Die Zwergmaus.

Die Gartenlaube, illustriertes Familienblatt.
Autor: Brehm, Alfred (1829-1884) deutscher Zoologe und Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1863
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So schmuck und nett alle unsere keinen Mäuse sind, so allerliebst sie sich in der Gefangenschaft betragen: das kleinste Mitglied der Familie, die Zwergmaus, übertrifft jene doch in jeder Hinsicht! Sie ist beweglicher, geschickter, munterer, kurz ein viel anmutigeres Tierchen, als alle übrigen. Ihre Länge beträgt bloß 5 Zoll, und davon kommen auch noch 2 1/2 Zoll auf das Schwänzchen, so das der eigentliche Körper nur etwa 2½ Zoll lang ist. Die Höhe am Widerrist beträgt nur einen Zoll, das Gewicht schwankt zwischen ein und zwei Quentchen. Die Zwergmaus verdient also ihren Namen; es giebt ja auch nur ein einziges Säugetier noch, die uns schon bekannte Zwergspitzmaus, welche kleiner ist als sie.
Ganz wunderbar im Verhältnis zu dieser geringen Größe ist die auffallende Verbreitung des lieblichen Tierchens. Von jeher hat die Zwergmaus den Tierkundigen viel Kopfzerbrechens gemacht. Pallas entdeckte sie in Sibirien, beschrieb sie genau, bildete sie auch ganz gut ab; aber fast jeder Forscher nach ihm, dem sie später in die Hände kam , stellte sie als eine neue Art auf, und jeder glaubte, in seinem Rechte zu sein. Allerdings wechselt die Pelzfärbung der Zwergmaus nicht unbeträchtlich ab. Gewöhnlich ist sie zweifarbig, die Oberseite des Körpers und der Schwanz gelblich braunrot, die Unterseite und die Füße scharf abgesetzt weiß; nun aber kommen dunklere und hellere, rötlichere und bräunlichere, grauere und hellere vor; die Unterseite steht nicht so scharf im Gegensatz mit der oberen; junge Tiere haben andere Körperverhältnisse als die alten und noch eine ganz andere Leibesfärbung, nämlich viel mehr Grau auf der Oberseite: kurz, diese Verschiedenheit kann den nicht sehr sorgfältig prüfenden Forscher schon verwirren. Außerdem erschien es ja auch zu wunderbar, daß ein Tier, welches in Sibirien entdeckt wurde, in Deutschland leben sollte! Aber die fortgesetzte Beobachtung ergab als unumstößliche Wahrheit, daß unser Zwerglein wirklich von Sibirien an durch ganz Russland, Ungarn, Polen und Deutschland bis nach Frankreich, England und Italien reicht, und jetzt wird allgemein angenommen, daß sie nur ausnahmsweise in manchen Gegenden nicht vorkommt. Sie findet sich eigentlich in allen Ebenen, wo der Ackerbau blüht, und keineswegs immer auf den Feldern, sondern vorzugsweise im Schilf und im Rohr, in Sümpfen und in Binsen. In Sibirien und in den Steppen am Fuße des Kaukasus ist sie gemein, in Russland und England, in Schleswig und Holstein wenigstens nicht selten. Aber auch in den übrigen Ländern Europas kann sie zuweilen häufig werden.
Während des Sommers findet man das schmucke Tier in Gesellschaft der Wald- und gemeinen Feldmaus in Getreidefeldern, im Winter massenweise unter Feimen oder auch in Scheunen, in welche sie mit der Frucht eingeführt wird. Wenn sie im freien Felde überwintert, bringt sie einen großen Theil der kalten Zeit zwar schlafend zu, fällt aber niemals in völlige Erstarrung und sammelt sich deshalb während des Sommers auch recht hübsche Vorräte in ihren Höhlen ein, um davon leben zu können, wenn die Not an die Pforte klopft. Ihre Nahrung ist die aller übrigen Mäuse, Getreide und Sämereien verschiedener Gräser, Kräuter, namentlich aber auch kleine Kerbtiere aller Art. In ihren Bewegungen zeichnet sich die Zwergmaus vor allen anderen Arten der Familie aus. Sie läuft ungeachtet ihrer geringen Größe ungemein schnell und klettert mit größter Fertigkeit, Gewandtheit und Zierlichkeit. An den dünnsten Ästen der Gebüsche, an Grashalmen, die so schwach sind, daß sie sich mit ihr zur Erde beugen, schwebend und hängend, läuft sie empor, fast eben so schnell an Bäumen, und der dünne Schwanz wird dabei so recht geschickt als Wickelschwanz benutzt, gerade, als hätte der kleine Nager solche Künste den Brüllaffen abgestohlen. Auch im Schwimmen ist die Zwergmaus wohl erfahren, und im Tauchen sehr geschickt. So kommt es, daß sie überall wohnen und leben kann.
