Die Fortführung nach Babylonien. (597 und 586 v. Chr.).

Erst über die Fortführung nach Babylonien haben sich zuverlässige Überlieferungen erhalten, sodass ihre Ursachen und ihr Verlauf genauer und sicherer festgestellt werden können. Mit dieser Fortführung, wie überhaupt mit dem Exil, fängt die eigenartige Geschichte der Juden an, denn bis dahin unterschieden sie sich schwerlich von anderen Völkern des Orients. Die unmittelbare Ursache der Fortführung war der Zug des babylonischen Königs Nebukadnezar gegen das kleine Reich Juda und dessen vollständige Eroberung nach der Einnahme Jerusalems. Um diesen Zug Nebukadnezars verstehen zu können, müssen wir uns die damalige Lage der Dinge vergegenwärtigen.

Nebukadnezar, der König der Babylonier, hat, nachdem er das Joch der Assyrier abgeschüttelt, ein neues, mächtiges Reich gegründet. Um den Wohlstand des Reiches zu fördern, musste er die alten, durch die vorherigen Kriege unterbrochenen Handelsbeziehungen wieder anknüpfen. Denn der Handel war damals die Hauptquelle des Reichtums. Nun hatte Nebukadnezar zum Rivalen das alte Ägypten, das schon von jeher den Wunsch hegte, den ganzen Handel des Orients an sich zu reißen. Daher war die ganze äußere Politik Nebukadnezars durchaus beherrscht von dem Gegensatz zu Ägypten.


Auf dem Wege von Babylonien nach Ägypten aber lag das kleine, seiner geographischen Lage nach so bedeutende Palästina. Palästina war damals das Durchgangsland zwischen zwei großen Reichen: Ägypten und Babylonien. Diese geographische Besonderheit bestimmte die ganze Politik der Juden — aber auch das Verhalten der Nachbarn ihnen gegenüber. Denn die ersteren konnten den fremden Handel entweder vermitteln und fördern oder hemmen, indem sie Karawanen überfielen und ihnen Zölle auferlegten.

Es lag daher im direkten Interesse Nebukadnezars, Palästina in Abhängigkeit zu bringen, zumal die Juden Miene machten, mit den Ägyptern ein Bündnis zu schließen. Ebenso wie sich später im Mittelalter erbitterte Kämpfe um eine wirtschaftsgeographisch günstige Lage, etwa um das Stapelrecht — z. B. zwischen Wien und Nürnberg oder um das der rheinischen Städte — drehten, wollte Nebukadnezar in Palästina freie Hand haben. Wie ,,der König von Damaskus nach einem Siege über Israel sich nicht nur Grenzdistrikte abtreten lässt, sondern auch das Recht erwirbt, in Samaria einen Bazar anzulegen" (12) beanspruchte Nebukadnezar in Jerusalem wohl auch ähnliche Rechte.

Im Jahre 597 v. Chr. begann er den Krieg. In demselben Jahre fiel schon Jerusalem. Um nun den Feind wehrlos und den selbständigen Handel vollständig unmöglich zu machen, führte Nebukadnezar den König und die Reichen, d. h. Großhändler und Großgrundbesitzer, aber auch einige reiche Handwerker, die ebenfalls Handel trieben, mit sich nach Babylonien. ,,Alle wehrfähigen Leute, siebentausend an der Zahl, und die Schmiede und Schlosser, tausend an der Zahl, lauter kriegstüchtige Männer — die brachte der König von Babel als Gefangene nach Babel." (Das 2. Buch der Könige. 24, 16.) Die angegebene Zahl ist historisch richtig, doch muss man dazu noch den ganzen Hofstaat, die Frauen und Staatssklaven zählen (13). Diese Maßregel half jedoch nicht, und die Zurückgebliebenen wollten ihre Selbständigkeit im Verkehr mit Ägypten wieder geltend machen. Darum sah sich Nebukadnezar gezwungen, Jerusalem aufs neue zu belagern. Nach dessen Einnahme (586 v. Chr.) führte er nunmehr fast die gesamte Bevölkerung Jerusalems mit sich nach Babylonien. Aber auch die übrige Landbevölkerung musste ins Exil wandern, so dass in beiden Fällen zusammen 40.000 Männer — abgesehen von Frauen und Kindern — deportiert wurden. Dabei flüchtete ein Teil der Bevölkerung nach Ägypten und nur „etliche Winzer und Ackerleute" blieben zurück, hochgerechnet 10—15.000 Mann.

Dies „Verlassen" des eigenen Landes, das jetzt vollkommen verödet dalag, bildete, wie wir gesehen haben, nicht ein notwendiges Resultat der inneren Entwickelung des Landes, sondern wurde einzig und alleine dadurch herbeigeführt, dass zwei Nachbarstaaten um die Handelsherrschaft stritten.

Waren also schon bei dieser ersten großen Wanderung der Juden die Interessen der fremden Völker so ausschlaggebend gewesen, so gestaltete sich die weitere Geschichte des jüdischen Volkes vollends in ausschließlicher Abhängigkeit vom gesamten — sozialen und geistigen — Leben anderer Völker.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Wanderbewegungen der Juden