4. Hallo! schrie der Bräutigam zusammenfahrend. Das ist ein unhöfliches Anklopfen - wer da?

„Hallo!“ schrie der Bräutigam zusammenfahrend. „Das ist ein unhöfliches Anklopfen - wer da?“

Die übrigen Gäste wandten sich alle rasch und erstaunt nach dem Lärmen um, die einzige Antwort von dort oben her war aber ein erneutes, noch viel stärkeres Gepolter.


„Ei, so hol doch der Henker die Unverschämtheit!“ rief da Metcamp. „Ich will doch sehen...“

Rasch ergriff er den ledernen Riemen, der an dem Drücker hing, riß daran und stieß die Tür auf.

„Ha!“ - Vor sich ein paar stiere, funkelnde, fast aus ihren Höhlen drängende Augen - ein weit aufgerissener Rachen mit blutiger, heraushängender Zunge und weißem fürchterlichen Gebiß - ein Wolfskopf, wie ihn sich die Einbildung nur schrecklich und entsetzenerregend ausmalen kann - hinter ihm aber, dicht über dem gräßlichen Rachen, das totenbleiche, wild blickende Angesicht Ben Holiks, vom Schein der Kerzen geisterhaft beleuchtet.

„Der Wolf - der Wolf!“ schrie Metcamp nach einem nur flüchtigen Blick auf die schauerliche Gruppe. „Der Wolf!“ Und durch die hinzudrängenden Gäste brach er in wilder Hast sich Bahn, zum Fenster sprang er, und ehe nur noch irgend jemand sein Vorhaben hätte erraten oder ihn gar daran hindern können, flog er mit scheuem Satz hinaus und ins Freie.

Die hinten Stehenden, die noch gar nicht sehen konnten, was eigentlich die Ursache solch wunderbarer Behendigkeit gewesen, lachten; die nächst der Tür aber fuhren ebenfalls, kaum minder als Metcamp selbst erschreckt, zurück und starrten überrascht die wunderliche Gruppe an, aus der sie Ben Holiks totenfahle Züge jetzt erkennen konnten.

„Die Glocke - die Glocke!“ war aber alles, was der Jäger mit heiserer, nur den nächsten verständlicher Stimme zu lallen vermochte. „Die Glocke - ich kann - ich kann nicht mehr!“

„Heiliger Gott!“ schrie da Betsy, die schon bei dem ersten Ausruf Metcamps entsetzt emporgesprungen war und, ihren Augen kaum trauend, keines Wortes, keiner Bewegung mächtig, in das totenbleiche, fürchterlich entstellte Antlitz des Geliebten gestarrt hatte. „Heiliger, allmächtiger Gott, zu Hilfe - zu Hilfe!“

„Die Glocke!“ flehte aber nur Ben. „Betsy, die Glocke, oder meine Arme erstarren.“

„Die Glocke? - Was für eine Glocke?“ fragten die Umstehenden wild durcheinander.

„Ha! - Die Wolfsglocke!“ rief das Mädchen, das ganze ihr bis dahin Entsetzliche jetzt rasch und froh begreifend. „Die Wolfsglocke! Nur noch einen Moment, Ben - nur noch wenige Sekunden, und ich bin wieder da!“

