plessen und seinem künftigen Schwiegersohn hatte sich im ersten Moment des gegenseitigen Erkennens nur in einem sprachlosen Staunen geäußert, dann, als sich Beide durch das Schnarchen ihrer Hüter überzeugt, dass jetzt eine unbelauschte Verständigung erfolgen könne, war Herr Engelke der Erste, der seinem gepressten Herzen in der berechtigten Frage Luft machte, wie er zu der „unerwarteten Überraschung dieses Zusammentreffens mit seinem künftigen Tochtermann komme.

„Weil ich heute zum festgesetzten Termin mit Jungfrau Dorothea Verlobung feiern wollte,“ versetzte Detlev mit ironischem Behagen und setzte dann zugleich den Hergang seiner auf einem Missverständnis beruhenden Verhaftung auseinander. Es wurde Herrn Engelke nicht ganz leicht, mit gleicher Offenheit von seiner fehlgeschlagenen Spiegelfechterei zu berichten.

„Jedenfalls liegen die Karten für mich günstiger, als für Euch, Herr Engelke,“ meinte Hans Detlev kalt, nachdem Herr Engelke seine Beichte beendet hatte, „da ich ohnehin Gefangener bin und auf Grund meines dänischen Passes, den ich bei mir trage, jederzeit beweisen kann, dass ich an dem Missverständnis schuldlos bin. Ihr aber habt die Abgesandten des Zaren wissentlich getäuscht, und das kann Euch teuer zu stehen kommen.“

Zwar suchte sich Herr Engelke selbst Mut einzusprechen, indem er bewies, dass die Einkerkerung eines Edelmanns im eigenen Heimatlande durch einen fremden Machthaber gegen alles Völkerrecht gehe, und der Kaiser eine so unerhörte Gewalttat, wie es die Wegführung mecklenburgischer Untertanen nach Russland sei, nimmermehr dulden werde; allein Hans Detlev gefiel sich darin, den Leidensgefährten absichtlich auf die Folter zu spannen. Für den Zaren Peter den Großen - bemerkte er - gelte nur das Recht des Stärkeren, das habe er der Welt schon oft genug gezeigt, und ehe man die Hilfe des kaiserlichen Reichshofgerichts angerufen habe, könne die Galeere mit den Gefangenen längst nach russischen Gestaden davongesegelt sein.

Mit stumpfer Ergebung hatte sich dann Herr Engelke in seinen Heuhaufen gewühlt, um nach kurzem, unerquicklichem Schlummer beim ersten Dämmern des Morgens an der Seite seines schlimmen Trösters zu erwachen. Dieser saß schon aufgerichtet und hielt ein zusammengefaltetes Papier, das er seiner Brusttasche entnommen hatte, in der Hand.

„Mein Pass,“ flüsterte er Herrn Engelke leise zu, „passt im Grunde auch auf Euch, da er kein Signalement enthält, sondern nur besagt, dass dem Inhaber dieses Passierscheines, dem Obersten Hans Detlev v. Bassewitz, zur Zeit Kriegsgefangenem Seiner dänischen Majestät Friedrichs IV. zu Stralsund, Urlaub erteilt worden ist, vom 16. bis zum 22. Juli zur Erledigung dringender Familienangelegenheiten in seine Heimat Lütken-Wolmstorff reisen zu dürfen.“

Engelke v. Plessen schaute dem Obersten mit ängstlicher Spannung ins Gesicht.

„Unser beiderseitiges Äußeres kann nichts verraten, da ich, wie Ihr seht, in Zivilkleidung bin. Wenn uns das Glück wohl will, Herr Engelke, und der Scharfblick unserer Rostocker Richter nicht tiefer dringt, als der ihrer Handlanger, so lohnt es sich schon, zu Eurer Befreiung den Versuch zu wagen. Ihr steckt meinen Pass in die Tasche und weist Euch im Verhör zu Rostock als den schwedischen Obersten v. Bassewitz aus, während ich die Rolle des Lütken-Wolmstorfer Bassewitz weiterspiele. Gelingt der Streich und lässt man Euch frei, so reitet Ihr natürlich schleunigst nach Wismar; gelingt nicht, nun, so erwartet Euch auch nichts Schlimmeres, als jetzt.“
Die Keckheit, mit der Hans Detlev im Wagemut der Jugend seine nur auf gut Glück gebaute Kriegslist entwickelte, musste ansteckend auf Herrn Engelke wirken, denn er schloss binnen wenigen Minuten, bevor sich noch die Kosaken ihrem Morgentraum entwanden, mit Hans Detlev einen kühnen Pakt.

