Die Zukunft der Juden

Autor: Sombart, Werner (1863-1941) deutscher Soziologe und Volkswirt, Erscheinungsjahr: 1912
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Judenrfage, Antisemitismus, Zionisten, Todschweigepolitik, Judenschaft, Judenproblem, Judenpolitik, Bekenntnisschrift, Ostjuden,
„Ein Volk stehet auf, das andere
verschwindet, aber Israel bleibt ewig.“

Midrasch zu Psalm 36
Inhaltsverzeichnis
  1. Die Aufgabe
  2. Die Judennot
  3. Die Assimilation
  4. Arterhaltung oder Artvernichtung?
  5. Die Juden unter sich
  6. Die Juden unter uns
  7. Volkssturm und Menschentum
I. Die Aufgabe

Wieder einmal ist Israel in aller Munde. Wieder einmal beschäftigt die Frage nach der Zukunft der Juden weite Kreise der Bevölkerung in allen Kulturländern, weil die Gegenwart jeden Tag „die Judenfrage“ uns wieder zum Bewusstsein bringt. Hier bricht sie lärmend hervor in Gestalt blutiger Pogrome oder unblutiger Plünderung der Judenhäuser, wie in Russland oder in England; dort regt sie die Geister zu leidenschaftlichem Kampfe in Wort und Schrift auf, wie die Diskussion der national-jüdischen Bewegung in der Zionistenpresse; dort endlich schwält die Flamme langsam unter Kohlen weiter und wirft nur Funken heraus in den aber. tausend Reibereien, die in allen Ständen der Alltag bringt.

Zwar in der öffentlichen Diskussion ist von den Juden, wenigstens im Westen Europas, wenig mehr die Rede. Das beruht auf einer stillschweigenden Verabredung der großen liberalen Presse: „über Thema“ nicht zu sprechen. Man hegt in diesen Kreisen die Hoffnung, dass die Zeit das Judenproblem schon lösen werde, dass man auf dem besten Wege der Lösung sei, und dass nur durch das ewige Darüberreden der Heilungsprozess dieser Wunde (wie man es nennte aufgehalten werde.

Diese Todschweigepolitik, unter der vor allem breite Teile der Judenschaft selber leiden müssen, die anderer Meinung sind, denen aber keine ,,große“ Presse zur Verfügung steht, ist aber verwerflich. Nicht nur weil sie nicht tapfer, sondern vor allem, weil sie kurzsichtig und unklug ist. Wie kann ein Mensch wirklich glauben, dass das größte Problem der Menschheit stillschweigend aus der Welt geschafft werden könnte? Ahnt man denn nicht, dass man die Gegensätze, die man so gern vertuschen möchte, nur tausendmal schärfer macht, wenn man ihre offene, rücksichtslose Austragung hindert? Schätzen die Leiter der großen liberalen Blätter ihre Leser so niedrig ein, dass sie nicht den Mut haben, ihnen zu berichten, was heute in breiten Kreisen der Judenschaft an neuen Idealen und neuen Zielen lebt?

Die Empörung vor allem über diese Politik unserer großen liberalen Presse hat mich veranlasst diese Schrift zu schreiben, um, was ich vermag, dazu beizutragen, die Erörterung des Judenproblems wieder in das breite Licht der Öffentlichkeit hinaus zutragen. Dazu kam ein persönlicher Grund: ich wollte nicht den Vorwurf der Feigheit auf mir sitzen lassen, der offen und versteckt gegen mich erhoben wurde: weil ich bisher zu dem Problem der praktischen Judenpolitik keine Stellung genommen hätte, obwohl ich so ausführlich über Juden gesprochen habe.

Man hat es mir dann wieder von anderer Seite verargt, dass ich mit dieser Schrift, die keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern nichts als eine Bekenntnisschrift sein will, aus der Reserve heraustrete, die ich mir noch in meinem Buche: "Die Juden und das Wirtschaftsleben“ auferlegt hatte. Die einen haben gesagt, ich würde damit den Einfluss meines Buches abschwächen; die anderen haben mir zu verstehen gegeben, dass mich die „innerjüdischen“ Angelegenheiten wie der Zionismus und die nationaljüdische Bewegung nichts angingen, dass es taktlos von mir wäre, als Nicht-Jude darüber zu reden.

