Anfänge
Der Streit zwischen der Türkei und Russland, oder richtiger: der russo-byzantinische Streit (denn er begann lange bevor es eine Türkei in Europa gab), ist so alt wie Russland selbst. Seine Anfänge fallen zusammen mit den Anfängen des Zarenreiches, und sein Ende wird zugleich das Ende des Türkenreiches in Europa sein.
Die erste Lebensregung des ersten russischen Fürsten, dem eine hinlängliche Heeresmacht zu Gebote stand, war ein Eroberungszug nach Konstantinopel.
„Oleg (der Nachfolger Ruriks) setzte (907) seine Truppen ans Land, die nach dem alten Kriegsgebrauche viele Häuser und Kirchen plünderten und verbrannten, und die Menschen teils niederhieben, teils aufhenkten, teils ersäuften und auf verschiedene Weise marterten. Darauf befahl Oleg seinen Leuten, Räder zu machen und die Fahrzeuge darauf zu setzen. Der Wind ward günstig, blies in die Segel und trieb sie nach Konstantinopel. Über diesen Anblick erschraken die Griechen, und ließen ihn durch Gesandte bitten, er möchte die Stadt verschonen und einen beliebigen Tribut fordern. Oleg ließ sein Heer Halt machen. Man brachte aus der Stadt Wein und allerhand Esswaren, die aber nicht angenommen wurden, weil vielleicht Gift darunter sein konnte. Die Griechen, voll Furcht und Verwunderung, sagten:
„Es ist nicht Oleg, der uns bekrieget, sondern der heilige Demetrius ist von Gott zu unserer Züchtigung abgeschickt. ... Oleg hing, zum Zeichen des erhaltenen Sieges, seinen Schild an den Toren von Konstantinopel auf und trat mit großer Beute den Rückzug nach Russland zu Wasser an.“
So erzählt der russische Chronist,*) und seit dem Zuge Olegs war dem russischen Eroberungsdrange von vornherein eine bestimmte Richtung gegeben.
Byzanz schüttelte das russische Joch wieder von sich, und alsobald zog Igor, der Nachfolger Olegs, gegen die Griechen zu Felde.
*) Nestor, Bd. I. Kap. 3. Vgl. Lomonossoffs alte russische Geschichte, deutsche Ausgabe (Riga und Leipzig 1768) S. 81 ff.
„Der russische Fürst landete auf den Küsten von Kleinasien und bekriegte Bithynien, Paphlogonien und das Nikomedische Gebiet bis Herakleum. Während dieses Einfalls wurden in dem griechischen Gebiete von den Russen viele Kirchen und Klöster ausgeplündert und zerstört, und viele Menschen teils in Stücke zerhauen, teils erschossen, teils mit Nägeln, die sie ihnen in den Kopf schlugen, unmenschlicher Weise ermordet.“
Bekanntlich nahm dieser Eroberungszug für die Russen keinen so glücklichen Ausgang wie der erste; Theophanes zerstörte durch das auch unter dem Wasser brennende „griechische Feuer“ die russische Flotte und Igor musste geschlagen abziehen mit den flüchtigen Trümmern seines Heeres. Allein nach zwölf Jahren kam er wieder und bedrohte Konstantinopel mit einer so furchtbaren Macht, dass die griechischen Kaiser Roman, Konstantin und Stephan demütig um Frieden bitten ließen und sich ihm freiwillig für tributpflichtig erklärten. Er schloss mit ihnen einen Vertrag (945), welcher folgendermaßen beginnt:
„Der russische Großfürst Igor und alle seine Untertanen sollen mit den griechischen Kaisern Roman, Stephan und Konstantin in beständigem unverbrüchlichen Frieden leben so lange die Sonne scheint und die Welt steht. Wer dieses gute Vernehmen zu stören gedenkt, den treffe, wenn er ein Christ ist, die Rache Gottes des Allmächtigen; der sei zeitlich und ewig verflucht! Wenn es aber Ungetaufte sind, so soll ihnen Gott und Perun*) nicht helfen; ihre Schilde sollen sie nicht schützen; mit ihren Schwertern sollen sie zerhauen werden; sie sollen ein Jeglicher durch seine eignen Waffen umkommen und in unaufhörlicher Sklaverei leben!“ ... etc.
*) Die höchste Gottheit bei den alten Slaven.
Diesen Vertrag beschworen die russischen Gesandten bei ihrem heidnischen Gotte Perun und bei ihren Waffen; die christlichen Griechen aber beschworen ihn bei der heiligen Dreieinigkeit in der Kirche des heiligen Elias.
