Die Wiener Juden 1700—1900. Von Sigmund Mayer, im R. Löwit Verlag, Wien u. Berlin 1917. - Rezension

Aus: Neue Jüdische Monatshefte, Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Literatur in Ost und West
Autor: Rosenberg, Artur Dr. (1889-1943) marxistischer Historiker und Politiker, Erscheinungsjahr: 1918

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Österreich, Wien, Buchvorstellung, Rezension, Nationalismus, Assimilation, Ghetto, Pogrom, Finanzwirtschaft, Vormärz, Antisemitismus, Revolution,
Der Verfasser bezeichnet es als Aufgabe und Zweck des Buches, die Juden in Deutschland, noch mehr in Österreich, vor den Gefahren des jüdischen Nationalismus zu warnen. (Von einer Bekämpfung des Zionismus abzusehen, hält sich Sigmund Mayer verpflichtet, weil man gegen eine „sterbende Idee" nicht kämpfe.) Der jüdische Nationalismus bedrohe den Erfolg der Assimilation, um die sich die Juden seit fast 200 Jahren bemühen, indem er durch die beabsichtigte Errichtung einer jüdischen Kurie die Schaffung eines neuen, politischen Ghettos anstrebe. Die nationale Bewegung biete aber keinen Ersatz für die gefährdeten Errungenschaften der Assimilation, deren großen Erfolg am besten die Gegenüberstellung der gegenwärtigen Verhältnisse der Juden gegenüber jenen vor 200 Jahren zeige. Diesen Gegensatz vor Augen zu führen, ist der Inhalt des Buches bestimmt.

Der Verfasser zieht für seine Darstellung eine umfassende Literaturkenntnis, vor allem aber die reichen persönlichen Eindrücke und Erlebnisse seines bald neun Jahrzehnte umspannenden Lebens heran. Den weitaus größeren und als selbständige Quelle wertvolleren Teil des Buches bilden die eigenen Beobachtungen des Verfassers, die bis in die 30er Jahre des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Sigmund Mayer wuchs im Preßburger Ghetto auf, dem ein wesentlicher Teil der älteren, in Wien ansässigen jüdischen Familien entstammt. Die Bewohner des Ghettos gewannen ihren Lebensunterhalt aus dem Handel mit Textilwaren. Ein düsterer Ernst, entsprungen dem fühl der Schutz- und Rechtlosigkeit, erfüllte diese Juden. Die harte Schule des Ghettolebens brachte aber zahlreiche Kampfesmenschen hervor, die auf ihrem Gebiet zu Bedeutung gelangten. Im Preßburger Ghetto liegt die Wiege der Begründer einer Reihe von führenden Familien des Finanz- und Wirtschaftslebens in Österreich und Ungarn.

1847 ging Mayer nach Wien. Den Juden gegenüber waren noch immer jene Gesetze in Kraft, die ihnen, von Ausnahmen abgesehen, einen Aufenthalt nur für drei Tage gestatteten. Die Behörden duldeten aber in einer Weise, die einer Förderung gleichkam, die Wohlhabenden, um die Besitzlosen um so unnachsichtiger auszuweisen. So war der Großhandel der Stadt von den 10.000 bis 12 000 Juden, die hier wohnten, beherrscht. Ein Streiflicht wirft Mayer auf den Anteil der Juden am geistigen Leben des Wiener Vormärz; M. G. Saphir. Hieronymus Lorm, Ludwig August Frankl, Ignatz Kuranda und Moritz Hartmann treten hervor. In der Finanzwirtschaft haben bereits die Familien der Freiherren von Springer, von Wertheimstein und Königswarter Bedeutung. Im Wien des Vormärz beobachtet der Verfasser, dass sich die Juden „ohne Scheu nicht nur auf der Straße bewegten, sondern auch im Bierhaus, ebenso in den vornehmen Restaurants wie im Kaffeehaus und in Vergnügungslokalen: man konnte sie in gleicher Weise, wenn auch nicht allzu häufig, zwanglos und ohne dass es irgendwie auffiel, mit ihren Damen auf allen Elitebällen finden". Die reichen Juden bilden eine „Oberschicht", jedoch nicht allein wegen ihres Reichtums, sondern auch wegen „einer gewissen höheren Lebensführung; so dass eine nicht unerhebliche Zahl vornehmer jüdischer Damen für die besten Kreise in der Saison ihre Salons offen hielten".

