Zweite Fortsetzung

Da die Schule nicht nur für das Gedeihen des Staatslebens an sich insofern von unendlicher Wichtigkeit ist, als sie die geistigen Kräfte der Jugend so weit vorbildet, dass sie mit verständigem Urteil und selbstbewusstem Willen in die sittliche Welt des Rechtsstaates eintreten kann, sondern da fiel ebenso wichtig für das soziale Leben wie für die volkswirtschaftliche Entwicklung der Volksgemeinde wirkt, wie in den nachfolgenden Kapiteln wird nachgewiesen werden, so sollten die Landesvertretungen sich ganz besonders des Schulwesens annehmen. Während sie die theoretischen politischen Rechte mit Eifer wahren und verteidigen, übersehen sie gar zu häufig das Unterrichts- und Erziehungswesen. Denn die Organisation derselben überlassen sie den Regierungsorganen, woher es denn kommt, dass zwischen Schul- und Volksbildung, zwischen Schul- und Volksgeist, eine weite Kluft liegt, was besonders auf das religiöse Leben unendlich nachteilig einwirkt. Es ist ja eine tägliche Erfahrung, dass der Religionsunterricht, wie ihn die Schule erteilen muss, oft der allgemeinen Weltanschauung widerspricht, von den Eltern absichtlich unschädlich gemacht und von der Jugend mit Freuden weggeworfen wird, wenn sie die Schule verlassen hat. Dies ist weder für die Schule noch für die Kirche ein erfreuliches und ermutigendes Resultat. Außerdem ist es Tatsache, dass die Schule manches lehrt – nur für die Schule, als einseitiges Schulwissen, und dass die Jugend kenntnisarm bei allem Wissensreichtum ins Leben tritt, für dessen Auffassung die gar kein Organ der Beurteilung, keinen praktischen Blick, keine Vorstellung von den Verhältnissen hat. Die Schule kann nicht in dem Sinne Staatsanstalt sein, dass sie die Geister uniformiert und nach der Schablone eines Prokrustosbettes egalisiert, wie es in Belgien und Frankreich geschieht, wo Alles bis aufs Tagespensum vorgeschrieben ist, sondern die Schule muss sich nach örtlichen Bedürfnissen individualisieren, innerhalb allgemeiner Normen. „Unsere Schulregimenter,“ sagt Arago, „erzeugen eine Art mittleren Zustandes, um welchen die ganze heutige Jugend mit geringen Abweichungen schwankt. Unsere Schulen sind überall nach demselben Muster zugeschnitten, unterliegen denselben Regeln, derselben Disziplin, und tüchtige Charaktere müssen von Tag zu Tag seltener werden. Ächte Urformen suche man nicht in Treibhäusern, sondern im Walde.“

Wenn die Teilnehmer an der Gesetzgebung, die Kammern und Landtage sich aus der Pädagogik auch ein Studium machten, könnte vieles besser sein. Man glaubt die Rechte des Volkes durch Paragraphen der Verfassungsurkunde und Gesetze zu sichern, aber diese sind nur „beschriebenes Papier“ und müssen sich verschiedene Interpretationen gefallen lassen, wo man die Gesetze nach Bedürfnis auslegt. Roher Gewalt gegenüber schützt nicht das Gesetz, sondern das klare Rechtsbewusstsein, der tiefe sittliche Wille des Volkes, sich am Unrecht, am Gesetzesbruch nicht zu beteiligen, und in diesem Rechtsgefühl liegt die Garantie jeglicher Freiheit, gegen diese unsichtbare Zitadelle des sittlichen Willens vermag die Unsittlichkeit der Reaktion nichts. „Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig.“ Will man Recht und Verfassung sichern, so erziehe man ein intelligentes, sittlich tüchtiges Volk, welches die ewigen Güter des Rechts höher hält, als materielle Verluste. Die Landtage mögen daher dahin streben, dass die Schule Volkssache sei und nicht Beamtensache. Sie mögen dafür sorgen, dass die Regierungsbeamten das Schulwesen von der Elementarschule bis zur Universität nicht missbrauchen im Interesse ihrer Parteizwecke, sondern, dass die Schule eine freie unabhängige Humanitätsanstalt bleibe. Die Landesvertretung befreie die Schule von der tendenziösen Disziplinargewalt der Regierungsbehörden, nicht aus Feindschaft gegen den Staat, sondern eines eigenen Organismus wegen. Nicht einem Kultusminister kann man die Kultur des Volkes anvertrauen, sondern nur dem Volke selbst. Hätten die Kammern sich ihren gesetzlichen Einfluss auf die Schulen gewahrt, so konnten keine Regulative versuchen, das Volk geistig zu entmannen, und konnte nicht der widerwärtige Streit wegen der alten und neuen Gesangbücher entstehen, welcher Volk und Kirche in feindliche Lager scheidet. Schule und Kulturleben bedürfen einander, wie Lunge und atmosphärische Luft.