Igor gab seine Einwilligung zu diesem Vertrage, „ging den Hügel hinauf, wo die Bildsäule des Gottes Perun stand, legte Waffen, Schild und Gold davor nieder und beschwor den Frieden in Gegenwart der griechischen Gesandten, und mit ihm seine Bojaren und Kriegsobersten.“
Igor, verwöhnt durch das Glück und nicht zufrieden mit den Erfolgen seiner Beutezüge, suchte auch von den Drewliern Tribut zu erzwingen; diese aber bedachten, wie der Chronist erzählt:
„Dass der Wolf, wenn er erst gewöhnt wird Schafe zu stehlen, endlich die ganze Herde wegholt, wenn man ihn nicht tot schlägt.“ Sie ergriffen also die Waffen und erschlugen Igor und Alle, die mit ihm waren, vor Korosten, ihrer vornehmsten Stadt.
Auf Igor und Olga folgte Swjätoslaw, der — nach dem Zeugnisse Nestors — achtzig Städte in der Bulgarei eroberte und die größte davon, Perejaßlawetz, zu seiner Residenz erklärte.
Während seiner Abwesenheit bedrohten die Petschenägen seine russische Hauptstadt Kiew, welche Gesandte zu ihm schickte und ihm Vorstellungen machen ließ mit den Eingangsworten:
„Gnädiger Herr, Du strebst nach fremden Ländern und achtest Deiner eigenen nicht!“
Diese noch heute buchstäblich gültigen Worte enthalten die ganze Geschichte der russischen Politik, welche immer hauptsächlich darauf gerichtet war nach Außen Machtausdehnung und Ansehen zu gewinnen, ohne sich dabei viel um die innern Zustände des Landes zu kümmern.
Der ritterliche Swjätoslaw war unglücklich in seinen Kämpfen mit den Griechen und opferte bei den fruchtlosen Versuchen, Konstantinopel zu gewinnen, den besten Teil seiner Mannschaft. Er selbst wurde auf dem Ruckzuge von Griechenland, samt Allen, die mit ihm waren, am Dnjepr von den Petschenägen erschlagen, die seine Hirnschale in Gold fassten und darauf schrieben:
„Wer fremdes Gut sucht, verliert sein eigenes.“
Ich habe der byzantinischen Heerzüge der drei heidnischen Großfürsten Oleg, Igor und Swjätoslaw hier kurz Erwähnung getan, um zu zeigen, dass Russlands Hinneigung zu Konstantinopel älter ist als sein Christentum, und dass nicht bloß nach Rom viele Wege führen.
Noch unter Wladimir — der bekanntlich später das Christentum annahm und sein Volk zwang seinem Beispiele zu folgen — waren Menschenopfer in Russland gebräuchlich. Wie Nestor erzählt, wollte Wladimir den Göttern durch Menschenopfer sich dankbar erzeigen für seine ersten erfochtenen Siege. „Um hiezu einen jungen Menschen ausfindig zu machen, warfen die Priester das Los, und richteten es so ein, dass es auf den Sohn eines angesehenen, in Kiew wohnenden Warägers fallen musste.“
Die Einführung des Christentums in Russland ist — in politischer wie in kirchlicher Beziehung — ein Ereignis von so unermesslicher, täglich wachsender Bedeutung, dass es sich wohl der Mühe lohnt einen Augenblick betrachtend dabei zu verweilen, um zu erforschen, wie der byzantinisch-moskowische Heiligenbaum, der jetzt seine Zweige über sechzig Millionen Menschen ausdehnt, zuerst in russischem Grund und Boden Wurzel schlug.
„Die umherwohnenden Nationen — erzählt Lomonossoff*) — sahen in Wladimir den von Gott erfüllten Geist des alten römischen Gesetzgebers Numa. Deswegen bemühte sich jede von ihnen, den großen Fürsten zur Annahme ihrer Religion zu bewegen, nicht bloß um solche auszubreiten, sondern auch um mit dem mächtigen russischen Staate ein vorteilhaftes Bündnis und eine feste Freundschaft zu schließen.
*) Nach Nestor, den Annalisten und sogenannten Stufenbüchern.
„Den Anfang machten die Bulgaren, die Wladimir'n durch eine eigene Gesandtschaft anraten ließen, die muhamedanische Religion anzunehmen. Die Lehre von der Vielweiberei, die der Gegenstand seiner Hauptleidenschaft war (er hatte wie Salomo tausend Kebsweiber), und die ihm auch noch nach dem Tode erlaubt sein sollte, fand er zwar vollkommen nach seinem Geschmacke allein die Beschneidung missfiel ihm um so mehr, und vollends unmöglich schien es ihm zu sein, das Verbot des Weines und des Schweinefleisches unter den Russen durchzusetzen ... Es wurden also die Bulgaren mit ihrem Antrage abgewiesen.
