Einleitung

Einleitung.

Die jüdische Frage als Wanderungsproblem.


Die Auswanderung im volkswirtschaftlichen Sinne besteht darin, dass eine kleine oder größere Zahl von Menschen das Land, das sie bis jetzt als ihre Heimat betrachtete, verlässt, um sich auf fremdem Boden eine neue Heimat zu gründen. Das Verlassen der Heimat braucht nicht mit dem Aufgeben der Staatsangehörigkeit verknüpft zu sein, wohl ist es aber notwendig, dass der Auswanderer seine wirtschaftliche Betätigung in der Heimat aufgibt, um auf fremdem Boden die für sein Leben notwendigen Mittel zu erwerben. Somit ist der wirtschaftliche Zweck, die Absicht, sich in der neuen Heimat erwerbsmäßig zu betätigen, das Merkmal der Auswanderung. Es mögen noch so viele Deutsche oder Engländer in Sommermonaten nach der Schweiz oder — im Frühling und Herbst — nach Italien übersiedeln, — ihre vorübergehende Übersiedelung stellt noch keine Auswanderung dar; dabei kommt es nicht darauf an, dass der Aufenthalt in diesen Ländern nur ein vorübergehender ist, sondern nur darauf, dass die Übersiedelung nicht mit dein Aufgeben der wirtschaftlichen Tätigkeit in der ersten und der Ausübung einer neuen in der zweiten Heimat verknüpft ist. Die Auswanderung aber kann wohl auch vorübergehend sein, wie die der italienischen Landarbeiter, die nur auf bestimmte Zeit auswandern.

Die Gründung von neuen Staaten, die Verbreitung der Kultur, die Ausdehnung der Herrschaft einzelner Völker, wie es nach der überseeischen Auswanderung am Anfang der Neuzeit der Fall war, sind nur Folgeerscheinungen der ursprünglichen Auswanderung*).

*) Ähnliche Bestrebungen in der Gegenwart gehören der Kolonisation an, die uns hier nicht anseht.
Den Begriff der Auswanderung resp. der Einwanderung bekommen wir, indem wir auf dem Standpunkte eines resp. zweier Länder stehen (auch des Einwanderungslandes). Ein viel weiterer Begriff ist der der Wanderung.

Unter Wanderung versteht man den Komplex derjenigen räumlichen Verschiebungen, welche alle Völker in ihrer Geschichte durchgemacht haben. Diese Bewegungen beschränkten sich nicht von vornherein auf bestimmte Gebiete, hatten vor sich nicht ein bestimmtes Ziel, sondern spielten sich unter der Einwirkung der verschiedenartigsten Momente innerhalb der ganzen bewohnbaren Erde ab. Diese Wanderungen gehören der Weltgeschichte an. ,,Wir verlassen dabei den Standpunkt des einzelnen Volkes, von dem allein es eine Aus Wanderung gibt, und nehmen den der Menschheit ein, welche nur Wanderungen kennt" (01).

Es ist nun klar, dass für fast alle modernen Kulturvölker diese Wanderungen, die die Konstruierung der heutigen Nationen begleiteten, nicht mehr in Betracht kommen (02). Die heutigen Kulturvölker haben sich schon seit langer Zeit festgesetzt, eine Völker Wanderung im ursprünglichen Sinne ist wohl nicht mehr denkbar. Nur ein Volk befindet sich noch bis heute auf der Wanderung, ohne dass ein festes Ziel und eine bestimmte Richtung seiner Wanderbewegungen sich feststellen ließe. Auf der ganzen Erde zerstreut, in seinen Geschicken nicht nur von seiner eigenen Entwickelung, sondern in erster Linie vom wirtschaftlichen Leben der Herrenvölker abhängig, wandert dieses Volk durch alle Städte und Gaue der Welt.

Dieses Volk — das jüdische — hat sich noch nicht festgesetzt. Und die jüdische Frage, deren Wesen vor allem in den jüdischen Wanderungen besteht, ist darum ein Wanderungsproblem (03) ; die jüdische Geschichte fängt mit Wanderungen an, ihren ganzen Inhalt bildet eine ununterbrochene Kette von Wanderungen, und heute sind wir Zeugen einer Wanderung, die nach ihren Dimensionen alle früheren weit überflügelt. Es wäre eine ganz vergebliche Mühe, in der Geschichte ein entsprechendes Analogon zu den heutigen Wanderungen der Juden zu suchen. Die Vertreibung aus Spanien und Portugal hat 300 000 Juden zu Wanderern gemacht, während in der kurzen Spanne Zeit von 30 Jahren (1881 — 1911) mehr als 2 Millionen osteuropäischer Juden ausgewandert sind.

