Die Wiese zu Günstedt

Aus: Deutsche Volksfeste im 19. Jahrhundert
Autor: Reimann, Friedrich August (?) Herausgeber, Erscheinungsjahr: 1839
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Deutschland, Thüringen, Volksfest, Sitten- und Gebäuche
Ein Hauptvolksfest, besonders für die Bewohner des sächsischen Thüringens, ist der sogenannte Ablass oder die Spende zu Günstedt, einem zum Königlich-Preußischen Kreise Weißensee gehörigen ansehnlichen Dorfe. Dieser Ablass, der sich noch aus den Zeiten vor der Reformation herschreibt, wo der so berüchtigte Ablasskrämer Tezel die leichtgläubigen Deutschen mit seinem geistlichen Warenhandel brandschatzte, wird jährlich die Woche vor dem Himmelfahrtsfest auf einer ungeheuren, in der Nähe des Dorfes Günstedt befindlichen Wiese gehalten, die durch ihre weile Ausdehnung den schicklichsten Spielraum zu einem solchen Volksfeste darbietet und auch wirklich an diesen Tagen, besonders am ersten, einem großen Messeplatze gleicht. Eine Menge von Buden, mit allen für die Bedürfnisse der Landbewohner dienenden Waren, ziehen sich in unabsehbaren Reihen auf ihrer Fläche hin und eine ungeheure Menschenmasse, die aus allen umliegenden Gegenden zu Wagen, zu Ross und zu Fuß hier zusammenströmt wimmelt in mannichfaltigen Gruppen um sie her. Aus einer Menge Speise-, Punsch-, Wein - und Tanz-Buden tönt Tanz- und Tafelmusik, die mit den zum Teil sehr unreinen Harmonien einer Menge Drehorgeln verschmilzt, welche scharenweise den ihnen zuhörenden Musikliebhabern das Geld abzuleiern suchen. Bänkelsänger, die in wimmernden, herzzerreißenden Klagetönen durch in Reime gezwungene grässliche Mordgeschichten den Zuhörern die Haare vor Entsetzen emporstehen machen, bilden einen grellen, schneidenden Kontrast mit den lustigen Schwänken eines Policinello, der auf einer Marionetten-Bühne dem gaffenden Publikum seine Spaße zum Besten gibt; hier übt ein Hundetanzmeister seine widerspenstigen Scholaren mit Hilfe einer Peitsche in Cotillons und Ballettsprüngen, während nicht weit davon ein unbehilflicher Bär unter Kettengerassel zu der wilden Musik einer Trommel ernsthaft ein Solo tanzt. Unter den zahllosen Buden und Warenständen auf der Wiese sind gewöhnlich die der Schuhmacher am meisten mit Käufern belagert, da sie ein Bedürfnis befriedigen, das Keiner, den die Natur mit ein Paar Füßen begabte, entbehren kann.

Aber auch an Erzeugnissen des Luxus fehlt es nicht auf diesem lärmvollen Tummelplatze der Schachersucht und des Vergnügens und die in den vorigen Zeiten mit den Fortschritten und Abwechslungen der Mode noch unbekannten Landleute haben jetzt hier die beste Gelegenheit, sich auch in die Geheimnisse dieser frivolen Göttin, der eigentlich sonst nur die Städter frönten, einweihen zu lassen; denn selbst an Putzhändlerinnen ist hier kein Mangel; sogar fand sich zur Zeit, als die Perücken noch zu den hauptsächlichsten Zierden der männlichen Köpfe gehörten und selbst ihre Form nach Stand und Würden der damit geschmückten Personen modifiziert war, ein sehr spekulativer Haarkünstler mit einem vollständigen Apparate solcher Kopfdekorationen auf der Wiese ein.

Dieses in ganz Thüringen berühmte Volksfest dauert eigentlich zwei Tage, doch werden die meisten Geschäfte schon am ersten Tag abgetan und die meisten Fremden, nur die aus der Nähe ausgenommen, verlassen schon bei der Abenddämmerung des ersten Tages die Wiese und kehren nach ihrer Heimat zurück. Seit der preußischen Besitznahme ist den 22. September ein zweiter großer Markt auf dieser Wiese, der auch mit einem Viehmarkt verbunden ist; allein dieser wird wegen der späten Jahreszeit, in die er fällt, bei weitem nicht so stark besucht, wieder erstere, der schon seit langen Zeiten eins der vorzüglichsten Volksfeste dieses Teils von Thüringen war.

Günstedt, Blick aus östlicher Richtung

Günstedt, Blick aus östlicher Richtung

Günstedt, Luftbild

Günstedt, Luftbild

Günstedt, St. Petri-Pauli_

Günstedt, St. Petri-Pauli_

Günstedt, St. Petri-Pauli

Günstedt, St. Petri-Pauli

Viehmarkt

Viehmarkt