Beide Arten von Bedenken halte ich nicht für berechtigt. Wenn mein Buch über die Juden und das Wirtschaftsleben wissenschaftliche Werte hat, so bleiben diese unberührt durch das, was ich nun, ohne Anspruch auf „Objektivität“ zu erheben, als „Mensch und Zeitgenosse“ über die Zukunft der Juden sage. Meine persönlichen Meinungen über diesen Gegenstand kann jeder seiner Überzeugung nach annehmen oder ablehnen, ohne dass sich darum seine Stellung zu meinen wissenschaftlichen Ausführungen zu ändern brauchte. Man wird das, was ich als wissenschaftliche Erkenntnisse in meinem Buche über die Stellung des Judentums in der Geschichte ausgeführt habe, zu trennen wissen von dem, was ich als persönliche Überzeugung, als ein persönliches Bekenntnis hier mit Bezug auf Zukunftsfragen vortrage.

Mit Entschiedenheit weise ich aber auch den anderen Einwand zurück; ich hätte als Nicht-Jude nicht das Recht, über die Zukunft der Juden zu sprechen. Ja wie denn? Ist denn die Gestaltung dieser Zukunft wirklich eine innerjüdische Angelegenheit, wie etwa die Regelung des Gottesdienstes oder die Absetzung eines Bibliothekars der jüdischen Gemeinde? Wer will uns diesen Unsinn weismachen. Vielmehr ist das ein Problem, von dessen Lösung der letzte unter uns auf das empfindlichste berührt wird. Ob sich die Juden „assimilieren“ sollen oder national-jüdische Politik treiben, soll uns Nicht-Juden nichts angehen?! Ja, ich wüsste nichts, was uns mehr anginge. Nein - nicht nur das Recht, sondern die Pflicht haben wir alle, die wir uns durch jahrelanges Studium des Judenproblems einige Sachkenntnis erworben haben, unsere Ansicht über die verschiedenen Möglichkeiten zu äußern, wie die Zukunft der Juden gestaltet werden könne, da wir damit die Möglichkeiten unserer Kulturentwicklung überhaupt in Frage stellen.

Von dem Standpunkte aus, von dem aus die folgenden Zeilen geschrieben sind, ergeben sich von selbst die Aufgaben, die diese Studie zu erfüllen hat: der Prüfung der Ziele aller Judenpolitik und ihrer Bewertung muss eine Untersuchung der heutigen Lage der Judenheit auf der Erde sowie ein Überblick über die wahrscheinlichen Tendenzen ihrer Entwicklung voraufgehen.

Die Durchführung dieses Programms (die selbstverständlich nicht mehr als eine skizzenhafte sein will und kann) erheischt zunächst eine Übersicht über die Zahl und die räumliche Verteilung der Juden und bringt sofort eine natürliche Einteilung der Juden in verschiedene große Gruppen mit sich, deren Daseinsbedingungen so verschieden sind, dass auch ihre Zukunft eine verschiedene sein wird (und sein soll), die also auch getrennt voneinander zu behandeln sind; in die Gruppen der östlichen und westlichen Juden, wie wir sie nennen können, wobei den westlichen Juden die neu nach Amerika gekommenen Scharen der Ostjuden zugerechnet werden sollen.

Die Ziffern sind folgende (nach den zuverlässigen Zusammenstellungen Dr. Arthur Ruppins in seinem Buche: Die Juden der Gegenwart, 2. Aufl. 1911):

Im ganzen leben jetzt auf der Erde etwa 11 ½ Millionen Juden, davon entfallen auf Russland etwas über 5 Millionen, auf Galizien etwa 1 Million, auf Rumänien ¼ Million, auf Ungarn 1 Million; das sind etwa 6 ½ bis 7 Millionen, die wir als „östliche“ Juden bezeichnen können (wobei die Million ungarischer Juden, von denen ein beträchtlicher Teil in Budapest wohnt, zur Hälfte den westlichen Juden zugerechnet wird). In Westeuropa, das heißt also in Ungarn (zur Hälfte), in Österreich (außer Galiziens, in Italien, den Niederlanden, Frankreich, England, Deutschland gibt es etwa 2 Millionen Juden (in Deutschland rund 600.000). Zu diesen „westlichen“ Juden gesellen sich nun noch die amerikanischen Juden, deren Zahl sich jetzt ebenfalls auf etwa 2 Millionen beläuft (von denen 1 ¾ Millionen in den Vereinigten Staaten, über eine Million in der Stadt Neuyork leben).

Der Rest verteilt sich auf Asien, Afrika und Australien.

Festzug der Prager Juden

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Der Korn- und Weinjude (aus einem satirischen Flugblatt)

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Die Heldinnen des Judentums

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Auszug der Juden aus Wien

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Zug zur Hinrichtung des Juden Süß in Stuttgart

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Plünderung der Judengasse in Frankfurt 1614

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Schwörende Juden vor Gericht

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Jüdischer Hausierer zu Nürnberg  1790

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Judenfriedhof in Fürth im 18. Jahrhundert

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