Der erste Grund dieser Kontinuität der jüdischen Wanderungen besteht darin, dass die Juden seit ihren Wanderungen von der Zerstörung des jüdischen Staates bis in die Gegenwart hinein noch nie Gelegenheit gehabt haben, einem Lande zu begegnen, wo sie sich allein als Herrn niederlassen könnten. Die Juden haben noch kein Land okkupiert; sie gingen immer — ob absichtlich oder durch äußere, von ihrem Willen unabhängige Umstände gezwungen, ist eine Frage für sich, die in diesem Zusammenhange nicht zu erörtern ist — in solche Länder, die schon Besitz anderer Völker waren. Diese Völker, die in ihrem sozial-wirtschaftlichen und geistigen Leben meistens einen geschlossenen Volksorganismus bildeten, konnten die eingewanderten Juden nur in dem Falle auf die Dauer in ihrer Mitte beherbergen und dulden, dass die letzteren diejenigen Plätze besetzten, die vom Wirtsvolk einstweilen frei gelassen wurden.

Dies geschah natürlich nicht durchaus in der Art, dass die Juden einen Kontrakt mit dem Herrenvolk abschlössen, kraft dessen ihnen gewisse Räume im Hause des Wirtsvolkes zur Verfügung gestellt wurden; dafür sorgte schon die unerbittliche Entwickelung der Dinge selbst. Die Juden konnten eben nur ,,in den Poren" der fremden Völker leben, — oder sie mieden das Land, wo es solche Poren nicht gab, oder endlich sie wurden aus dem Lande einfach weggetrieben.

Somit bildeten die Juden immer einen Fremdkörper im Organismus der Wirtsvölker.

Die jüdischen Wanderungen werden uns nur dann verständlich, wenn wir bei jedem einzelnen Falle feststellen, was für Funktionen die Juden bei den Wirtsvölkern ausübten. Erst die Ermittlung dessen, was die Juden für das Wirtsvolk in ihrer wirtschaftlichen Betätigung bedeuteten und wie sich das Wirtsvolk zu diesen Betätigungen stellte, kann uns den Schlüssel zum Verständnis der jüdischen Wanderungen geben.

Das eine ist aber von vornherein festzuhalten: mochten die wirtschaftlichen Funktionen der Juden ursprünglich dem Wirtsvolk noch so fern liegen, — lange dauerte es nicht, und das Wirtsvolk fing an, sich auf ökonomischen Gebieten zu betätigen, die bis dahin ausschließliches Eigentum der Juden gewesen waren. Was es dazu bewog, kann hier nicht gleich untersucht werden. Gleichviel — das Zusammenleben der Juden mit anderen Völkern artete schließlich in einen Konkurrenzkampf aus. Dieser Konkurrenzkampf war und ist überall der Vorbote der jüdischen Auswanderung — und besonders dort, wo die Juden sich nicht in kleinen Gruppen, sondern in breiten Massen aufhielten.

Hier tritt uns eine Erscheinung entgegen, die merkwürdig genug ist, um beachtet zu werden. Ihr Wesen kann dahin präzisiert werden, dass je größer die numerische Stärke der Juden ist, desto geringer ihre ökonomische Widerstandskraft.

Bekanntlich ist es sonst anders: bei den Arbeitern, die ihre Arbeitskraft dem Kapitalisten anbieten und deren größere Zahl auf Angebot und Ausfall des Arbeitsvertrages anscheinend ungünstig wirken sollte, verhält es sich nicht so wie bei den Juden: denn erst große Arbeitermassen, an einem Orte konzentriert, haben es ermöglicht, große und einflussreiche Arbeiterorganisationen zu schaffen, die nunmehr auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen ihrerseits günstig zu wirken im Stande sind (04).

Die Juden hat ihre numerische Stärke in keiner Hinsicht gefördert, sondern sie nur geschädigt. ,,Fast überall, wo die Juden dichter gedrängt beisammen leben, begegnen wir den Spuren tiefer Armut und manchmal entsetzlichen Elends" (05). Umgekehrt haben die Juden dort, wo sie in kleinerer Zahl sich aufhielten, mit ihrer hervorragenden ökonomischen Begabung sich zu erheblichem Wohlstand und auch zu führenden Stellungen im Wirtschaftsleben der Wirtsvölker emporgehoben.

Die Ursache dieser Erscheinung mag wohl darin liegen, dass die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden zum größten Teil von der sozialen Struktur der Wirtsvölker abhing und nur in zweiter Linie von der Veranlagung und den Wünschen der Juden selbst.