„Eine Freiheit ist der anderen wert,“ meinte Hans Detlev, als Herr Engelke mit neubelebter Hoffnung nach dem Rettungsanker des Passes griff, „wenn ich Euch aus russischen Ketten und Banden befreie, tut Ihr mir wohl den Gefallen und gebt mich von Eurer Dorothea los.“ Damit klappte Hans Detlev hurtig seine Brieftasche auf, warf rasch mit Bleistift einige Zeilen auf ein Blatt und reichte es dem fragend dreinschauenden Gefährten. „Unterzeichnet - es ist keine Zeit zu verlieren - dass Ihr mir, sofern Euch mein Pass der Gefangenschaft entledigt, die Hand Eurer Tochter Dorothea verweigert und das kontraktlich festgesetzte Reuegeld zu zahlen gewillt seid.“

Einige Schläfer begannen sich zu regen, an ein längeres Überlegen war nicht zu denken, und Herr Engelke gab mit zitternden Fingern die Brieftasche mit dem heikelsten Kontrakt, den er jemals unterschrieben hatte, an Hans Detlev zurück. Dieser drückte ihm dankbar die Rechte, indem er sich am Weidenbaum emporrichtete und dabei mit der anderen Hand, als bedürften seine gefesselten und steif gewordenen Glieder eine Stütze, für einen Augenblick in die Höhlung des morschen Stammes griff. Gleich darauf waren auch die Kosaken auf den Beinen, befreiten die Füße der beiden Schlaf- und Schicksalsgenossen von den Stricken und jagten dann mit ihnen auf der nach Rostock führenden Straße davon.

Drei Tag später fand in dem von der russischen Generalität bezogenen herzoglichen Sommerpalst vor dem Kröpeliner Tor in Rostock das Verhör der eingelieferten Edelleute statt.*) Außer dem General, Fürsten Repnin, harrten im Sitzungssaale der Adjutant des Zaren, Herr v. Jagozinsky, der russische Vizekanzler v. Schaferoff und eine Menge höherer Offiziere des Eintritts Peters des Großen, der in eigener Person der Vernehmung beizuwohnen gewillt war. Zwischenvier mit aufgepflanzten Bajonetten postierten Grenadieren warteten in einem Seitenzimmer die vier Gefangenen, die Herren v. Pederstorff und v. Oertzen, sowie Hans Detlev v. Bassewitz, und Engelke v. Plessen der Dinge, die da kommen sollten.

*) Wiedergabe des historischen Vorgangs

Letzterem stand die herzklopfende Bangigkeit vor der Entscheidungsstunde, die jetzt geschlagen hatte, auf dem Gesicht geschrieben. Er zuckte zusammen, als zunächst die beiden erst genannten Herren in den Saal beschieden wurden. Ihre Vernehmung dauerte nur wenige Minuten, dann wurden sie wieder heraus und nach dem Gefängnis abgeführt. Hierauf war der kritische Augenblick gekommen; Herr Engelke hatte all’ seine Mannhaftigkeit zusammengerafft und stand neben Hans Detlev zwischen den Wachposten vor dem Zaren und seiner Generalität. Sein Mut begann zu wachsen, als seine Blicke nur fremden russischen Gesichtern begegneten, und er die Überzeugung gewann, dass kein Beamter des herzoglichen Hofes oder sonst Jemand zugegen sei, dem seine Persönlichkeit bekannt sein konnte. Der Umstand, dass der Herzog in der Tat erklärt hatte, sich mit den aufsässigen Gutsherren nicht mehr befassen zu wollen, „da solche Subjekte seinem Lustre und Splendeur nicht konvenabel wären," und er die Angelegenheit einzig dem Ermessen Seiner zarischen Majestät überlasse, kam dem listigen Wagestück Hans Detlevs und Engelkes zu Statten.

Dem kurzen, fast übers Knie gebrochenen Verfahren nach kann es Peter dem Großen wohl kaum mit der Untersuchung und Bestrafung der Empörer Ernst gewesen sein. Vielmehr schien es sich um einen blinden Schreckschuss zu handeln; denn als nun der Bericht der beiden Kosakenführer verlesen war, richtete der Dolmetscher, ohne dass man eine Klarlegung des Verwandtschaftsverhältnisses der Beiden für notwendig erachtete, einfach die Gewissens?rage an Herrn Engelke, wie es komme, dass er mit dem auf Lütken-Wolmstorff Verhafteten ein- und denselben Namen führe. Da erklärte denn Herr Engelke mit bewunderungswürdiger, mit jedem Worte wachsender Dreistigkeit von der Leber weg, er habe seinen Lütken-Wolmstorffer „Vetter“ an jenem Abend zu besuchen gedacht und sei - wie sein dänischer Pass beweise - aus seiner Stralsunder Gefangenschaft beurlaubt gewesen. Auf einen Wink des Generals Repnin legte er das aus seiner Brusttasche hervorgezogene Schriftstück auf dem Tische der Untersuchungsrichter nieder. Der Zar warf einen flüchtigen Blick darauf, flüsterte dem General einige Worte in russischer Sprache zu, worauf dieser den Geleitsbrief ohne jeden Argwohn durch Vermerk visierte und ihn seinem Inhaber mit dem Bedeuten zurückreichen ließ, dass er seiner Haft entlassen sei und ohne Verzug nach Stralsund zu den Verbündeten Seiner zarischen Majestät zurückzukehren habe.