Und rasch zur Tür hinaus, dicht an den klaffenden Fängen der Bestie vorbei - so dicht, daß ihre Schulter die blutträufende Zunge fast berührte - glitt die Jungfrau flüchtigen Laufes in das dicht daneben gelegene Haus ihres Vaters, wo die Glocke noch in der Stube (unter der Büchse, wo er sie neulich bei seiner Zurückkunft hingetan) hing, hob sie schnell herunter und war in kaum einer Minute Zeit schon wieder zurück mit dem Verlangten. Indessen hatten sich aber die Männer dort ebenfalls von ihrer ersten Überraschung erholt; der alte Sutton war zu ihnen getreten, und rasch begreifend, um was es sich hier handele, wollte er Ben unterstützen und ihm den Wolf abnehmen. Das gab aber der Jäger nicht zu, da er seiner wie des alten Mannes Sicherheit wegen nicht wagen durfte, dem festen Halt, den er einmal an der Bestie hatte, zu entsagen. Kaum erschien aber Betsy mit der Glocke, so nahm sie ihr Sutton rasch aus der Hand, schlang den Riemen um des jetzt wieder wütend um sich beißenden Wolfes Hals und schnallte ihn nicht zu fest, aber sicher genug, daß er nicht über den Kopf hinüberrutschen konnte, den Wolf jedoch auch nicht hinderte oder gar würgte.

Was aber jetzt, nachdem dies geschehen war, tun? Wie die Bestie, da der Zweck erfüllt war, wieder loswerden? Denn war es nicht möglich, daß sie, in so gereiztem Zustand freigegeben, anstatt zu fliehen, sich gerade gegen ihre Feinde wenden und dort Unheil anrichten konnte, ja am Ende gar, um sie nur wieder loszuwerden, doch noch getötet werden mußte? Das Klingeln der Glocke beunruhigte den Gefangenen immer mehr, seine Anstrengungen wurden wütender, je mehr die Kräfte des armen Jägers nachließen. Zwar sprangen von vielen Seiten die Männer mit Stricken herbei, und einer machte sogar eine Schlinge, um den Wolf daranzuhängen und ihm die Kehle zuzuschnüren, bis er betäubt wäre und hinaus in den Wald geschafft werden könnte - das aber schienen viel zu gefährliche Experimente, denn geschah dem Tier dadurch ein Schaden, so war die ganze Anstrengung vergebens gewesen. Da rief Betsy, die in Todesangst um den Geliebten, die Hände fest gegen die Schläfe gepreßt, daneben gestanden, dem ganzen wirren Treiben zugeschaut und den tausend verworrenen Vorschlägen, wie sie gemacht und verworfen wurden, in namenloser Furcht gelauscht hatte, plötzlich aus:

„Trag ihn in den Garten, Ben, wo der Fluß die Biegung macht - dort ist die Uferbank eingestürzt, und da hinabgeworfen, kann er nur ans gegenüberliegende Ufer schwimmen.“

„Bei Gott, das Mädchen hat recht!“ rief der alte Sutton, und Ben schritt schon ums Haus herum dem bezeichneten Orte zu. Die Fenz, die ihn noch von dem Garten trennte, wurde augenblicklich eingerissen, und wenige Sekunden später stand der Wolfsjäger an dem schroffen Ufer, das unten der vorbeischäumende kleine Bergstrom bespülte. Betsy hatte seinen Arm ergriffen und ihn geführt, daß er nicht etwa einen Schritt zu weit vorgehe sind selber mit hinabstürze.

„Jetzt, Ben!“ rief sie ihm zu, als sie ihn plötzlich zurückhielt. „Jetzt laß los!“

„Gott sei Dank!“ murmelte Ben, und während er noch die Arme öffnete, glitt der dunkle Körper am nachgebenden Sand hinab und schlug plätschernd in die unten über ihm zusammenbrechende Flut.

Jetzt kamen auch mehrere mit rasch herbeigeholten Lichtern herbei, und bei dem matten, ungewissen Schein derselben konnten sie erkennen, wie der schwarze Körper des befreiten Wolfs rasch und mit heftigem Stöhnen durch die Flut strich. Als der aber drüben ans Ufer stieg, klingelte die wackere Glocke laut und hell - er hatte sich schütteln wollen, erschrak jedoch so über den fremden Laut, daß er rasch die Uferbank hinabsprang, und noch eine lange Strecke durch den Wald hörten sie das gleichmäßige Anschlagen der Schelle, wie der Wolf in dem diesen Tieren eigenen langen Galopp mit flüchtigen Sätzen nicht mehr den Feinden - die hatte er kaum gefürchtet - nein, diesem unerträglichen scharfen Lärm unter seiner Kehle zu entfliehen suchte.

