01. Unterrichts- und Erziehungsanstalten als Organe des Staats und Kulturlebens

Das Wesen und die Bedeutung der Schule werden gewöhnlich nur in ihrer engsten Wirksamkeit aufgefasst, als eine Art Privatsache, da jene sich ja nur auf die Jugend zu erstrecken scheint. In der Tat ist die Schule aber ein einflussreicher Faktor des Kulturlebens. Jene Geringschätzung des Unterrichts und der Erziehung hat ihren Grund in der veralteten Vorstellung vom Staat und vom politischen Leben überhaupt, der zu Folge Regierung und Volk als Gegensätze aufgefasst werden, indem das Volk nur deshalb da zu sein scheint, um regiert zu werden, um als Material, auch wohl als Futter für Pulver und als Tischchen-decke-dich für das Beamtentum und privilegierte Kasten zu dienen, welche wiederum meinen, alle höhere Intelligenz zu besitzen und dem Volke gegenüber stets Recht zu haben. Der Staat, Land und Volk, wird also zur Domäne, die man nach Belieben verwaltet, verpfändet, vertauscht und verkauft, wie die Diplomatie Jahrhunderte lang nach diesem Grundsatz wirtschaftete. Regierung und Staat würden dann ein und dasselbe sein, und wer der Regierung widerspricht, würde sich daher gegen den Staat vergehen. In den Augen dieser Staatstheoretiker ist der ein revolutionärer, staatsgefährlicher Mensch, der denkt und selbstständig urteilt, wie Cäsar im Shakespeare sagt. Nach den neueren Rechtsanschauungen und Rechtsbegriffen sind Volk und Regierung ein Ganzes, ist der Staat kein Mechanismus, kein Verwaltungsapparat mit Hebeln, Schrauben, Federn und Walzen, sondern ein lebendiger Organismus. Der Monarch steht nicht außerhalb des Volkes, feilscht nicht mit ihm um Macht und Vorrechte, sondern er ist Repräsentant und Spitze des Volkes, bedrückt er sein Volk, so macht er sich selbst machtlos; drängt er es zur Rechtlosigkeit herab, so vernichtet er die sittlichen Grundlagen des Staatswesens und seiner eigenen Stellung.

Der Staat ist die organisierte Staatsgemeinde, die gesetzlich gegliederte Staatsgesellschaft, welche, um zu leben und sich als Lebendiges zu bewähren, einer Reihe von Organen bedarf, wie jeder organische Körper nur durch solche Organe existiert. Verrichten die Organe ihre Dienste nicht oder schlecht, so krankt der Körper und löst sich auf. Dass Staaten denselben Naturgesetzen gehorchen müssen, lehrt die Geschichte auf jeder Seite. Der feudale und absolutistische Staat ging unter fürchterlichen Todeszuckungen zu Grunde, weil er die Organe seines Körpers für Mechanismus hielt, für Automaten, und das Nervenleben durch unmäßigen Druck und die narkotischen Mittel des falschen Ehrgeizes zu Konvulsionen reizte.


Als Organe des Staatslebens sind nicht nur das Ader-, Muskel- und Nervengeflecht der Verwaltungsbehörden, der Presse, der Gerichte, des Militärs, der Finanzen und gesetzgebenden Gewalten zu betrachten, sondern auch die verschiedenen arbeitenden Stände und Bildungsanstalten gewissermaßen als Verdauungs- und Blutbildungsorgane. Die Behörden verrichten gewisse Funktionen des Staatsorganismus, dessen ganzes Wesen ein vernünftig geordnetes Rechtswesen sein soll. Die menschliche Gesellschaft ist ihrer Natur nach auf sittlichen Begriffen und Zuständen erbaut, nicht auf junkerlichem Faustrecht und Raubwesen, dem allerdings Blut und Eisen das Ideal des Rechtszustandes war, deren Praktikanten man aber auch von Rechtswegen am ersten besten Baum auf hing.

