Achtes Kapitel. Die Konzentration der Juden in Polen und Russland.

Wir haben bereits gesehen, dass der Sklavenhandel die Juden schon im frühen Mittelalter nach Polen geführt hat; einige von ihnen ließen sich dort nieder und bemächtigten sich der Salzproduktion, die damals eine große Bedeutung hatte. Die Verfolgungen in Böhmen und Ungarn veranlassten weitere Einwanderungen der Juden nach Polen, wo sie sich über das ganze große Königreich verbreiteten, den Handel pflegten, sich mit dem Ackerbau beschäftigten und auch Handwerke betrieben; jedoch bestanden diese Einwanderungen einstweilen nur aus Nachbarwanderungen; die Zahl der polnischen Juden war noch nicht groß, und ein Asyl für die Juden Westeuropas wurde Polen erst später, als auch hauptsächlich bei den deutschen Juden das Bedürfnis nach Übersiedlung stärker wurde.

Nach der Vertreibung der Juden aus England (1290), mehreren Vertreibungen und Verfolgungen in Frankreich und Ausweisungen aus vielen deutschen Städten blieb in Westeuropa für größere Massen der Juden nicht mehr viel Gelegenheit und Möglichkeit, sich wirtschaftlich zu betätigen. Der Warenhandel war stark reduziert, der Geldhandel beschäftigte nicht viele. Die Vertreibung aus Spanien und Portugal hat das ihrige dazu beigetragen, die Auswanderung zu beschleunigen, indem die reichen spanisch-portugiesischen Juden ihren Stammesgenossen überall eine unangenehme Konkurrenz zu machen anfingen. Deshalb konzentrierten sich nunmehr größere Massen der Juden in Polen. Dies Land war noch das letzte in Europa, das den Juden ein größeres wirtschaftliches Betätigungsfeld bot.


Die Gründe dafür waren sehr mannigfaltig. Zuerst kommt natürlich in Betracht, dass den damaligen Gesetzen zufolge den polnischen Edelleuten die Beschäftigung mit Handel und Gewerbe bei Verlust aller ihrer Rechte und Privilegien verboten war. Die Edelleute ,,bedienten sich daher der Vermittlung der Juden. Diese hatten beinahe die ganze Industrie unter ihren Händen, wodurch sie große Reichtümer erwarben" (72). Die Juden fanden in Polen das beste Betätigungsfeld; sie haben dorthin die großen Kapitalien gebracht, deren das Land so sehr bedurfte. Die großen natürlichen Reichtümer Polens konnten erst mit Hilfe des jüdischen Kapitals ausgenutzt werden. Auch ist es nicht unwahrscheinlich, dass Polen erst dank der jüdischen Immigration ,,aus der Phase reiner Naturalwirtschaft in die der Tausch- und Geldwirtschaft hinübergeführt wurde. Die zwei Faktoren, die für diese Transformation im polnischen Volke selbst fehlten, namentlich eine spezielle Handelsklasse und Kapitalien, die für eine Massenproduktion unentbehrlich sind, waren in der Einwanderung der jüdischen Händler und Geldborger gegeben, und das immobile, tote polnische Eigentum fing an, auf solche Weise sich in mobiles, lebendiges zu verwandeln. Die beiden Artikel, an denen Polen so ungeheuer reich ist, nämlich Holz und Getreide, beherrschten von da an die europäischen Märkte; das Holz fand besonders Eingang in England, wo es zur Herstellung von Waffen verwendet wurde, das Getreide in Schlesien" (73).

Aber neben, wir würden heute sagen: Industriellen und Großkaufleuten, brauchte Polen auch noch reiche Gel dl einer, die sich ausschließlich mit dem Geldhandel befassten. Dies Bedürfnis war in den politischen Zuständen Polens begründet. Polen war ein Land, in dem das absolute Königtum sich nie auf die Dauer behaupten konnte; jedes Herrschers Macht und Autorität hing letzten Endes von der Gnade der selbständigen und stolzen Großgrundbesitzer ab, die den jeweiligen König auf den polnischen Thron brachten. Diese Edelleute, die auf ihren Ländereien viel selbständiger und in ihrer Macht unbeschränkter als der König selbst waren, bestimmten in erster Linie die Schicksale Polens. Mickiewicz gibt eine interessante Schilderung des Hofes eines polnischen Königs: „Der Hof des polnischen Königs, einer der glänzendsten seiner Zeit, gewährte einen merkwürdigen Anblick. Die selbständigen Fürsten Preußens und Kurlands huldigten ihm kniefällig auf dem Markte zu Krakau. Die Wojewoden der Moldau und Walachei fielen vor der Majestät aufs Antlitz, und nebenbei geruhten die polnischen Herren und Edelleute kaum die Mütze vor ihrem Monarchen zu ziehen" (74). Später, als die Geldwirtschaft in Polen sich mehr und mehr verbreitete und die Wahl des Königs nicht ohne große Summen sich bewerkstelligen ließ, kamen die geldbesitzenden Juden den Edelleuten sehr zu statten, ja nunmehr hing die Frage, wer die Krone Polens tragen sollte, auch von den Juden ab. Dieselbe Rolle, welche die Fugger bei der Wahl Karls V. gespielt hatten, besaßen auch, allerdings nicht in so starkem Maße, die jüdischen Geldmagnaten Polens.