Indem sie in ein neues Land einwanderten und sich in den Volksorganismus des Wirtsvolkes einzugliedern bemühten, fanden sie für ihre Tätigkeit einen gewissen, begrenzten Spielraum vor. Dieser Spielraum war und ist bei verschiedenen Völkern und in verschiedenen Epochen ein verschiedener; jedenfalls war aber die Zahl derer, die sich innerhalb dieses Spielraumes wirtschaftlich betätigen, eventuell emporheben konnten, von vornherein durch objektive, äußere Umstände bestimmt. Nunmehr kam es auf die Zahl der Juden an; je weniger zahlreich sie waren, desto mehr Chancen hatten sie, sich durchzusetzen; je zahlreicher sie waren, desto stärker entwickelte sich die Konkurrenz zwischen ihnen selbst. Diese Konkurrenz, zu der in der Folge noch die Konkurrenz mit dem Wirtsvolk sich gesellte, verschlechterte gründlich die ökonomische — und rechtliche — Lage der Juden. Diese Verschlechterung aber wirkte ihrerseits höchst nachteilig auf die Widerstandskraft der Juden ein.

Die hier ganz eigentümlich wirkende Macht der großen Zahl muss darum besonders berücksichtigt werden. ,,Die Zahl ist das Wesen aller Dinge".

Für jüdische Wanderungen kommt das besprochene Moment insofern in Betracht, als die geringere Widerstandsfähigkeit desto schneller und sicherer die Auswanderung der Juden herbeiführte. Sind doch die Länder mit größerer jüdischen Bevölkerung — und einer ganz geringen Widerstandskraft — die Hauptausgangspunkte der jüdischen Auswanderung (Russland, Galizien, Rumänien). Und in den Hauptstädten der Vereinigten Staaten, wo sich in der kurzen Zeit von 30 Jahren etwa 2 Millionen Juden konzentriert haben, ist die jüdische (Immigrations-) Frage doch erst nach der Einwanderung der osteuropäischen Juden aufgetaucht!

Zwei Momente sind es mithin, die am deutlichsten das Wesen der jüdischen Geschichte charakterisieren: das der Konkurrenz und das der Wanderung. —

Im Folgenden wird der Versuch gemacht, die Wanderungen des jüdischen Volkes seit seinen ersten Wanderungen in Kanaan bis in die Gegenwart hinein zusammenzustellen und ihre Triebkräfte und Tendenzen zu bestimmen. Darum ist die Einteilung der Wanderungen, die hier vorgenommen wird, auch nur ein Versuch, an dem vielleicht viel auszusetzen ist, und der darum keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

Die vorgenommene Einteilung berücksichtigt nicht alle Seiten der jüdischen Wanderungen, sondern nur ihre Richtungen; man kann auch sagen: ihre geographisch-wirtschaftlichen Ziele; darum ist die (wirtschaftliche) Kultur des Aus- und Einwanderungslandes zum Einteilungsprinzip genommen; der Verfasser hat sich immer die Frage gestellt: wie verhalten sich Aus- und Einwanderungsland zu einander? Ist ihre Kultur die gleiche oder nicht?

Uns scheint dieses Prinzip das brauchbarste zu sein: denn nichts hat so auf die Lage der jüdischen Einwanderer gewirkt als eben die wirtschaftliche Kultur des Einwanderungslandes, und immer ist die Auswanderung aus dem betreffenden Lande nur auf seine ökonomische Entwicklung zurückzuführen.

Außerdem zwingt uns die Geschichte der jüdischen Wanderungen selbst zur Annahme eines solchen Prinzips: denn wenn wir die jüdischen Wanderungen in ihrer Gesamtheit überblicken, so drängt sich uns sogleich eine gewisse Gesetzmäßigkeit ihrer Richtungen auf: lange Zeit waren es Wanderungen aus den Ländern mit hoher in die Länder mit niedrigerer wirtschaftlichen Kultur, während die neueste überseeische Auswanderung offenbar eine Wanderung aus den ökonomisch rückständigsten in die ökonomisch fortgeschrittensten Länder ist.

Aber es kommt noch ein zweites Moment hinzu: von der Kultur des Einwanderungslandes hing in erster Linie die Möglichkeit der jüdischen Assimilation ab (06), damit aber auch die Frage der Erhaltung der jüdischen Nation. Wenn wir darum bei unserer Betrachtung gerade die Kulturstufen des Aus- und Einwanderungslandes berücksichtigen, bereiten wir auch den Boden für die Entscheidung einer der wichtigsten und reizvollsten Fragen der jüdischen Geschichte vor: wie und warum hat sich das jüdische Volk bis heute erhalten? —

Wir teilen die gesamten jüdischen Wanderungen in drei Perioden ein. Die erste umfasst einen gewaltigen Zeitraum: von den ersten Wanderungen in der Wüste Kanaan bis zur Vertreibung aus Spanien und Portugal (1492 bzw. 1497). Die zweite umfasst einen kürzeren Zeitraum von etwa 400 Jahren: von der Vertreibung aus Spanien und Portugal bis zum Beginn der überseeischen Auswanderung (1871). Die dritte Periode endlich umfasst die Wanderungen von dem Beginn der überseeischen Auswanderung bis in die Gegenwart hinein.