„Darauf kamen die Abgeordneten des Papstes, um die Lehre der abendländischen Kirche anzupreisen. Diese hatte sich damals zwar noch nicht durch eine Kirchenversammlung von der griechischen getrennt, allein die große Uneinigkeit zwischen beiderlei Glaubensbekennern war doch schon häufig in öffentliche Unruhen ausgebrochen. Als der Großfürst die Lehrsätze gehört hatte, schickte er sie mit folgender Antwort zum Papste zurück:
Keiner von unseren Vorfahren ist von Eurer Religion gewesen: sie schickt sich für uns nicht.“
„Die Juden, die am Schwarzen Meere unter den Chasaren wohnten, machten ebenfalls einen Versuch, den Wladimir zur Annahme ihrer Religion zu bewegen. Sie sagten zu ihm:
„Jesum, an welchen die Christen glauben, haben unsere Vorväter gekreuzigt. Wir bekennen und verehren Einen Gott, den Schöpfer der ganzen Welt; wir halten die Beschneidung und fasten alle Sonnabende, nach dem Gesetze, das uns Gott durch Seinen Liebling Moses gegeben hat.“
„Die Beschneidung, vor welcher Wladimir einen Abscheu hatte, genügte schon die Absichten der Juden zu vereiteln. Er fragte aber noch überdem: „Wo ist Euer Vaterland?“ Sie anworteten: „Zu Jerusalem.“ Er fragte weiter: „Wohnet Ihr auch daselbst?“ worauf sie mit traurigen Mienen erwiderten: „Gott, der durch die Sünden unserer Vorväter zum Zorn gereizt war, hat uns über den ganzen Erdboden zerstreut und unser Land fremden Völkern gegeben.“ Wladimir ward unwillig darüber und sagte: „Da Ihr von Gott verstoßen und in fremde Länder zerstreut seid, so hat Er gewiss keinen Gefallen an Eurer Religion. Wollt Ihr uns dazu bloß deshalb verleiten, damit wir eben so hart von ihm gestraft werden?“ Also mussten die Juden mit Schimpf und Schande unverrichteter Sache abziehen.
„Endlich kam zu diesem großen Prinzen der von den griechischen Kaisern dazu ausersehene Philosoph Konstantin, welcher die falschen Lehren und Irrtümer der vorher zu ihm geschickten verschiedenen Religionsverwandten mit starken Gründen widerlegte.
„Wladimir verlangte von ihm einen kurzen Unterricht in der christlichen Religion. Der Philosoph erfüllte das Verlangen des Fürsten mit der ihm eigenen Beredtsamkeit ...
Indem er seine Rede endete, zeigte er ihm das jüngste Gericht auf einem Gewande abgemalt. Der jämmerliche Anblick der Verdammten und die prächtige Vorstellung der mit himmlischer Wonne bekleideten Seligen vergrößerten den Eindruck, den der Vortrag des Philosophen auf Wladimir gemacht hatte. Der Fürst seufzte und sagte: „Glückselig sind die zur Rechten; Wehe denen zur Linken, die in der Ferne stehen!“
„Beim Abschiede erwies er dem Konstantin viele Ehre und beschloss zur Annahme des Christentums eine bequeme Gelegenheit abzuwarten, unterdessen aber die Lehrsätze der verschiedenen Religionen sorgfältig untersuchen zu lassen ...
„Es wurden zehn kluge und verständige Männer auserkoren, und erst zu den Bulgaren an der Wolga, darauf nach Rom, und endlich nach Konstantinopel zu den Griechen geschickt. Die Juden wurden solcher Ehre für unwürdig geschätzt, weil sie durch Gottes Gerichte ihres Reiches und des freien Gottesdienstes beraubt waren.
„Die Gesandten reisten durch viele Städte und Länder und untersuchten nach Wladimirs Befehle die verschiedenen Religionen mit dem größten Fleiße. Als sie endlich, wie reiche Kaufleute, mit einem großen Schatze von Kenntnissen nach Kiew zurückkamen, befahl ihnen Wladimir in der Versammlung der vornehmsten Bojaren, die wegen ihres Alters und Verstandes in großem Ansehen standen, einen zuverlässigen Bericht abzustatten, was sie von einer jeden Religion, nicht durch das Gerücht vernommen, sondern mit ihren Augen gesehen hätten. Sie antworteten einstimmig: „Bei dem Gottesdienste der Bulgaren geht es verdrießlich und traurig her. In einer leeren Metschét (Moschee), die von allem Zierrat entblößt ist, stehen sie ohne Gürtel. Wenn sie eine Verbeugung gemacht haben, kauern sie nieder und sehen mit ihren dummen Gesichtern von einer Seite zur andern, als wenn sie unsinnig wären. Ihre alberne Religion stoßet dem Herzen keine freudige Empfindung ein und erhebt das Gemüt nicht zu Gott. Zu Rom ist der Gottesdienst zwar besser eingerichtet, allein es fehlt ihm die Ordnung, der harmonische Gesang und die Ausschmückung der Kirchen, die wir bei den Griechen gefunden haben. Als wir nach Konstantinopel kamen und in die Sophienkirche geführt wurden, welche Justinian der Große der göttlichen Weisheit zu Ehren erbaut hat, wurden wir durch das prächtige goldene Gerät, durch die kostbare Kleidung, durch den lieblichen Geruch und Glanz der brennenden Kerzen, durch das ordentliche und andächtige Gebet, durch den lauten und harmonischen Gesang dergestalt entzückt, dass wir uns durch eine göttliche Kraft in die lichten Wohnungen des Himmels versetzt glaubten. Da wir einmal diese Klarheit gesehen und genossen haben, gnädiger Herr! so können wir nicht länger in unserer Finsternis bleiben, sondern bitten vielmehr, dass Du uns erlaubest griechische Mitbürger und Christen zu werden.“ ... Wladimir fragte darauf: „Wo wollen wir uns taufen lassen?“ „und sie antworteten Alle: „Wo es Dir gefällig ist, gnädiger Herr!“ ....