Nach diesem Akt salomonischer Richterweisheit hatte Hans Detlev, der den „Vetter“ freudetaumelnden Schrittes zur Tür hinauseilen sah, gewonnenes Spiel. Auch zur Feststellung seiner Personalien erfolgte weder ein genaueres Verhör, noch Zeugenvernehmung. Vielmehr wurde ihm, wie es bereits mit den Herren v. Pederstorff und v. Oertzen geschehen, als dem Erbgesessenen von Lütken-Wolmstorff, ein Sündenregister vorgelesen, dass er mit den übrigen schuldigen Mitgliedern der Ritterschaft „den Respekt vor der Frau Herzogin schnöde vergessen, die russische Mitbesetzung der Stadt Wismar zu verhindern gesucht, mit den Schweden daselbst verräterischen Briefwechsel gepflogen und den Zaren bei seiner Ankunft in Mecklenburg nicht begrüßt habe, weshalb er bis zur Fällung des Endurteils einem gefänglichen Gewahrsam überliefert werde.“

Diese Gefangenschaft hatte denn auch Hans Detlev zur Stunde anzutreten. Er wurde mit den vor ihm verhörten Herren nach Güstrow geführt und dort bis zum 20. Oktober unter der Obhut der russischen Besatzung in Haft gehalten. Da von dänischer Seite eine Nachforschung wegen ihres nicht wieder zurückgekehrten Kriegsgefangenen unterblieb, und Peter der Große, ohne sich weiter um die Verhafteten zu bekümmern, noch im Juli zu seinen dänischen Verbündeten nach Kopenhagen segelte, so gelangte diese Komödie der Irrungen nicht eher zur Kenntnis der Mitwelt, als bis die Freilassung der Eingekerkerten erfolgte. Das geschah allerdings erst auf ein nachdrückliches Schreiben des deutschen Kaisers Karl VI. an den Zaren, in welchem diesem vorgestellt wurde, „wie sehr unanständig und unangenehm Ihrer zarischen Majestät sein würde, wenn ein fremder Regent unter dem Vorwand,
dass ihn die Sache selbst angehe, in Dero Reich über Dero Bojaren und dergleichen Untertanen eine ähnliche Gefabgenschaft exerzieren wollte“.*)

*) Urkundlicher Wortlaut.

In den folgenden Oktobertagen, wo auch den nach Wismar Geflüchteten durch herzoglichen Erlass eine „sichere und ungekränkte Rückkehr“ verbrieft worden war, durften die von ihren Besitzungen monatelang verbannten Adeligen den heimischen Grund und Boden wieder begrüßen. Mit dem Nachbar Engelke zusammen fuhr der alte Bassewitz, in Begleitung seiner treuen Pflegerin, der Liesch, den Lütken-Wolmsstorffer Fluren entgegen. Am Dorfe Lütken-Schwan - so weiß die Überlieferung der mehrfach genannten Quelle noch zu erzählen – bewillkommnete sie der bereits seit Tagen eingetroffene Hans Detlev, welcher den Heimkehrenden bis zu der erinnerungsreichen Stätte jenes sommerlichen Nachtlagers entgegengeritten war. Herr Engelke machte ein sauersüßes Gesicht, als er sah, wie Hans Detlev die glutübergossene Luise v. Plütkkow vor den Augen des erstaunten Vaters in seine Arme schloss.

„Du weißt noch nicht, Vater, dass mir unser Nachbar
die Hand seiner Tochter Dorothea versagt hat und kontraktgemäß die Hälfte der auf Lütken-Wolmstorff lastenden Schuld streicht,“ sagte er erklärend, holte aus seinem Rock die Brieftasche hervor und flüsterte Herrn Engelke, der mit ärgerlicher Handbewegung das ihm vorgehaltene Heftchen zurückschob, ins Ohr: „Wie das gekommen ist, bleibt natürlich unter uns. Aber es war doch hübsch, dass ich die Brieftasche noch glücklich im Stamm der hohlen Weide, wohin ich sie für den immerhin möglichen Fall einer Durchsuchung unserer Taschen verborgen hatte, wieder unversehrt vorfand.“

Herr Engelke hat denn auch wirklich gute Miene zum bösen Spiel gemacht und sein schriftliches Versprechen gehalten, so dass Hans Detlev v. Bassewitz, als er bald darauf seine durch Handstreich eroberte Liesch zum Altar führte, die Bewirtschaftung eines von der drückendsten Schuld entlasteten Gutes anzutreten vermochte.

Rostock 07 Das Kröpeliner Tor in der Zeit des 30jährigen Krieges

Rostock 07 Das Kröpeliner Tor in der Zeit des 30jährigen Krieges

Rostock 08 Altes Giebelhaus

Rostock 08 Altes Giebelhaus

Rostock 02 Die Marienkirche und der Marktplatz

Rostock 02 Die Marienkirche und der Marktplatz

Rostock 03 Die Petrikirche

Rostock 03 Die Petrikirche

Bauer und Bäuerin aus Biestow bei Rostock

Bauer und Bäuerin aus Biestow bei Rostock