Aber nicht nur die Wahl des Königs und die Entwicklung der Industrie wurden mit Hilfe des jüdischen Geldes bewerkstelligt, sondern ,,auch der polnische Staat und sein Regierungsmechanismus konnten lediglich mit Hilfe jüdischer Kapitalien evolutionieren und fortkommen. Die polnischen Juden hoben die Regierungssteuer ein, versahen die Schatzkammer mit Geld, und unter Mieszyslaw hielten sie das Münzwesen in Pacht und prägten die Münzen mit hebräischen Schriften" (75).

Die Juden wurden mithin die ersten polnischen Bankiers, von denen sich die großen am Hofe konzentrierten, die kleinen aber über das ganze Land zerstreut waren. Sogar die neugegründete Krakauer Universität hatte einen jüdischen Geldleiher bekommen, der den Studierenden in Geldnot helfen musste. Die interessante Verordnung lautete: ,,Wir bestimmen für besagte Studierende einen Campsor oder einen Juden zu Krakau, welcher das nötige Geld auf sichere Pfänder zu leihen besäße; er darf aber nicht mehr als einen Groschen von jeder Mark monatlich nehmen" (76) .

Neben den Industriellen, Kaufleuten und Geldleihern brauchte Polen ferner noch Handwerker. Polen war anfangs ein Land, dessen ganze Bevölkerung nur aus Edelleuten, Kriegern und Bauern bestand. Mit dem Handwerk gaben sich die Polen nicht ab, und die überschüssige Bauernbevölkerung wurde immer von dem Heere absorbiert, da Polen sich fast ununterbrochen im Kriege befand. Mithin waren es eine lange Zeit hindurch zum größten Teil Juden, die das Handwerk in Polen betrieben. Nach einer Schrift aus dem 16. Jahrhundert soll es in Polen 3.200 jüdische Kaufleute (auf 500 polnische) und dreimal so viel Handwerker gegeben haben.

Es ist nun verständlich, weshalb Polen Jahrhunderte lang das bevorzugteste Einwanderungsland für die Juden war, wo sich das jüdische Volk nach und nach konzentriert hat, auf dessen weitere Geschichte und Entwicklung wir jedoch hier nicht näher eingehen können.

Aber nicht nur im heutigen Polen, sondern auch in den Provinzen des damaligen Königreichs Polen siedelten sich die Juden schon recht früh an, besonders in Galizien. Die Ursachen und der Verlauf der jüdischen Einwanderung in Galizien waren dieselben wie die der Einwanderung in Polen. Der rege Handel Lembergs führte viele Juden dorthin. „Leo Fürst von Halizien erhob 1269 Lemberg zur Hauptstadt und unter seiner Regierung siedelten sich auch die Juden in dieser Stadt an, und zwar im östlichen Stadtteile. Casimir der Große erteilte der Stadt große Freiheiten. Die Königin Hedwig bestimmte 1337 Lemberg als Stapelplatz für alle aus östlichen Ländern kommenden Waren" (77). Nach der ersten Teilung Polens (1772) bekam Österreich die Provinz Galizien (78).

Was Russland anbetrifft, so erhielt es, abgesehen von einigen Juden, die schon früher dorthin einwanderten, seine jüdische Bevölkerung dadurch, dass es dem ursprünglich so umfangreichen Königreich ein Gebiet nach dem anderen wegnahm, bis es als Erbe des Königreichs den größten Teil der polnischen Gebiete an sich riss. (Nach den Teilungen von 1772, 1793 und 1795). Dadurch erfuhr Russland eine gewaltige Zunahme an jüdischer Bevölkerung. Damals begann auch die stärkere Emigration der Juden aus den polnischen Gouvernements nach dem Süden Russlands, der allerdings im Jahre 1882 durch gesetzliche Beschränkungen ein plötzliches Ende gemacht wurde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Wanderbewegungen der Juden