Ihre größte Fertigkeit entfaltet die Zwergmaus aber doch noch in etwas Anderem. Sie ist eine Künstlerin, wie es wenige giebt unter den Säugetieren, eine Künstlerin, die mit den begabtesten Vögeln zu wetteifern sucht. Sie baut ein Nest, das an Schönheit alle andern Säugetiernester weit übertrifft. Als hätte sie es einem Rohrsänger oder Stufenschwanz abgesehen, so eigentümlich wird der niedliche Bau angelegt. Das kugelrunde Nest, welches ungefähr faustgroß ist, steht nämlich, je nach der Ortsbeschaffenheit, auf zwanzig bis dreißig Riedgrasblättern, deren Spitzen zerschlissen und so durch einander geflochten sind, daß sie das eigentliche Nest von allen Seiten umschließen, oder hängt über zwei bis drei Fuß hoch über der Erde frei an den Zweigen eines Busches, an einem Schilfstängel und dergleichen, so daß es aussieht, als schwebe es in der Luft.
In seiner Gestalt ähnelt es am meisten einem stumpfen Ei, einem rundlichen Gänseei z. B., dem es auch in der Größe ungefähr gleichkommt. Die äußere Umhüllung besteht immer aus gänzlich zerschlitzten Blättern des Rohrs oder Riedgrases, deren Stängel die Grundlage des ganzen Baues bilden. Die keine Künstlerin nimmt jedes Blättchen hübsch mit den Zehen in den Mund und zieht es mehrere Male zwischen den nadelscharfen Zahnspitzen durch, bis jedes einzelne Blatt sechs-, acht- oder zehnfach geteilt, gleichsam in mehrere besondere Fäden getrennt worden ist; dann wird das Ganze außerordentlich sorgfältig durcheinander geschlungen, gewebt und geflochten. Das Innere ist mit Rohröhren, mit Kolbenwolle, mit Kätzchen und Blütenrispen aller Art ausgefüttert. Eine kleine Öffnung führt von einer Seite hinein, und wenn man da hindurch in das Innere greift, fühlt sich das Ganze oben wie unten gleichmäßig geglättet und überaus weich und zart an. Die einzelnen Bestandteile sind so dicht miteinander verfilzt und verwebt, daß das Nest einen wirklich festen Halt bekommt. Wenn man die viel weniger brauchbaren Werkzeuge dieser Mäuse mit dem geschickten Schnabel der Künstlervögel vergleicht, wird man jenen Bau nicht ohne hohe Bewunderung betrachten und muss die Arbeit der Zwergmaus gewiss über die Baukunst manches Vogels stellen, der weit besser ausgerüstet ist.
Jedes dieser Nestchen wird immer zum Hauptteil aus den Blättern derselben Pflanze gebildet, welche den netten Ball trägt. Eine nothwendige Folge hiervon ist, daß das Äußere fast oder ganz dieselbe Farbe hat, wie der Strauch selber, an dem es hängt. Nun benutzt die Zwergmaus jeden einzelnen ihrer Paläste bloß zu ihrem Wochenbette, und das dauert nur ganz kurze Zeit, so sind die Jungen regelmäßig ausgeschlüpft, ehe das Blätterwerk um das Nest verwelken und hierdurch eine auffällige Farbe annehmen konnte.
