Die Wohnungsnot der Unverheirateten. Mit zwei Bildern der Photothek

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Autor: R. Herrmann, Erscheinungsjahr: 1922

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Wohnungsnot, Studenten, Unverheiratete, Wohnungssuchende, Bedarf, Wohnheime, Notlage, Unterkunft,
Unter den drückenden Nachwirkungen des Krieges ist die Wohnungsnot eine der am tiefsten eingreifenden. Nicht nur in der Großstadt, wo dieser Mangel schon immer chronisch war, selbst in Mittel- und Kleinstädten zählen die Wohnungsuchenden nach Hunderten, wenn nicht nach Tausenden. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass vor dem Krieg jährlich etwa 200.000 neue Wohnungen hergestellt, etwa 40.000 durch Neubauten ergänzt wurden, während jetzt nur ein geringer Teil der früheren Zahl erreicht wird. Dazu kommt, dass während der Kriegsjahre die Bautätigkeit ganz geruht hat, dass also nachgeholt werden muss, was in dieser langen Zeit zur Deckung des Bedarfs fehlte. Nicht nur für die heimkehrenden Krieger, auch für die Flüchtlinge aus den abgetretenen Gebieten, die Vertriebenen aus besetzten Provinzen sollte Unterkunft geschaffen werden, und der Zuzug hält noch dauernd an. Wieviel junge Eheleute müssen zufrieden sein, wenn sie getrennt voneinander in den Wohnungen der beiden Eltern Aufnahme finden! In wieviel Häusern müssen die Familien zusammenrücken, um zwei oder drei Zimmer an andere abzugeben! Die Folge ist natürlich, dass auch für ledige Leute die Mietgelegenheiten viel geringer geworden sind.

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Diese Notlage bringt jedoch — nur schroffer als früher — einen alten Übelstand zutage. Mangel an freundlichen, hygienisch und sittlich einwandfreien Wohnungsgelegenheiten für junge Leute war schon vorher vorhanden. Dass das Schlafstellenunwesen, eine der übelsten Begleiterscheinungen des Großstadtlebens, dringend staatlicher Aufsicht und Fürsorge bedurfte, stand längst fest. Das sogenannte „Budenleben“ des Studenten zeigte recht bedenkliche Schattenseiten der „akademischen Freiheit“ an deutschen Universitäten im Vergleich zu England und Amerika, wo für die Besucher der Hochschulen viele komfortabel eingerichtete Klubhäuser zur Verfügung stehen. Die unter einem großen Teil der deutschen Studenten herrschende Not ist erschreckend. Tausende müssen sich in vielfach unwürdigen Verhältnissen ihr Brot und die Mittel zum Studium, das zum Nebenberuf herabsinkt, verdienen und haben kein behagliches Heim, ja kaum eine notdürftige Unterkunft. Immer mehr sind auch junge Mädchen genötigt, fern vom Elternhaus ihr Brot zu verdienen. Gerade da wurde schon längst klar, dass die Abvermietungen vielfach nur sehr kümmerlichen Ersatz für das Familienheim geben. Die Gewöhnung an Wirtshaus- und Caféleben, an Alkohol und noch zweifelhaftere Genüsse sind eine natürliche Folge bei sehr vielen jungen Männern. Und bei den anderen verkümmern leicht geistige Interessen und gute Anlagen, weil die Atmosphäre- der Umgebung allmählich herabziehend wirkt. In neuester Zeit kommen noch die immer größer werdenden Schwierigkeiten der Beköstigung hinzu. Die Beschaffung von einfachen und nicht überteuerten Heimen für junge Leute der verschiedensten Berufe und beiderlei Geschlechts ist also ein durch die allgemeine Wohnungsnot erst recht offenbar gewordenes dringendes Bedürfnis und viel mehr als eine nur äußerliche Angelegenheit. Körperliche und sittliche Gesundheit der jungen Generation, Gewöhnung an eine geordnete, Geschmack und Pflege bekundende Lebensführung sind kulturelle Werte, die gerade durch die Fürsorge für bessere Wohnungsverhältnisse am besten gefördert werden. Von Staat und Gemeinde Abhilfe der Notlage zu verlangen, wäre töricht; aber ebenso wenig kann der einzelne ausrichten. So ist am ehesten von der genossenschaftlichen Selbsthilfe, von gemeinnützigen Verbänden Abstellung des Übelstandes zu erwarten. Die Studentenschaft hat eine „Wirtschaftshilfe“ ins Leben gerufen, die zur Beschaffung von Heimen und Büchern, zur Erleichterung der Speisung und zur Gewährung sonstiger Unterstützungen öffentliche und private Mittel aufzubringen versucht. — Ein sehr erfreuliches und nachahmenswertes Beispiel hat die Freireligiöse Gemeinde Berlin gegeben. Sie hat auf einem ihrer Grundstücke ein stattliches Haus als Ledigenheim erbaut und in vorbildlicher Weise die Inneneinrichtungen getroffen.

Der Bau hat seinerzeit 2.800.000 Mark gekostet, wird aber jetzt auf etwa vier Millionen geschätzt. Die Durchführung des Planes wurde durch private Mittel und finanzielle Unterstützung staatlicher und städtischer Behörden ermöglicht. Im Vorderhaus befinden sich außer einigen Einzelzimmern Zwei- und Dreizimmerwohnungen mit Badezimmer, aber ohne Küche, für Verheiratete. Ein Speisenaufzug befördert für diese Heimbewohner die Mahlzeiten in ihre Zimmer, wenn sie nicht im gemeinsamen Speiseraum eingenommen werden. Im Gartenhaus ist das eigentliche Ledigenheim, das achtundfünfzig Zimmer umfasst, von denen jedes einen eigenen Zugang hat. Das Innere ist freundlich, sauber und anheimelnd. Hier kann sich nun der eigene Geschmack entfalten und jeder sich wirklich „zu Haus“ fühlen. Der Preis, für heutige Verhältnisse äußerst gering, beträgt zurzeit monatlich hundertsechzig Mark einschließlich Zentralheizung und Licht; für Pension fünfzehn Mark täglich. Jeder Insasse hat wöchentlich einmal freie Badbenützung. Auf das Herauswirtschaften von Gewinnen ist von vornherein Verzicht geleistet.

Das Zusammenwohnen Gleichaltriger kann zugleich zu anregenden Freundschaften und zu fördernden gemeinsamen Arbeiten führen, so dass nicht nur eine bessere Unterkunft, sondern auch eine die ganze Lebensführung geistig und charakterlich hebende Veränderung in dem Heim gewonnen wird. Was vereinter guter Wille vermag, hat das Liebeswerk der Quäker gezeigt. Sollte nicht die wirtschaftlich wie ethisch hochwichtige Aufgabe der Errichtung und Ausgestaltung von Ledigenheimen in gesundem und gutem Geist von gebewilligem Gemeinsinn deutscher Verbände ebenso ohne konfessionelle oder parteipolitische Einschränkungen gelöst werden können? Die Wohnungsnot der Unverheirateten, die äußere und innere, erfordert baldige und gründliche Abhilfe.

Gesellschaftszimmer im Berliner Ledigenheim.
Einzelzimmer im Berliner Ledigenheim.

Wohnungsnot, Studenten, Gesellschaftszimmer im Berliner Ledigenheim

Wohnungsnot, Studenten, Gesellschaftszimmer im Berliner Ledigenheim

Wohnungsnot, Studenten, Einzelzimmer im Berliner Ledigenheim

Wohnungsnot, Studenten, Einzelzimmer im Berliner Ledigenheim