Das Ewige Evangelium

Gegen Ende des 12. Jahrhunderts erschien unter den Bettelmönchen jenes unheildrohende Werk, das unter dem Titel „Das Ewige Evangelium“ die lateinische Hierarchie mit Schrecken erfüllte. Es wurde behauptet, dass ein Engel es auf Kupferplatten eingegraben vom Himmel gebracht und einem Priester namens Cyril gegeben habe, der es dem Abt Joachim überlieferte. Der Abt war etwa fünfzig Jahre tot, als, 1250 n. Chr., eine wahre Darlegung der Tendenz seines Buches unter der Form einer Einleitung, wie allgemein vermutet oder ausgesagt wurde, von Johannes von Parma, dem General der Franziskaner, erschien. Trotz seiner Ketzerei entfaltete das Werk eine weite und meisterhafte Auffassung des historischen Fortschritts der Menschheit. In dieser Einleitung wies Johannes von Parma nach, dass der Abt Joachim, welcher nicht nur eine Pilgerfahrt nach dem Gelobten Lande vollbracht habe, sondern auch als ein Prophet verehrt, als von tadelloser Orthodoxie betrachtet und heilig gesprochen worden sei, als seinen wesentlichen Grundsatz angenommen habe, dass das römische Christentum seine Arbeit getan habe und jetzt bei seinem unvermeidlichen Ende angekommen sei. Weiter zeigte er, dass es in der göttlichen Weltregierung Epochen oder Zeitalter gebe, dass sie während der jüdischen Offenbarung unter dein unmittelbaren Einflusse Gottes des Vaters, während der christlichen Offenbarung unter dem Einflusse Gottes des Sohnes gewesen und dass jetzt die Zeit gekommen sei, wo sie unter dem Einflusse Gottes des Heiligen Geistes sein werde; dass es in den kommenden Zeiten keines Glaubens mehr bedürfe, sondern dass alle Dinge der Weisheit und Vernunft gemäß sein würden. Es war die Einführung einer neuen Zeit. So sprach mit erforderlicher Dunkelheit der Abt Joachim und so deutlicher der General der Franziskaner in seiner Einleitung. „Das Ewige Evangelium“, erklärten seine Anhänger, habe das Neue Testament ersetzt, wie dieses das Alte ersetzt habe — so dass diese drei Bücher eine dreifache Offenbarung bildeten, welche der Dreiheit der Gottheit entspräche.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Welt der Gotik