„Schon durstet sein gerührtes Herz, gleich einem Hirsche, nach den Wasserquellen der heiligen Taufe; allein da er sich erinnerte, wie sehr er und seine Vorfahren den Griechen an Tapferkeit überlegen waren, so suchte er sein Vorhaben unter dem Scheine einer wichtigen Unternehmung zu verbergen, damit die griechischen Kaiser und die Griechen es nicht für eine Erniedrigung ansehen und nicht damit großtun möchten, dass die Russen von ihnen die Taufe verlangt hätten.“
Wie Wladimir darauf eine neue Heerfahrt unternahm, Theodosia eroberte, Botschaft nach Konstantinopel sandte, die griechische Prinzessin Anna heiratete und sich taufen ließ, ist männiglich bekannt aus der Geschichte.
Eben so bekannt ist, dass Wladimir — dem sein Volk den Beinamen „der Große“ und die Kirche den Beinamen „der Heilige“ gab — durch die Teilung Russlands unter seine zwölf Söhne der späteren Mongolenherrschaft gleichsam in die Hände arbeitete, durch welche die russischen Eroberungszüge nach der schönen Zargrad (Konstantinopel) bis zu unsern Tagen unterbrochen wurden.
Größer als alle Not und Trübsal, welche Russland unter der langen, drückenden Fremdherrschaft zu ertragen hatte, war der nicht hoch genug anzuschlagende Vorteil, dass das bis dahin durch Zersplitterung und Stammeshader schwache Volk neugekräftigt und gereinigt aus dem Tatarenjoche hervorging.
Dieses Joch hatte merkwürdiger Weise weder die Religion, noch die innere Organisation und Verwaltung des Landes beeinträchtigt. Die mongolischen Chane begnügten sich damit den Staat zu zentralisieren und von den russischen Fürsten ihren Tribut zu empfangen. Diese Fürsten regierten fort wie früher, nur mit dem Unterschiede, dass sie unter der Botmäßigkeit der Chane standen und diesen auf die demütigendste Weise vor allem Volke bei feierlichen Gelegenheiten ihre Unterwürfigkeit zu erkennen geben mussten.
Die ersten Befreiungsversuche Russlands von der Tatarenherrschaft fallen zusammen mit dem Untergang des byzantinischen Kaiserreichs.
Während Konstantinopel nach langem, hartnäckigen Widerstande (1453) dem Andrange der Osmanen erlag, wuchs — aus unscheinbaren Anfängen — im Herzen Russlands eine neue Stadt empor, welche bestimmt war die Erbin der byzantinischen Kaiserstadt und die Metropole des neugebornen Zarenreichs zu werden. Die in ihrer Heimat ohnmächtig gewordene griechische Kirche erhob sich in Russland zu neuer Macht, und Byzanz erzog sich in Moskau eine furchtbare Rächerin.
Die alten Eroberungszüge der russischen Fürsten nach Konstantinopel hatten notgedrungen aufgehört; denn nach der Vertreibung der Tataren war Russland noch lange Zeit hindurch zu erschöpft im Innern, um große Streitkräfte nach Außen entwickeln zu können, und dann war auch mit den kampfmutigen Türken nicht so leicht fertig zu werden, wie vordem mit den entnervten und entarteten Griechen. Aber die russische Sehnsucht nach Konstantinopel war unwandelbar dieselbe geblieben. Die neuen Glaubensbeziehungen hatten zwischen Griechen und Russen neue Verbindungsfäden geschlagen, und seit dem Beginne der Türkenherrschaft sah die in Byzanz unterdrückte Kirche auf ihre in Moskau herrschende Tochter als auf ihre einstige Befreierin.
