Die Züchtigung in der modernen Erziehung.

Aus: Die Umschau. Übersicht über die Fortschritte und Bewegungen auf dem Gesamtgebiet der Wissenschaft und Technik. sowie ihrer Beziehungen zur Literatur und Kunst.
Autor: Stern, H. (?-?) Lehrer, Erscheinungsjahr: 1909

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Schule, Lehrer, Schüler, Erziehung, Körperstrafe, Prügel,
Ob die körperliche Züchtigung im Rahmen einer zeitgemäßen Erziehung noch Existenzberechtigung hat, ist eine ernste Frage, die nur dadurch so schwierig geworden ist, dass eine Bewegung, die mehr von Behauptungen als von Tatsachen ausgeht, mehr idealen Träumen als praktischen Zielen nachjagt, die Gesichtspunkte, von denen aus die Frage zu beantworten ist, total verschoben hat.

Der Gedanke, aus dem Kindesleben jede Härte, jeden gewaltsamen Eingriff zu verbannen und es einzig und allein durch die versittlichende Macht der Ideen und des Vorbilds zu erziehen, ist fast so alt wie die Pädagogik selbst. Er tritt immer in Verbindung mit einer übertrieben günstigen Auffassung vom Wesen des Kindes auf, und was sich dabei ändert, sind nur die Schlagworte. Roussau sagte: das Kind ist von Natur gut; heute heißt es; das Kind ist eine Persönlichkeit, die sich ausleben muss. Betrachtet man aber das Kind mit den Augen des objektiv und nüchtern Prüfenden — man kann es trotzdem sehr lieb haben — so findet man weder das eine noch das andre bestätigt.

Das Kind ist wohl eine Individualität, aber keine Persönlichkeit. Die Persönlichkeit wird von Prinzipien beherrscht, das Kind aber von seinen Neigungen, die sowohl gut- als auch bösartig sein können. Aufgabe der Erziehung ist es nun, dem Kinde an Stelle der unzuverlässigen Instinkte sittliche Prinzipien als Triebfedern seines Tuns und Lassens einzupflanzen, d. h. das Kind aus einer Individualität zur Persönlichkeit zu entwickeln. Ob dieses schöne Ziel einmal erreicht wird, ist eine große Frage, und wenn es erreicht wird, ist der Erfolg naturgemäß erst in der Zukunft zu erwarten — und doch verlangen wir heute schon vom Kinde ein unsern Grundsätzen entsprechendes Verhalten, also auch dann, wenn das Kind die nötige Einsicht nicht besitzt und selbst dann, wenn seine Neigungen eine entgegengesetzte Richtung nehmen. Dieses Ziel suchen wir zu erreichen durch Gewöhnung, und wenn auch diese versagt, durch Gewalt, pädagogisch ausgedrückt: durch die Zucht, zu erzwingen. Und deren Hilfsmittel sind eben die Strafen. Zucht und Strafe sind also die letzten Hilfsmittel der Erziehung.

Wer deshalb behauptet, mit Gewaltmitteln erziehe man kein Kind, rennt eigentlich offene Türen ein. Strafen sind Zuchtmittel, keine Erziehungsmittel. Diese, setzen ihr Ziel in die Zukunft, jene erfordern Augenblickserfolge. Bei manchen Kindern sind sie entbehrlich, bei Vielen sind sie eine bedeutende Unterstützung der ethischen Erziehung, bei eben so vielen endlich sind sie das allein Wirksame.

Die Notwendigkeit der Strafe nun zugegeben, kann nicht wenigstens die brutalste, die Züchtigung, die das Ehrgefühl im Kinde tötet und es mit Erbitterung erfüllen muss, entbehrt werden?

Dass die Züchtigung unter allen Umstanden die brutalste Strafe sei, ist eine Übertreibung. Jede Strafe muss, wenn sie wirken soll, eine empfindliche Seite im Leben des Kindes treffen.