Ist der Staat eine sittliche Existenz, so bedarf er nicht nur Organe, welche Recht und Gesetz, die edleren und höheren Aufgaben des Geschichtslebens pflegen und entwickeln, sondern er bedarf auch solcher Organe, welche die Mitglieder der Staatsgesellschaft bilden und dadurch fähig machen, an lebendigen Rechtsideen des Staats sich zu beteiligen, das Wesen des Staats zu verstehen, um dessen Aufgabe willig und geschickt zu vollbringen und ihr nicht etwa zu widerstreben. Diese hochwichtige Aufgabe, alle Glieder der Staatsgemeinde auf jene selbstbewusste, freudige und bereitwillige Teilnahme am Staatsleben vorzubereiten, die man Patriotismus, Bürger- und Gemeinsinn nennt, haben die Lehranstalten zu vollbringen, welcher Art fiel auch sein mögen. Daher sagt man mit Recht, Unterricht und Erziehung sind nicht Privat- und Gemeindesache, sondern Angelegenheit der gesamten Staatsgemeinde, die man als Organe des Volkslebens in die Verfassung aufnahm, damit sie unter dem Schutz stehen, den eigenmächtigen Eingriffen einzelner Beamten entrückt werden. In diesem Sinne, nämlich als Gemeingut der Staatsgemeinde, find Schulen Staatsschulen oder Angelegenheit der gesamten Staatsgemeinde, der es nicht gleichgültig sein darf, worin die Jugend unterrichtet und wie sie erzogen wird. Die Staatsgemeinde ordnet daher für die einzelnen Gemeinden das Schulwesen gesetzlich, beaufsichtigt und leitet es durch fachkundige, unabhängige Organe oder Beamte. Diese haben aber nicht selbst das Recht der Gesetzgebung, sondern nur die Pflicht, die strenge Befolgung der Gesetze durchzuführen. Sie sind weder politische noch kirchliche Beamte, und daher nicht befugt, politische und kirchliche Gesinnung der Lehrer zu beaufsichtigen und wohl gar vorzuschreiben.

Soll die Schule aber das werden, wozu sie bestimmt ist, so muss man ihr die notwendige Freiheit gestatten, sich so zu organisieren, dass sie ungehemmt ihre Funktion verrichten kann. Freiheit verlangt die Schule, weil jeder Organismus derselben bedarf, wenn er das leisten soll, wozu er bestimmt ist; Freiheit gebührt ihr, damit sie nicht zu Privatzwecken Einzelner missbraucht werde und den ganzen Staatskörper erkranken mache; Freiheit endlich darf sie fordern, denn sie vertritt ja die Intelligenz, die wissenschaftliche Bildung, sie soll zur Selbstbestimmung und zur Sittlichkeit erziehen, und ohne Freiheit gibt es keine Sittlichkeit, sondern nur Materialismus. Wenn der Schule Freiheit gewährt werden soll, so ist damit selbstverständlich nicht Willkür gemeint, noch soll sie ein Staat im Staate sein wollen, sondern sie soll streng innerhalb der Grenzen ihrer Natur und Aufgabe bleiben, damit sie weder ein Anhängsel der Kirche, noch eine Polizeianstalt der Verwaltungsbehörde werde. Die Schule gehört der ganzen Staatsgemeinde an, nicht einzelnen Organen derselben; sie soll die jungen Geister nach den Naturgesetzen des Geistes und Leibes entwickeln und in das Reich der Ideen einführen, sie überhaupt befähigen, der höheren Aufgabe des Staats- und Volkslebens dienen zu können, aber sie soll weder Propaganda machen für politische Systeme, für vergängliche, wandelbare Interessen, noch soll sie unter dem Bann des Dogmas einer Kirchenpartei stehen, sondern die ewigen Interessen der allgemeinen menschlichen Bildung wahren, pflegen und in der Jugend lebendig erhalten, damit sie auch im Volke lebendig bleiben.
                              (Fortsetzung folgt)