Joann Wassiljewitsch suchte nach seinem Siege über die Tataren am Schwarzen Meere und im Kaukasus festen Fuß zu fassen, um dein Ziele aller russischen Politik der Eroberung Konstantinopels einen Schritt näher zu kommen.
Mit dem Zaren Feodor erlosch das Rurik’sche Regentenhaus, und die Erhebung Boris Godunoffs auf den Zarenthron, das Erscheinen des falschen Demetrius und die unglücklichen Kämpfe mit den Polen wurden zu einer solchen Quelle des Elends und innerer Zerwürfnisse für Russland, dass es einer kräftigen Hand und langer Zeit bedurfte, um sich von seiner gänzlichen Zerrüttung und Erschöpfung einigermaßen zu erholen.
Der Adel überlieferte sich und das Volk dem selbstgewählten Zaren Michael Romanoff, dem siebzehnjährigen Sohne des Erzbischofs Philaret, gleichsam mit gebundenen Händen, indem er einen aus Adel, Geistlichkeit und Städteabgeordneten bestehenden Reichstag berief, der ein Staatsgrundgesetz entwarf, welches die früheren Beschränkungen aufhob und dem Zaren für sich und alle seine Nachkommen unumschränkte Herrschergewalt sicherte.
Wie eifrig die Zaren aus dem Hause Romanoff die russo-byzantinischen Pläne wieder aufnahmen, mit welcher Zähigkeit und Ausdauer sie dieselben bis auf den heutigen Tag verfolgten und welche Vorteile sie dadurch erlangten, ist im Allgemeinen bekannt genug und soll ausführlicher in einem andern Kapitel dieses Buches entwickelt werden.
Hier war es nur meine Absicht, durch einen schnellen Überblick der russischen Geschichte darzutun, dass die Beherrschung Konstantinopels seit tausend Jahren der leitende Gedanke von Russlands auswärtiger Politik gewesen, dass dieser Gedanke dem Volke nachgerade in Fleisch und Blut übergegangen, ein volkstümlicher Gedanke geworden ist, und dass die Zaren nie eine Gelegenheit versäumt haben, welche einen Schritt näher zu seiner Verwirklichung führen konnte.
Das Ziel ist allezeit dasselbe geblieben, nur die Vorwände zur Erreichung des Ziels haben je nach den Umständen gewechselt.
Das Heidentum, das Christentum und der Islam haben der russischen Ausdehnungspolitik der Reihe nach als Mittel zum Zweck dienen müssen.
Bei den alten heidnischen Großfürsten galt es als eine Ehrensache „ihren Schild aufzuhängen an den Toren von Byzanz.“ Sie zogen nach Konstantinopel, um die Christen zu bekämpfen und sie sich tributpflichtig zu machen, — und die christlichen Beherrscher Russlands waren seit Peter dem Großen wenigstens alle auf dem Wege nach Konstantinopel, um den Christen beizustehen und — sie sich tributpflichtig zu machen.
Ist es nun eine offenkundige, selbst von keinem Russen bis auf Kaiser Nikolaus (der nach den Seymour'schen Enthüllungen bloß Konstantinopel — als den Kopf — und die Dardanellen — als den Hals — des „kranken Mannes“ für sich behalten, alle übrigen Glieder aber verteilen oder ein selbstständiges Leben führen lassen wollte), geleugnete Tatsache, dass Russland von jeher nach der Herrschaft des Osmanenreichs gestrebt hat und noch strebt, so begreift man kaum, wie es bei uns dennoch viele brave Leute gibt, welche allen Ernstes glauben, dass die russischen Bestrebungen kein anderes Motiv und keinen andern Endzweck hätten, als das Christentum gegen den Islam zu schützen.
Wem nicht aus eigner Erfahrung oder aus glaubenswürdigen Reiseberichten bekannt ist, dass allen rechtgläubigen Moskowitern die Christen anderer Konfessionen ferner stehen als die Türken, und wem durch die verschiedenen kaiserlichen Proklamationen, in welchen alle Völker des Okzidents geradezu „Heiden“ genannt werden, die Augen noch nicht hinlänglich geöffnet sind, dem will ich durch ein Beispiel aus meiner eignen Erfahrung veranschaulichen, was es mit dem russischen Schutze der christlichen Kirche für eine Bewandtnis hat.
Die erste Lebensregung des ersten russischen Fürsten, dem eine hinlängliche Heeresmacht zu Gebote stand, war ein Eroberungszug nach Konstantinopel.