An der Revolution nahmen die Juden regen Anteil. Adolf Fischhof gewinnt überragenden Einfluss. Die Revolution brachte den Juden bürgerliche und politische Gleichberechtigung, um deren Auswertung allerdings die nächste Zeit noch erbitterte Kämpfe geführt werden mussten. Das Wirtschaftsleben, das über ein Jahrzehnt nach der Revolution noch darniederlag, erfuhr eine Belebung durch die Errichtung der Niederösterreichischen Eskomptegesellschaft und der Kreditanstalt, die nach dem Vorbild des Crédit mobilier Handel und Industrie durch Gewährung von Mobiliarkredit, hoben. Eine mächtige Förderung des Wirtschaftslebens bedeutete auch die Verlautbarung der Gewerbefreiheit 1859. Jetzt erst konnten Juden auch Detailgeschäfte auf allen Handelsgebieten eröffnen. Gleichzeitig bildet sich in Wien wie in der Provinz eine jüdische Industrie aus. Der Verfasser bietet mit eingehender Sachkenntnis, namentlich auf dem Gebiet der Textilindustrie, der er nahestand, eine Fülle von Einzelheiten, die, zusammengefasst, die vielfach schöpferische und beherrschende Bedeutung der Juden für das Wirtschaftsleben Wiens dartun. In diesem Zeitalter des Liberalismus gewinnen einzelne Juden auch Einfluss im öffentlichen Leben. Der wirtschaftliche Aufstieg findet seine Fortsetzung. Die berufliche Gliederung erweitert sich. Da erhebt sich, zuerst im Rahmen des Liberalismus, eine Gegnerschaft gegen die patrizische Führung der Bewegung, die demokratische Partei. Als Partei des Kleinbürgertums wandte sie sich bald der gewerblichen Agitation zu, schrieb, als der Antisemitismus Ende der 70er Jahre seinen Einzug hielt, judenfeindliche Tendenzen auf ihre Fahnen und bildete sich so zur christlich-sozialen Partei Österreichs aus. Dieselbe judenfeindliche Haltung nahm aber auch die deutschnationale Partei ein, obwohl „auch der kleinere Jude in dem letzten Dorfe immer ein Kämpfer für den deutschen Kandidaten war". Das Bewusstsein dieses Undanks machte „allen Juden gerade diesen deutschen Provinzial-Antisemitismus besonders peinlich". Der Verfasser muss demnach als Ergebnis dieses Zeitraums feststellen: „Die Mienen der Bevölkerung hatten den Juden gegenüber geradezu gewechselt: sie begegneten allerseits, wo immer sie sich einfanden, wenn auch nicht der geringste Anlass dazu gegeben war, feindlichen Blicken. Der Verkehr, welcher zwischen den Distinguierten beider Lager sich fast schon ein Jahrhundert vorher leise angesponnen, sich dann in die besseren bürgerlichen Schichten fortgepflanzt hatte, in den Theatern, Konzerten, Vorträgen, in sonstigen Unterhaltungs-und öffentlichen Lokalen überhaupt sichtbar geworden war, hörte wie mit einem Schlage auf."

Nichtsdestoweniger glaubt der Verfasser den eingangs erwähnten Zweck des Buches erfüllt. Möglichkeit und Aussichten einer Assimilation scheint er in folgender Überlegung zusammenzufassen: „Die Geschichte der Wiener Juden kennt eine lange Liste von zum Christentum übergetretenen Familien; nennt man die besten Namen, werden auch diese genannt." Auch ein Blick auf Deutschland, dessen Verhältnisse sonst nicht in den Kreis der Beobachtungen einbezogen werden, ist am Ende des Buches angefügt, um die befriedigte Feststellung machen zu können: „Die ungescheute Ernennung von Juden zu Offizieren in der deutschen Armee, nicht etwa ausnahmsweise, sondern ganz im normalen Ausmaße, die Verleihung des Eisernen Kreuzes an Tausende von Juden, hätte ohne eine solche Wandlung gewiss nicht gewagt (!) werden können."

Der Verfasser bietet auf Grund eigener Erlebnisse, Beobachtungen und Erfahrungen eine ungemein reiche Fülle wertvollen Materials. Die soziale Verständnislosigkeit aber — sei es für eine Volks-, Religions- oder Klassengemeinschaft — nimmt dem Buche den Wert einer Geschichtsdarstellung und verleiht ihm in vielen Teilen den Charakter einer Sammlung von Anekdoten über „prominente Persönlichkeiten", in der die Ausblicke, die den Zwecken des Buches dienen sollen, durch Streben nach Nichtigkeiten und Würdelosigkeit gekennzeichnet sind.
Dr. Artur Rosenberg, Wien.

Wiener Stadtansicht

Wiener Stadtansicht

Der Kuppelsaal der Hofbibliothek (nach K. Probst)

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Der Platz „Am Hof“ (nach R. v. Alt)

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F. G. Waldmüller, Heimkehrende Holzsammler

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Altwiener-Bilderbuch 004 Ruprechtskirche

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Altwiener-Bilderbuch 011 Wien im Jahre 1483

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Altwiener-Bilderbuch 016 Die Peterskirche in ihrer ältesten Gestalt

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Altwiener-Bilderbuch 017 Der Passauerhof

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Altwiener-Bilderbuch 046 Das Kärtnertortheater

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Altwiener-Bilderbuch 057 Das Eisgrübel

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Altwiener-Bilderbuch 061 Das alte Burgtheater

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Altwiener-Bilderbuch 058 Das alte Polizeigebäude

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Altwiener-Bilderbuch 058 Der Lazenhof

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Altwiener-Bilderbuch 060 Der alte Federlhof

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Altwiener-Bilderbuch 052 Der Domherrenhof

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