Die Landtage müssen das Schulwesen gesetzlich organisieren, angemessen der allgemeinen Bildung, den Kulturbedürfnissen der Zeit, müssen die Verwaltung derselben beaufsichtigen, die Lehrer in ihrem Recht als Staatsbeamte schützen, die nicht zu Regierungsbeamten umwandeln lassen, die Bildungsbedürfnisse sich nicht von Schulräten als Gnadenbissen verabreichen lassen, sondern sie im Interesse der allgemeinen Kultur befriedigen, denn nicht die Schulräte bezahlen die Kosten, sondern die Staatsgemeinde. Hält sich die Schule auf dem Niveau der allgemeinen Bildung, so kann zwischen Schule und Volksleben kein Zwiespalt entstehen; dürfen Unterricht und Erziehung den Gesetzen ihrer eigenen Natur folgen, so können keine Missbildungen und Kulturkrankheiten entstehen; kann die Schule als Organismus nur der Lebensbedingung ihrer eigenen Natur folgen und Zwecke überweisen, die ihrem Wesen fremd sind, so wird sie keine Missbildungen erzeugen. Entwickelt die Schule durch die angemessensten Mittel die geistigen und leiblichen Organe des Menschen nach den Gesetzen der Psychologie und Physiologie, bildet sie in der Jugend die elementaren sittlichen Eigenschaften aus, Wahrheitsliebe, Gerechtigkeitsgefühl, Vaterlandsliebe usw., so hat sie ihre Pflicht getan. Denn ihre Aufgabe sind die humanen Interessen des Kulturlebens, ihre Welt ist das ideale Reich der Jugend, erst an ihrer Grenze beginnt das praktische Leben mit seinem Ernst, Hass und der Trivialität der materiellen Bedürfnisse.

Nicht minder wichtig für das Kulturleben eines Volkes wird die Volkserziehung. Diese wird der Familie überlassen oder der Schule überwiesen; beide besitzen aber zu geringe Mittel, um eine so nachhaltige Wirkung zu erzielen, wie sie im Interesse des sittlichen Volkslebens wünschenswert ist. Die Volks- oder Nationalerziehung kann nur durch Staatsgesetze geleitet und sicher entwickelt werden, denn die Beschaffenheit der Gesetze und ihre Handhabung wirken maßgebend auf das gesamte Volksleben ein. Ist der allgemeine Rechtszustand ein unangemessener, so krankt auch das sittliche Volksleben; achtet die Regierung die eigenen Gesetze nicht, stellt sie Gewalt über Recht, gebietet sie ihren Beamten Eingriffe in die Rechtsverhältnisse, erlaubte sie der Soldateska Mord und Totschlag, wird ihre Steuerverwaltung zu einem Erpressungs- und Raubsystem, so verliert das Volk die Achtung vor dem Gesetz, verliert Rechtsgefühl und Gerechtigkeitssinn und unternimmt einen Guerillakrieg gegen Gesetz und Recht. Was vermag die Schule gegen solche Rechtsverwirrung, wenn sie von denen ausgeht, die das Recht schirmen und rein erhalten sollten von Amtswegen? Jede schlechte Gesetzgebung demoralisiert, jede willkürliche Regierung zerrüttet die sittlichen Grundlagen der Staatsgesellschaft. Gute Gesetze dagegen erziehen ein sittlich tüchtiges Volk. Aber die Vorbildung, gewissermaßen die Befähigung zum sittlichen Gemeindeleben soll die Schule der Jugend anzueignen suchen. Dies kann sie aber nur, wenn sie selbst auf der sittlichen Grundlage der Freiheit erbaut ist, unbehelligt ihrer Aufgabe sich zu widmen. Wird auch die durch Maßregelungen demoralisiert, dann kann sie eben nur demoralisieren.