„Oleg (der Nachfolger Ruriks) setzte (907) seine Truppen ans Land, die nach dem alten Kriegsgebrauche viele Häuser und Kirchen plünderten und verbrannten, und die Menschen teils niederhieben, teils aufhenkten, teils ersäuften und auf verschiedene Weise marterten. Darauf befahl Oleg seinen Leuten, Räder zu machen und die Fahrzeuge darauf zu setzen. Der Wind ward günstig, blies in die Segel und trieb sie nach Konstantinopel. Über diesen Anblick erschraken die Griechen, und ließen ihn durch Gesandte bitten, er möchte die Stadt verschonen und einen beliebigen Tribut fordern. Oleg ließ sein Heer Halt machen. Man brachte aus der Stadt Wein und allerhand Esswaren, die aber nicht angenommen wurden, weil vielleicht Gift darunter sein konnte. Die Griechen, voll Furcht und Verwunderung, sagten:
„Es ist nicht Oleg, der uns bekrieget, sondern der heilige Demetrius ist von Gott zu unserer Züchtigung abgeschickt. ... Oleg hing, zum Zeichen des erhaltenen Sieges, seinen Schild an den Toren von Konstantinopel auf und trat mit großer Beute den Rückzug nach Russland zu Wasser an.“
So erzählt der russische Chronist,*) und seit dem Zuge Olegs war dem russischen Eroberungsdrange von vornherein eine bestimmte Richtung gegeben.
Byzanz schüttelte das russische Joch wieder von sich, und alsobald zog Igor, der Nachfolger Olegs, gegen die Griechen zu Felde.
*) Nestor, Bd. I. Kap. 3. Vgl. Lomonossoffs alte russische Geschichte, deutsche Ausgabe (Riga und Leipzig 1768) S. 81 ff.
„Der russische Fürst landete auf den Küsten von Kleinasien und bekriegte Bithynien, Paphlogonien und das Nikomedische Gebiet bis Herakleum. Während dieses Einfalls wurden in dem griechischen Gebiete von den Russen viele Kirchen und Klöster ausgeplündert und zerstört, und viele Menschen teils in Stücke zerhauen, teils erschossen, teils mit Nägeln, die sie ihnen in den Kopf schlugen, unmenschlicher Weise ermordet.“
Bekanntlich nahm dieser Eroberungszug für die Russen keinen so glücklichen Ausgang wie der erste; Theophanes zerstörte durch das auch unter dem Wasser brennende „griechische Feuer“ die russische Flotte und Igor musste geschlagen abziehen mit den flüchtigen Trümmern seines Heeres. Allein nach zwölf Jahren kam er wieder und bedrohte Konstantinopel mit einer so furchtbaren Macht, dass die griechischen Kaiser Roman, Konstantin und Stephan demütig um Frieden bitten ließen und sich ihm freiwillig für tributpflichtig erklärten. Er schloss mit ihnen einen Vertrag (945), welcher folgendermaßen beginnt:
„Der russische Großfürst Igor und alle seine Untertanen sollen mit den griechischen Kaisern Roman, Stephan und Konstantin in beständigem unverbrüchlichen Frieden leben so lange die Sonne scheint und die Welt steht. Wer dieses gute Vernehmen zu stören gedenkt, den treffe, wenn er ein Christ ist, die Rache Gottes des Allmächtigen; der sei zeitlich und ewig verflucht! Wenn es aber Ungetaufte sind, so soll ihnen Gott und Perun*) nicht helfen; ihre Schilde sollen sie nicht schützen; mit ihren Schwertern sollen sie zerhauen werden; sie sollen ein Jeglicher durch seine eignen Waffen umkommen und in unaufhörlicher Sklaverei leben!“ ... etc.
*) Die höchste Gottheit bei den alten Slaven.
Diesen Vertrag beschworen die russischen Gesandten bei ihrem heidnischen Gotte Perun und bei ihren Waffen; die christlichen Griechen aber beschworen ihn bei der heiligen Dreieinigkeit in der Kirche des heiligen Elias.
Igor gab seine Einwilligung zu diesem Vertrage, „ging den Hügel hinauf, wo die Bildsäule des Gottes Perun stand, legte Waffen, Schild und Gold davor nieder und beschwor den Frieden in Gegenwart der griechischen Gesandten, und mit ihm seine Bojaren und Kriegsobersten.“
Igor, verwöhnt durch das Glück und nicht zufrieden mit den Erfolgen seiner Beutezüge, suchte auch von den Drewliern Tribut zu erzwingen; diese aber bedachten, wie der Chronist erzählt:
„Dass der Wolf, wenn er erst gewöhnt wird Schafe zu stehlen, endlich die ganze Herde wegholt, wenn man ihn nicht tot schlägt.“ Sie ergriffen also die Waffen und erschlugen Igor und Alle, die mit ihm waren, vor Korosten, ihrer vornehmsten Stadt.
Auf Igor und Olga folgte Swjätoslaw, der — nach dem Zeugnisse Nestors — achtzig Städte in der Bulgarei eroberte und die größte davon, Perejaßlawetz, zu seiner Residenz erklärte.
