Nordeuropa.

Mit den besprochenen Wanderungen, abgesehen noch von einigen Ländern, die wegen der kleinen Zahl der Eingewanderten hier nicht behandelt werden können, endigte der große Strom der aus Spanien und Portugal Verbannten, die unmittelbar nach der Vertreibung den Wanderstab ergriffen. Es verging ein ganzes Jahrhundert, bevor die Juden, die in Portugal zurückgeblieben und als Scheinchristen trotz all der Verfolgungen nicht gerade ein armseliges Dasein führten (66), sich nach Nordeuropa, — zuerst nach Belgien, dann nach Holland und England — wandten.

Es ist in vielen Beziehungen wichtig, festzustellen, dass die Einwanderung der Juden in Nordeuropa in später Zeit erfolgte: zunächst deshalb, weil damit der unmittelbare Zusammenhang zwischen den Wanderungen des jüdischen Volkes (wenn wir größere Massen und nicht einzelne Juden in Betracht ziehen) und dem wirtschaftlichen Aufblühen der nordeuropäischen Länder verschwindet, sodann aber — und das lässt sich schon aus dem Vorhergehenden schließen, erscheinen die Juden nunmehr nicht als Begründer des Kapitalismus in Holland und England, sondern nur als später Eingewanderte, die sich an den Unternehmungen der neu entstandenen mächtigen Handelsstaaten beteiligen wollten. Ebenso wie die klugen und reichen Venezianer nach dem Sinken ihrer Heimatsstadt sich an dem Handel Hollands zu beteiligen anfingen, wie schon heute die Engländer ihre Kapitalien auch in Amerika anlegen, gingen die reichen Scheinchristen Portugals nach Holland, Hamburg und England. Freilich: mit ihren Kapitalien, Kenntnissen und ihrer hervorragenden Begabung haben sie dort eine Tätigkeit entwickelt, die das kapitalistische Fortkommen dieser Länder ungemein gefördert hat. Jedoch geht uns hier diese innere Geschichte der holländischen und englischen Juden nichts an, zumal sie so glänzend in Sombarts Buch zur Darstellung gebracht worden ist.


Die ersten Niederlassungen der portugiesischen Juden in Amsterdam fallen ins Ende des 16. und in den Anfang des 17. Jahrhunderts; sie haben dort höchstwahrscheinlich nur einige deutsche Juden vorgefunden, die sich durch nichts auszeichneten. Die nachfolgenden Einwanderungen wurden von den Holländern und später von den Engländern selbst sehr gefördert. Ja die aufgeklärten Monarchen der damaligen Zeit, die die Hauptgrundlage für die Macht und das Ansehen ihrer Reiche in dem aufstrebenden Bürgertum sahen und den mittelalterlichen Feudalismus nach und nach verließen, luden die Juden direkt ein. So der König Christian IV. von Dänemark, der die Juden aufforderte (1622), sich in seinen Städten und besonders in Glückstadt niederzulassen. Treffend sagt darüber Wilhelm Röscher: „Übrigens hat das nationale Bürgertum der neueren Völker sein mittelalterliches Unrecht gegen die Juden auf der höchsten Kulturstufe reichlich wieder gut zu machen gesucht. Wie schon die jetzt üblichen Ausdrücke: „Zivilisation" für höhere Bildung überhaupt und „Bürgerrecht" für voll berechtigte Staatsgenossenschaft andeuten, so geht das Streben dieser Klasse nach Herrschaft im Staate regelmäßig Hand in Hand mit dem anderen Streben, wenigstens alle wohlhabenden und gebildeten Bewohner des Staatsgebietes in sich aufzunehmen" (67). Dies galt besonders für Holland. Das Bürgertum dieses Landes hat Reichtum, Bedeutung und Ansehen nicht nur durch Handel und Gewerbe erlangt, sondern auch — und nicht in letzter Linie — durch eine freie und moderne Verwaltung, die dort am frühesten zur Vollendung gebracht worden ist. Es ist nur natürlich, dass die junge Republik auch der jüdischen Einwanderung keine großen Schwierigkeiten bereitete.

Jedoch war die Zahl der Eingewanderten nicht groß. In der Mitte des 17. Jahrhunderts wohnten in Amsterdam 400 Familien. Viel mehr gab es auch später dort nicht, zumal die Neueingewanderten nicht unmittelbar den schon Ansässigen zur Last fielen: England und Amerika haben damals eine Anzahl portugiesischer Juden aufgenommen. Aber auch in Hamburg bildete sich eine kleine Kolonie der Amsterdamer Gemeinde. Sie bestand am Anfang des 17. Jahrhunderts aus 125 erwachsenen Personen, 26 Ehepaaren und 73 Unverheirateten und Alten (Kinder und Frauen nicht mitgerechnet), darunter 10 Kapitalisten, 2 Ärzte und 3 Handwerker (68). Daraus erkennt man schon den Charakter der Einwanderung. Später hat sich die Gemeinde vergrößert; die Hauptbeschäftigung bildete der Großhandel, richtiger: der internationale Handel großen Stils nebst dem Wechselgeschäft; aber auch an der Gründung der Hamburger Bank haben sich mindestens zwölf jüdische Kapitalisten beteiligt.

Wenn diese Einwanderung doch noch einen spontanen Charakter trug, indem die Juden aus freien Stücken in diese Länder einwanderten und dort nach und nach die Gleichberechtigung erlangten, trug die Niederlassung der Juden in England schon mehr den Charakter einer staatlichen Aktion: Cromwell hat die Aufnahme der Juden durchgesetzt aus wohl verstandenen Handelsinteressen des Landes. Die Bedingungen der Einwanderung wurden ganz genau bestimmt; die Juden vertrat dabei der reiche und kluge Manasse ben Israel. Es war einfach ein Akt weitsichtiger Wirtschaftspolitik, wenn Cromwell, dem es hauptsächlich um Begründung der Handelsmacht Englands zu tun war, die Juden ins Land rief. Ebenso wie in Holland war auch hier die Zahl der eingewanderten Juden nicht groß; und auch noch Jahrhunderte hindurch kam England nur für jüdische Kapitalisten — im weitesten Sinne des Wortes — als Einwanderungsland in Betracht.

Die Einwanderung der Juden in die Länder Nordeuropas hat erst stattgefunden, nachdem deren Entwicklung schon ziemlich vorgeschritten war (69) und die Juden dort einen Spielraum für sich fanden. Es mussten zuerst wenigstens die Voraussetzungen für die kapitalistische Entwicklung da sein, und erst nachher wanderten die geldbesitzenden Juden ein. Am besten können dieser Prozess und die damit zusammenhängenden Wanderungen mit folgenden Worten Oppenheimers charakterisiert werden: „Nicht dort blüht der Kapitalismus auf, wohin die Juden kommen, sondern die Juden kommen dorthin, wo der Kapitalismus aufblüht" (70) .
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Wanderbewegungen der Juden