Auf den Charakter jeder einzelnen Periode kommen wir noch später ausführlich zu sprechen. —

Obwohl es bis jetzt keine Geschichte der jüdischen Wanderbewegungen gibt, finden sich doch in verschiedenen historischen Werken Versuche, sie zu erklären.

Auch diese Versuche haben ihre Geschichte. Zuerst herrschte die Theologie nebst der Teleologie; man betrachtete die jüdischen Wanderungen als eine Strafe Gottes für Sünden und Vergehen des Volkes und bürdete ihm irgends eine Mission auf. Dieser Philosophie der jüdischen Geschichte begegnen wir schon im Alten Testament; ihr huldigten auch die meisten alten Historiker. ,,Der Niedergang des jüdischen Reiches . . . wurde herbeigeführt durch Vernachlässigung seines geistigen Bodens, sowie durch den gänzlichen Mangel nationaler Berufserfüllung, dessen sich das jüdische Volk schuldig gemacht hatte" (07). Von einer eigentümlichen Mission der Juden spricht übrigens auch der heutige Führer der deutschen Sozialdemokratie: nach der Meinung Kautskys hätten die nach England eingewanderten jüdischen Arbeiter die Mission, den „unkollektivistischen Kopf" des englischen Arbeiters für die Ideen des Sozialismus empfänglicher zu machen!

Im Laufe der Zeit fing man an, die jüdische Geschichte anders aufzufassen; man stellte sie als eine Rechtsgeschichte dar. In der rechtlichen Beschränkung sah man das größte, ja das einzige Übel, so dass die volle Gleichberechtigung der Juden mit der übrigen Bevölkerung auch die Lösung der jüdischen Frage herbeiführen sollte. In diesem Geiste sind die meisten Werke, die sich mit der neuesten jüdischen Geschichte befassen, geschrieben. Und der Vorwurf, den Sombart gegen die jüdische Geschichtsschreibung erhebt, nämlich „dass die meisten Autoren ja gar keine andere Geschichte als Rechtsgeschichte kennen" (08), kann darum auch vielen heutigen Geschichtsschreibern nicht erspart werden.

Neben dieser Richtung bahnt sich erst in der neuesten Zeit eine andere den Weg; man wendet sich mehr und mehr der Wirtschaftsgeschichte der Juden zu, ja, man versucht auch, die Schicksale des jüdischen Volkes aus seiner ökonomischen Entwickelung und der seiner Wirtsvölker zu erklären. Die Entstehung der jüdischen Arbeiterparteien hat die Aufmerksamkeit auf die eigenartige jüdische Arbeiterfrage gelenkt, und die gewaltige Auswanderung der östlichen Juden war es auch, die die Untersuchung der Lebensbedingungen der jüdischen Massen veranlasste, wobei man sofort auf die Besonderheiten in der ökonomischen Entwickelung des jüdischen Volkes stieß.

In der vorliegenden Arbeit wird nun versucht, gerade aus diesen Besonderheiten der sozial-wirtschaftlichen Geschichte des jüdischen Volkes und dem wirtschaftlichen Leben seiner Wirtsvölker die jüdischen Wanderbewegungen zu erklären.

Zum Schluss sei noch erwähnt, dass die Darstellung der Bewegungen der ersten und zweiten Periode nur den Charakter eines Überblickes trägt, die eine vollständige Erschöpfung des Gegenstandes keineswegs beansprucht: denn sie ist eben nur als Einleitung gedacht. Es erschien aber doch notwendig und billig, sie der Darstellung der dritten Periode voranzuschicken. Auch könnte die überseeische Auswanderung der neuen Zeit genauer untersucht werden; doch kam es nicht darauf an, eine spezielle Untersuchung dieser Erscheinung zu geben, sondern nur ihre Ursachen und ihren Zusammenhang mit der Lage der Juden in den Hauptauswanderungsländern zu entdecken.

Aus der ganzen Arbeit wird es vielleicht doch möglich sein, einen Überblick über die gesamten Wanderungen der Juden zu gewinnen.


