Das Wunder von Loretto

Wir haben nun das Pontifikat Bonifaz' VIII., einen Abschnitt in der geistigen Geschichte Europas, erreicht. Unter dem Titel Cölestin V. war ein geistersehender Einsiedler zum Papsttum erhoben worden — geistersehend, denn Peter Morrone (dies war sein Name) war längst von Engelserscheinungen und den Tönen von Gespensterglocken in der Luft begünstigt worden. Peter wurde von bewundernden Haufen aus seiner Zelle zu seiner höchsten Stellung geleitet, aber sehr bald ward augenscheinlich, dass das Leben eines Einsiedlers keine Vorbereitung für die Pflichten eines Papstes sei. Das Konklave der Kardinäle hatte ihn erwählt, nicht wegen des geringsten Eindruckes seiner Angemessenheit, sondern weil sie in zwei Parteien gleich abgewogen waren, deren keine nachgeben wollte. Sie wurden daher zu einer zeitweiligen und nützlichen Wahl getrieben. Dies war aber kaum geschehen, als seine Unfähigkeit augenfällig, und seine Entfernung gebieterisch wurde. Die Freunde Benedetto Gaetanis, des fähigsten der Kardinäle, sollen ihn durch ein in die Wand des päpstlichen Schlafgemaches gebohrtes Loch um Mitternacht mit hohler Stimme gewarnt haben, dass er seine Würde bei Gefahr seiner Seele behalte, und ihm im Namen Gottes befohlen, abzudanken. Und dies tat er trotz alles Drängens.

Unter seinem Pontifikat ereignete sich das Wunder von Loretto. Das von der Jungfrau unmittelbar nach ihrer Empfängnis bewohnte Haus war beim Tode der Heiligen Familie in eine Kapelle verwandelt worden, und St. Lukas hatte derselben ein von seiner eigenen Hand geschnitztes Bild verehrt, welches noch als Unsere liebe Frau von Loretto bekannt ist. Einige Engel, die sich zufällig in Nazareth befanden, als die sarazenischen Eroberer nahten, nahmen aus Furcht, dass die heilige Reliquie in ihren Besitz fallen möchte, das Haus körperlich in ihre Hände, und es durch die Luft tragend, setzten sie es, nachdem sie mehrmals haltgemacht hatten, zu Loretto in Italien ab.


Die Begründung der weltlichen Macht der Kirche durch die Konstantinische Schenkung, Freskogemälde in der Kirche S. S. Quattro coronati zu Rom.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Welt der Gotik