Man glaubt, daß jede Zwergmaus jährlich zwei bis drei Mal Junge wirft, jedesmal ihrer fünf bis neun. Ältere Mütter bauen immer künstlichere und vollkommenere Nester, als die jüngeren, aber auch in diesen zeigt sich schon der Trieb, die Kunst der alten auszuüben; denn bereits im ersten Jahre bauen sich die kleinen Dingerchen ziemlich vollkommene Nester, um darin zu ruhen. Gewöhnlich verweilen die Jungen so lange in ihrer prächtigen Wiege, bis sie sehen können. Die Alte hat sie jedesmal warm zugedeckt, oder vielmehr die Türe zum Neste verschlossen, wenn sie es verlassen mußte, um sich Nahrung zu holen. Sie ist inzwischen wieder mit den Männchen ihrer Art zusammengekommen und gewöhnlich bereits von Neuem trächtig, während sie ihre Kinder nach säugen muss. Kaum sind dann diese so weit, daß sie zur Not sich ernähren können, so überlässt sie die Alte sich selbst, nachdem sie höchstens ein paar Tage lang ihnen Führer und Rathgeber gewesen ist.
Falls das Glück Einem wohl will und man gerade dazukommt, wenn die Alte ihre Brut zum ersten Male ausführt, hat man Gelegenheit, sich an einem der anziehendsten Familientierbilder aus dem Säugetierleben zu erfreuen. So geschickt die junge Schar ist, etwas Unterricht muss ihr doch werden, und sie hängt auch noch viel zu sehr an der Mutter, als daß sie sogleich selbstständig sein und in die weite, gefährliche Welt hinausstürmen möchte. Da hängt nun eines an diesem, das andere an jenem Halme; das zirpt zu der Mutter auf, jenes verlangt noch die Mutterbrust; dieses wäscht und putzt sich, jenes hat ein Körnchen gefunden, welches es hübsch mit den Vorderfüßen hält und aufknackt; das Nesthäkchen macht sich noch im Innern des Baues zu schaffen; das beherzteste und mutigste Männchen hat sich schon am weitesten entfernt und schwimmt vielleicht bereits unten im Wasser herum, aus dem das Riedgras sich erhebt; kurz, die ganze Familie ist in der lebhaftesten Bewegung und die Alte gar gemütlich da mitten drin, hier helfend, dort rufend, führend, leitend, die ganze Gesellschaft beschützend.
Man kann dieses anmutige Treiben so recht gemächlich betrachten, wenn man sich das ganze Nest mit nach Hause nimmt und in einen enggeflochtenen Drahtbauer bringt. Mit Hanf, süßen Äpfeln, Birnen, Hafer, Fleisch und Stubenfliegen sind die Zwergmäuse leicht zu erhalten, und sie vergelten jede Mühe, welche man sich mit ihnen gibt, durch ihr angenehmes Wesen tausendfach. Ganz allerliebst sieht es aus, wenn man eine Fliege hinhält. Da fahren alle mit großen Sprüngen auf sie los, packen sie mit den Füßchen, führen sie zum Munde und töten sie mit einer Hast und Gier, als ob ein Löwe ein Rind erwürgen wolle; dann halten sie ihre Beute allerliebst mit den Vorderpfoten und führen sie damit zum Munde. Die Jungen werden sehr bald zahm, aber mit zunehmendem Alter wieder scheuer, falls man sich nicht ganz besonders oft und fleißig mit ihnen abgibt. Um die Zeit, wo sie sich im Freien in ihre Schlupfwinkel zurückziehen, werden sie immer sehr unruhig und suchen mit Gewalt zu entfliehen, geradeso, wie die im Käfig gehaltenen Zugvögel zu thun pflegen, wenn die Zeit der Wanderung herannaht. Auch im März zeigen sie dasselbe Gelüste, sich aus dem Käfig zu entfernen. Sonst gewöhnen sie sich bald ein und bauen auch ganz lustig an ihren Kunstnestern, nehmen Blätter und ziehen sie mit den Pfoten durch den Mund, um sie zu spalten, ordnen und verweben sie, tragen allerhand Stoff zusammen, mit einem Worte, sie suchen sich so gut als möglich einzurichten.