Anmerkungen und Literaturhinweise

Einleitung.

01. F. v. Philippovich ,,Auswanderung" im Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 3. Aufl. Bd. II p. 260.

02. Es gibt freilich einige Völker, bei denen die Wanderungen auch heute noch eine eminent große Bedeutung haben; es konstituieren sich noch heute viele Nationen (Kanada, Australien, Argentinien, Brasilien). Wie unter der Einwirkung der mongolischen Wanderungen etwa Sibirien in der Zukunft aussehen wird, ist nicht vorauszusehen. Doch haben Wanderungen für die Juden eine ganz andere Bedeutung als für jedes andere Volk: denn es fand in der jüdischen Geschichte und findet noch heute eine beständige Verschiebung des jüdischen Zentrums statt. Bei anderen Völkern ist dem aber nicht so. So spielt bei den Irländern und Italienern, die nächst den Juden die größte Zahl der Wanderer aufweisen, nicht die Wanderung, sondern einzig die Aus-Wanderung aus einem bestimmten Heimatlande eine Rolle. Diese beiden Völker haben doch eine Heimat, einen Staat, ein beständiges Zentrum, und es ist wohl möglich, dass mit der Verbesserung der Lebensbedingungen des italienischen Volkes die italienische Emigration nach und nach an Stärke verliert, während die Juden nirgends einen Staat bilden und ihre Wanderungen nicht ein Land zum Ausgangspunkt haben, sondern die Juden aller Länder mehr oder weniger in den Migrationsprozess einbezogen sind.

03. Alle solche Definitionen haben einen mehr oder weniger relativen Wert. Man kann auch sagen: die jüdische Frage besteht in den besonderen Rasseeigentümlichkeit der Juden; oder: das Wesen der jüdischen Fragt ist die je Religion; oder: die jüdische Frage ist die Frage der jüdischen Assimilation. Es kommt immer auf den Standpunkt an. Wir wollen nun die jüdische Frage von dem Standpunkte der jüdischen Wanderungen aus betrachten, und zwar, um dadurch die Bedeutung der Wanderungen im jüdischen Leben klar und deutlich zu Tage treten zu lassen. Der Vorwurf der Einseitigkeit kann uns deshalb nicht treffen.

04. Neben der Zahl spielt noch der Faktor der Organisation eine nicht zu unterschätzende Rolle. ,,Widerstandsfähigkeit einer sozialen Gruppe ist umgekehrt proportional der Zahl beim Fehlen der Organisation und ist proportional der Zahl und dem Grade der Organisation, wenn eine solche vorhanden ist" (Boroschoff). Das ist schon aus dem im Text angegebenen Beispiele (die Arbeiter) zu ersehen. — Trotzdem aber bleibt das über die jüdische Widerstandskraft Gesagte in Kraft. Es ist bekannt, dass die Arbeiter leichter zu organisieren sind, als die Arbeitgeber; die Organisationen der letzteren sind erst nach den Organisationen der Arbeiter entstanden. Noch schwerer ist ein Volk, das keinen Staat bildet und dessen verschiedene soziale Gruppen oft in schwere wirtschaftliche Konflikte mit einander geraten, zu organisieren. Die Juden haben sich als Volk nur zweimal organisiert: in Babylonien und in Polen um 1580. (Die Vier-Länder-Synode (Waad Arba Arazot]. Vgl. darüber Grätz ,,Geschichte des jüdischen Volkes" Bd. IX p. 449 ff.). Später spielte der Kahal eine gewisse Rolle, im großen und ganzen aber hatten diese Organisationen nicht die Kraft, die Konkurrenz mit der einheimischen Bevölkerung auf die Dauer zu mildern, geschweige denn zu beseitigen, zumal noch die Exterritorialität des jüdischen Volkes höchst ungünstig auf die Möglichkeit der Organisation der Juden wirkte. Die Frage, inwieweit in der Gegenwart die Ansätze zu einer allgemeinen Organisation des jüdischen Volkes im Osten — etwa in der Gestalt einer national-politischen Autonomie — vorliegen, haben wir hier nicht zu untersuchen; jedenfalls ist diese Organisation einstweilen noch Zukunftsmusik.

5. G. Caro ,,Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Juden im Mittelalter und der Neuzeit". 1908 Bd. I. p. 13.

6. Vgl. darüber Otto Bauer „Die Bedingungen der nationalen Assimilation", Zeitschrift „Kampf" März 1912 p. 250.

7. Back „Geschichte des jüdischen Volkes" 1906 p. 3.

8. W. Sombart „Die Juden und das Wirtschaftsleben" 1911 p. 463.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Wanderbewegungen der Juden