Die Türkei.

Der größte Teil der Juden hat sich bekanntlich nach der Türkei gewendet. Die Ursachen dieser Erscheinung muss man vor allem in der sozialen Struktur des neuen türkischen Reiches suchen.

Wir haben schon früher erwähnt, dass es der Osten war, wo die Geldwirtschaft und die höchst entwickelte Industrie nebst regem Handelsverkehr während des ganzen Mittelalters fortdauerten. Byzanz war damals eine der größten Handelsstädte der Welt. Diese Stellung und Bedeutung der Stadt wollten die Begründer des neuen türkischen Reiches ihrer Residenz auch fernerhin erhalten: denn die ersten Sultane waren kluge und einsichtige Herrscher, die wohl verstanden, worin die wirkliche Macht und Bedeutung einer Stadt liegt. Mit der Eroberung Konstantinopels verschwand aber auch die Klasse der Kapitalisten und der Händler: die Grundlage des Verkehrs; denn militärische Rücksichten machten es notwendig, die den Eroberern feindlich gesinnte einheimische Bevölkerung von allen wichtigen Geschäften fernzuhalten. Den Türken selbst aber fehlten die notwendigen Kenntnisse, Praxis und vor allem Kapitalien, die für die Weiterführung des Handels und der Industrie unentbehrlich waren (56).


Mithin bestand — wir würden heute sagen: die Wirtschaftspolitik der neuen türkischen Herrscher darin, eine zuverlässige, reiche, tüchtige und mit besten Kenntnissen ausgestattete Klasse von Industriellen und Kaufleuten zu schaffen. Dafür waren nun die Juden, die in dieser Zeit in Deutschland und Frankreich den schlimmsten Verfolgungen ausgesetzt waren, am besten geeignet. Das hatte schon der Sultan Mohammed der Eroberer gut verstanden. Darum hatte er die Juden von fast allen Abgaben befreit. Sie brauchten in der Türkei weder den güldenen Pfennig noch Krongelder zu bezahlen. Die Sicherheit und die Freizügigkeit im ganzen Lande nebst der Freiheit in der Auswahl der Berufe wurden auch garantiert. So konnte noch vor der Vertreibung aus Spanien und Portugal ein in die Türkei eingewanderter Jude, Isaak Zarfati, an seine Stammesgenossen von Schwaben, der Rheingegend, Steiermark, Mähren und Ungarn u. a. folgendes schreiben: „Ich, Isaak Zarfati, der ich aus Frankreich stamme, in Deutschland geboren bin und dort zu den Füßen von Lehrern gesessen, rufe euch zu: dass die Türkei ein Land ist, in dem nichts fehlt" (57).

Es ist nun klar, dass den aus Spanien und Portugal vertriebenen Juden die Türkei als das beste Einwanderungsland erschien. Hier konnten sie ihre Kapitalien aufs Neue gut anlegen, sich wieder mit ihren Kenntnissen zu angesehenen Stellungen im Staate emporheben und in der neuen Heimat wieder die Bedeutung erlangen, die sie in der alten besessen hatten. Die Kenntnis der spanischen Sprache ermöglichte es ferner, dass die Juden sehr oft für diplomatische Dienste verwendet wurden.

Der ganze Großhandel der Türkei befand sich bald in den Händen der Juden, zumal sie sich dort vollständig ohne fremde Konkurrenz betätigen konnten, während die christliche Bevölkerung zu ihren Gunsten unterdrückt wurde. Ebenso wie am Ausgang des Altertums, trug auch jetzt die Zerstreuung der Juden und ihre Beherrschung einer für den Handel so wichtigen, der spanischen Sprache, das ihrige zur Blüte des jüdisch-türkischen Handels bei. ,,In den Städten Salonichi, Konstantinopel, Alexandria, Kairo, in Venedig und anderen Handelsplätzen machen die Juden nur in spanischer Sprache Geschäfte. Ich kannte Juden aus Salonichi, welche, obwohl sie noch jung waren, das Castilianische ebenso gut und noch besser als ich aussprachen" (58) , urteilte ein christlicher Schriftsteller ein halbes Jahrhundert nach der Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal.

Jedoch wäre es verkehrt, die ganze Einwanderung nach der Türkei als die der Kaufleute, Industriellen und Diplomaten zu bezeichnen. Ebenso wie in Spanien ein allerdings nicht allzu großer Teil der jüdischen Bevölkerung sich im Handwerk beschäftigte, wanderten auch jüdische Handwerker nach der Türkei ein; denn auch der letzteren bedurfte das Land. Besonders brauchte man Leute, die gute Kriegswaffen herstellen konnten. So waren es hauptsächlich Marranen, die den Türken „neue Rüstungen und Feuerwaffen verfertigten, Kanonen gossen und Pulver fabrizierten" (59). Allerdings waren diese Handwerker keine armen und besitzlosen. Schon der Gegenstand ihrer Arbeit setzte eine gewisse Bildung und Vermögen voraus; es war die Elite der jüdischen Handwerker, die damals nach der Türkei einwanderte.

Immer besser gestaltete sich die Lage der Juden in der Türkei, ja sie konnten sogar einen Joseph, Herzog von Naxos, bezeichnen, der als selbständiger Herrscher über die cykladischen Inseln Anidros, Paros, Antiparos, Melo, im ganzen zwölf, waltete und eine der einflussreichsten Persönlichkeiten des türkischen Reiches gewesen ist. Die Juden prosperierten in ihrer neuen Heimat und hatten auch fernerhin keinen Anlass, sich über ihre Lage zu beklagen. Dabei hörte die Einwanderung aus anderen europäischen Staaten nicht auf; besonders stark war sie nach der Vertreibung der Juden aus verschiedenen deutschen Städten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, ebenso wie nach der Vertreibung der Juden aus dem Kirchenstaat (Ende des 16. Jahrhunderts).

Die rechtliche, aber auch zum großen Teil die ökonomische Lage der Juden in der Türkei ist noch bis heute die beste in der ganzen Welt (60).
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Wanderbewegungen der Juden