Während seiner Abwesenheit bedrohten die Petschenägen seine russische Hauptstadt Kiew, welche Gesandte zu ihm schickte und ihm Vorstellungen machen ließ mit den Eingangsworten:
„Gnädiger Herr, Du strebst nach fremden Ländern und achtest Deiner eigenen nicht!“
Diese noch heute buchstäblich gültigen Worte enthalten die ganze Geschichte der russischen Politik, welche immer hauptsächlich darauf gerichtet war nach Außen Machtausdehnung und Ansehen zu gewinnen, ohne sich dabei viel um die innern Zustände des Landes zu kümmern.
Der ritterliche Swjätoslaw war unglücklich in seinen Kämpfen mit den Griechen und opferte bei den fruchtlosen Versuchen, Konstantinopel zu gewinnen, den besten Teil seiner Mannschaft. Er selbst wurde auf dem Ruckzuge von Griechenland, samt Allen, die mit ihm waren, am Dnjepr von den Petschenägen erschlagen, die seine Hirnschale in Gold fassten und darauf schrieben:
„Wer fremdes Gut sucht, verliert sein eigenes.“
Ich habe der byzantinischen Heerzüge der drei heidnischen Großfürsten Oleg, Igor und Swjätoslaw hier kurz Erwähnung getan, um zu zeigen, dass Russlands Hinneigung zu Konstantinopel älter ist als sein Christentum, und dass nicht bloß nach Rom viele Wege führen.
Noch unter Wladimir — der bekanntlich später das Christentum annahm und sein Volk zwang seinem Beispiele zu folgen — waren Menschenopfer in Russland gebräuchlich. Wie Nestor erzählt, wollte Wladimir den Göttern durch Menschenopfer sich dankbar erzeigen für seine ersten erfochtenen Siege. „Um hiezu einen jungen Menschen ausfindig zu machen, warfen die Priester das Los, und richteten es so ein, dass es auf den Sohn eines angesehenen, in Kiew wohnenden Warägers fallen musste.“
Die Einführung des Christentums in Russland ist — in politischer wie in kirchlicher Beziehung — ein Ereignis von so unermesslicher, täglich wachsender Bedeutung, dass es sich wohl der Mühe lohnt einen Augenblick betrachtend dabei zu verweilen, um zu erforschen, wie der byzantinisch-moskowische Heiligenbaum, der jetzt seine Zweige über sechzig Millionen Menschen ausdehnt, zuerst in russischem Grund und Boden Wurzel schlug.
„Die umherwohnenden Nationen — erzählt Lomonossoff*) — sahen in Wladimir den von Gott erfüllten Geist des alten römischen Gesetzgebers Numa. Deswegen bemühte sich jede von ihnen, den großen Fürsten zur Annahme ihrer Religion zu bewegen, nicht bloß um solche auszubreiten, sondern auch um mit dem mächtigen russischen Staate ein vorteilhaftes Bündnis und eine feste Freundschaft zu schließen.
*) Nach Nestor, den Annalisten und sogenannten Stufenbüchern.
„Den Anfang machten die Bulgaren, die Wladimir'n durch eine eigene Gesandtschaft anraten ließen, die muhamedanische Religion anzunehmen. Die Lehre von der Vielweiberei, die der Gegenstand seiner Hauptleidenschaft war (er hatte wie Salomo tausend Kebsweiber), und die ihm auch noch nach dem Tode erlaubt sein sollte, fand er zwar vollkommen nach seinem Geschmacke allein die Beschneidung missfiel ihm um so mehr, und vollends unmöglich schien es ihm zu sein, das Verbot des Weines und des Schweinefleisches unter den Russen durchzusetzen ... Es wurden also die Bulgaren mit ihrem Antrage abgewiesen.
„Darauf kamen die Abgeordneten des Papstes, um die Lehre der abendländischen Kirche anzupreisen. Diese hatte sich damals zwar noch nicht durch eine Kirchenversammlung von der griechischen getrennt, allein die große Uneinigkeit zwischen beiderlei Glaubensbekennern war doch schon häufig in öffentliche Unruhen ausgebrochen. Als der Großfürst die Lehrsätze gehört hatte, schickte er sie mit folgender Antwort zum Papste zurück:
Keiner von unseren Vorfahren ist von Eurer Religion gewesen: sie schickt sich für uns nicht.“
„Die Juden, die am Schwarzen Meere unter den Chasaren wohnten, machten ebenfalls einen Versuch, den Wladimir zur Annahme ihrer Religion zu bewegen. Sie sagten zu ihm:
„Jesum, an welchen die Christen glauben, haben unsere Vorväter gekreuzigt. Wir bekennen und verehren Einen Gott, den Schöpfer der ganzen Welt; wir halten die Beschneidung und fasten alle Sonnabende, nach dem Gesetze, das uns Gott durch Seinen Liebling Moses gegeben hat.“
„Die Beschneidung, vor welcher Wladimir einen Abscheu hatte, genügte schon die Absichten der Juden zu vereiteln. Er fragte aber noch überdem: „Wo ist Euer Vaterland?“ Sie anworteten: „Zu Jerusalem.“ Er fragte weiter: „Wohnet Ihr auch daselbst?“ worauf sie mit traurigen Mienen erwiderten: „Gott, der durch die Sünden unserer Vorväter zum Zorn gereizt war, hat uns über den ganzen Erdboden zerstreut und unser Land fremden Völkern gegeben.“ Wladimir ward unwillig darüber und sagte: „Da Ihr von Gott verstoßen und in fremde Länder zerstreut seid, so hat Er gewiss keinen Gefallen an Eurer Religion. Wollt Ihr uns dazu bloß deshalb verleiten, damit wir eben so hart von ihm gestraft werden?“ Also mussten die Juden mit Schimpf und Schande unverrichteter Sache abziehen.