Welches diese Seite ist, das ist doch ganz individuell. Es gibt gewiss viele Kinder, denen gegenüber jeder Schlag eine Brutalität wäre, eben so viele gibt es, die nur vor dem Stock Respekt haben. Unter Umständen kann die Züchtigung noch human sein. Ich kenne einen oft kaum zu bändigenden Jungen, der eine wahnsinnige Angst vor dem Einsperren hat. Ich habe in meiner Klasse eine Anzahl armer Kinder, die täglich in die Suppenanstalt geschickt werden. Nun ist das Entziehen von Mahlzeiten bekanntlich eine "beliebte" Strafe. Wer würde es wagen, diesen Kindern, und hätten sie das Schlimmste verbrochen, auch nur einen Löffel Suppe zu entziehen? Was wäre wohl in den beiden angeführten Fällen die größere Brutalität? Kindern allerdings, die an eine gut besetzte Tafel gewöhnt sind, mag es nichts schaden, wenn sie einmal ohne Dessert zu Bett geschickt werden. Ob das aber auch eine Strafe zu nennen ist, mag dahingestellt bleiben. — Nur da ist Züchtigung eine Rohheit,_wo es jede andre Strafe, auch wäre: d. h. wenn sie ungerecht verhängt wird oder auf das_Seelenleben des Kindes keine Rücksicht nimmt."

Damit kommen wir zu einem andern Moment, das von den Gegnern der Züchtigung als Hauptmotiv verwendet wird. Es liegt dem gesunden Kinde völlig fern, in der Züchtigung eine Schande zu sehen, und dadurch erbittert zu werden. Wer das behauptet, legt in die Kindesseele etwas hinein, was von Natur nicht darin ist. Mir und meinen zahlreichen Mitschülern sind solche Gedanken völlig fremd gewesen, und auch von Erwachsenen habe ich nie derartige Mitteilungen erhalten, es sei denn, dass sie sogenannten Prügelpädagogen in die Händegefallen waren. Auch bei meinen Schülern habe ich derartige Empfindungen nie wahrgenommen. Ich übe das mir zustehende Züchtigungsrecht aus, und doch herrscht zwischen mir und meinen Schülern ein Verhältnis, das mich mit Stolz und Freude erfüllt. Das gesunde Gefühl des Kindes für Recht und Unrecht wird eben der verdienten Züchtigung gegenüber nie ein dauerndes Gefühl des Gekränktseins aufkommen lassen.

Wenn aber der Züchtigung eine Gefahr innewohnt, dann ist es eine Gefahr für den Erzieher. Der Missbrauch liegt zu nahe. Aber dagegen ist bekanntlich auch die beste Einrichtung nicht geschützt. Der von Zeit zu Zeit immer wieder auftretende Prügelpädagoge ist ein Auswuchs, den die ganze Strenge des Gesetzes treffen soll. In der Hand eines solchen verrohten, unverständigen Menschen würde jedes Strafmittel ein Marterinstrument für das Kind werden, während das Züchtigungsrecht in der Hand eines gewissenhaften, besonnenen Erziehers nicht bedenklicher ist als jedes andre Zuchtmittel.

Und der Erfolg der Züchtigung? Dass sie keine ethischen Zwecke verfolgen soll, ist schon gesagt worden, dass sie es auch nicht kann, haben mich vornehmlich meine Erfahrungen gelehrt, die ich in mehrjähriger Arbeit an einer Fürsorge-Erziehungsanstalt zu sammeln Gelegenheit gehabt habe. Moralische Defekte, wie Lügenhaftigkeit, Neigung zu Diebstahl, u. dgl. mehr, heilt man mit dem Stocke wirklich nicht, aber gegen alle die Vergehen, die ihre Quelle im Leichtsinn haben, oder solche Angewohnheiten, die man unter dem Ausdruck "Flegeleien" zusammenfasst, hat sich die Züchtigung immer als sehr wirkungsvolles Mittel erwiesen. Somit ist der Züchtigung nur ein engbegrenztes Gebiet einzuräumen, in dessen Grenzen ihr Wert nicht geringer, ihre Anwendung nicht bedenklicher ist, als Wert und Anwendung jedes andern Zuchtmittels. — Propaganda für die Körperstrafe sollen, diese Ausführungen nicht machen. Deshalb habe ich auch die für mich als Lehrer naheliegende Frage des Züchtigungsrechts in der Schule nicht angeschnitten. Sie sollen nur gegenüber einer höchst einseitigen und darum falschen Pädagogik, die einer gesunden Erziehungsreform in Haus und Schule mehr schadet als nützt, die Tatsachen der Wirklichkeit und die Grundsätze einer vernünftigen Praxis zur Geltung bringen.

004 Unterricht im Singen, Lesen und Rechnen in einer Stadtschule mit einer Züchtigungsszene

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005 Herrscherin Rute. Albertus Magnus lehrt

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005 Herrscherin Rute. Das Standessymbol des LehrersJPG

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005 Herrscherin Rute. Lehrer mit drei StudentenJPG

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006 Kaiser Maximilian, der letzte Ritter, beim Unterricht mit seinen Prügelknaben

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007 Vorlesung. Auch der Professor hält seinen Rohrstock bereit

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