„ Hahahaha!“ brach endlich Ben, der jetzt lachend seine halberstarrten Arme schwenkte, das atemlose Schweigen, mit dem die Männer den immer mehr verschwimmenden Tönen der Glocke gelauscht hatten. „Er hat sie - beim ewigen Gott, er hat sie! So - das soll mir der Mr. Metcamp einmal nachmachen.“

Metcamp? Ja, wo war denn Metcamp die ganze Zeit eigentlich? Das weiß der Himmel; am Washita hat ihn wenigstens kein sterbliches Auge mehr gesehen. Sein Fenstersprung konnte nicht bezweifelt werden, denn Zeugen gab es dafür genug, und vom Fenster aus ließ sich die Spur noch weit hinaus in den Wald, aber immer dem Arkansas zu, verfolgen. Sein ganzes Gepäck aber, ja selbst seinen Hut, ließ er, ohne auch nur einmal darum zu schreiben, in der Ansiedlung zurück, und Ben hatte gewiß recht, als er meinte, den habe nur sein böses Gewissen aus den Bergen getrieben.

Und was wurde aus Betsy?

Ich will dem Leser die weitläufige Auseinandersetzung ersparen und ihm nur mit kurzen Worten einzelne Tatsachen mitteilen, aus denen seine Einbildungskraft dann leicht den weiteren Verfolg der Sache, viel besser als ich ihm das selber klarmachen könnte, herausfinden wird.

Mr. Metcamp war wirklich flüchtigen Fußes förmlich davongelaufen; der Brief aber, den er zu der Zeit am Washita erhalten hatte, mußte jedenfalls gefälscht gewesen sein, denn noch in demselben Monat hörten sie von einem Reisenden, daß Metcamps Onkel etwa vier Wochen vorher, ehe dieser zum Washita gegangen, total bankrott gemacht habe und der vermeintliche Erbe noch schlimmer als ein Bettler sei, da er sogar rasend in Schulden stecke. Die reiche Farmerstochter hatte er dabei leicht zu gewinnen geglaubt und auch natürlich alles Mögliche getan, seinem ihm allerdings gefährlichen Nebenbuhler den Besitz des Mädchens unmöglich zu machen.

Daß er es gewesen, der damals den gefangenen Wolf befreit, ließ sich ebenfalls immer weniger verkennen, wenigstens sprach man die Ansicht kurze Zeit darauf ganz offen in der Ansiedlung aus, und daß sich der alte Sutton nach all dem Vorangegangenen schämte, den beabsichtigten Schwiegersohn aus der Stadt auch nur noch einmal zu erwähnen, versteht sich wohl von selbst.

Es sind jetzt seit der Zeit zehn volle Jahre verflossen, und Farmer Sutton schläft in seinem eigenen Garten still und ruhig unter dem grünen, blumigen Rasen; Ben Holik aber hat das unstete Jägerleben aufgegeben, ist ein ordentlicher Farmer geworden und lebt mit seinem lieben Weib, seiner Betsy, und den drei Jungen und zwei Mädchen, die sie ihm in der neunjährigen Ehe geboren, glücklich und zufrieden, wie nur ein Mensch in der weiten Gotteswelt leben kann. Seine Herden haben sich dabei ungemein vermehrt, denn die Wölfe trieb der mit der Glocke behangene richtig hinaus aus der ganzen Nachbarschaft, und seine Felder hat Ben ebenfalls um viele fruchtbare Äcker erweitert; dort aber, wo er den Wolf damals lebendig gefangen, baute er sich auf der luftigen Bergkuppe ein kleines Haus und nannte es, zum Gedächtnis jenes glücklichen Abends, die Wolfsglocke.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Wolfsglocke