Paris und Westschweiz

Zum zweiten Male eroberte sich Schweizer Eigenart mitten in der alles verflüchtigenden Franzosenkultur des 18. Jahrhunderts ihren Platz. Die Kunst à la mode, so wie sie am Königshof in Paris aus der dicken und schweren Puppe der Barockkunst sich entfaltet hatte, flattert auf bunten Schmetterlingsflügeln auch in die Schweiz. Paris bildet die Meister aus, Paris gibt die Modelle, Paris verkündet die Parole für alles und jedes.

Der Geschmack von Paris, tyrannisch aber wohltätig, weil er nicht bloß die Äußerlichkeiten des Lebens berührt, sondern die Grundlagen der Lebenshaltung verbessert und das ganze Dasein von der Wiege bis zum Grabe umgestaltet, bewirkt es, dass über die welschen und deutschen Kantone eine gleichmäßige und in allem Wesentlichen gemeinsame Form der künstlerischen Ausstattung wie ein Gesetz anerkannt wird. Die Laune der Mode entlieh von der hohen Kunst in Theorie und Praxis eine Rechtsgültigkeit, der sich niemand entziehen konnte.


Aber nur scheinbar hat diese einförmige Allerweltskunst der Zopfzeit ganz Europa französiert. Unter der leichten Hülle des Pariser Geschmackes heben sich überall die besonderen Formen nationaler Eigenart ab. Denn die französische Kultur gestattete als Entgelt für ihre Alleinherrschaft alle nur denkbaren Freiheiten. Das „Wie“ kümmerte sie nicht. Eigentlich begnügte sie sich mit der Anerkennung ihrer Diktatur und ließ es zu, dass jeder es nach seiner Weise trieb. Die ausgesuchte Feinheit des Stiles blieb Paris vorbehalten. Bis zur derbsten Vergröberung handhabte ihn der Provinziale und Ausländer.

Die Schweiz hat auch ihr eigenes Rokoko. Im deutschen Teil ebenso gut wie im welschen. Beide sind unter sich verschieden. Und doch gehören sie gerade wegen der nah verwandten Stadt- und Landbauten enger zusammen, als je vorher. Denn die Renaissance war als eine deutsche Mode ins Land gekommen und machte deshalb an der Sprachgrenze Halt. Wohl springt auch von Frankreich ein geistreicher und namentlich im Handwerk gewählter Ziersinn auf welschen Boden über, unverkennbar in seinem besonderen Geschmack; aber auch diese vom Pariser Hof Franz I. ausgebildete Mode macht an der Sprachgrenze Halt. Jetzt aber wehrt keine Sprache und keine Mundart dem Eindringen des Rokoko.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die alte Schweiz