„Endlich kam zu diesem großen Prinzen der von den griechischen Kaisern dazu ausersehene Philosoph Konstantin, welcher die falschen Lehren und Irrtümer der vorher zu ihm geschickten verschiedenen Religionsverwandten mit starken Gründen widerlegte.
„Wladimir verlangte von ihm einen kurzen Unterricht in der christlichen Religion. Der Philosoph erfüllte das Verlangen des Fürsten mit der ihm eigenen Beredtsamkeit ...
Indem er seine Rede endete, zeigte er ihm das jüngste Gericht auf einem Gewande abgemalt. Der jämmerliche Anblick der Verdammten und die prächtige Vorstellung der mit himmlischer Wonne bekleideten Seligen vergrößerten den Eindruck, den der Vortrag des Philosophen auf Wladimir gemacht hatte. Der Fürst seufzte und sagte: „Glückselig sind die zur Rechten; Wehe denen zur Linken, die in der Ferne stehen!“
„Beim Abschiede erwies er dem Konstantin viele Ehre und beschloss zur Annahme des Christentums eine bequeme Gelegenheit abzuwarten, unterdessen aber die Lehrsätze der verschiedenen Religionen sorgfältig untersuchen zu lassen ...
„Es wurden zehn kluge und verständige Männer auserkoren, und erst zu den Bulgaren an der Wolga, darauf nach Rom, und endlich nach Konstantinopel zu den Griechen geschickt. Die Juden wurden solcher Ehre für unwürdig geschätzt, weil sie durch Gottes Gerichte ihres Reiches und des freien Gottesdienstes beraubt waren.
„Die Gesandten reisten durch viele Städte und Länder und untersuchten nach Wladimirs Befehle die verschiedenen Religionen mit dem größten Fleiße. Als sie endlich, wie reiche Kaufleute, mit einem großen Schatze von Kenntnissen nach Kiew zurückkamen, befahl ihnen Wladimir in der Versammlung der vornehmsten Bojaren, die wegen ihres Alters und Verstandes in großem Ansehen standen, einen zuverlässigen Bericht abzustatten, was sie von einer jeden Religion, nicht durch das Gerücht vernommen, sondern mit ihren Augen gesehen hätten. Sie antworteten einstimmig: „Bei dem Gottesdienste der Bulgaren geht es verdrießlich und traurig her. In einer leeren Metschét (Moschee), die von allem Zierrat entblößt ist, stehen sie ohne Gürtel. Wenn sie eine Verbeugung gemacht haben, kauern sie nieder und sehen mit ihren dummen Gesichtern von einer Seite zur andern, als wenn sie unsinnig wären. Ihre alberne Religion stoßet dem Herzen keine freudige Empfindung ein und erhebt das Gemüt nicht zu Gott. Zu Rom ist der Gottesdienst zwar besser eingerichtet, allein es fehlt ihm die Ordnung, der harmonische Gesang und die Ausschmückung der Kirchen, die wir bei den Griechen gefunden haben. Als wir nach Konstantinopel kamen und in die Sophienkirche geführt wurden, welche Justinian der Große der göttlichen Weisheit zu Ehren erbaut hat, wurden wir durch das prächtige goldene Gerät, durch die kostbare Kleidung, durch den lieblichen Geruch und Glanz der brennenden Kerzen, durch das ordentliche und andächtige Gebet, durch den lauten und harmonischen Gesang dergestalt entzückt, dass wir uns durch eine göttliche Kraft in die lichten Wohnungen des Himmels versetzt glaubten. Da wir einmal diese Klarheit gesehen und genossen haben, gnädiger Herr! so können wir nicht länger in unserer Finsternis bleiben, sondern bitten vielmehr, dass Du uns erlaubest griechische Mitbürger und Christen zu werden.“ ... Wladimir fragte darauf: „Wo wollen wir uns taufen lassen?“ „und sie antworteten Alle: „Wo es Dir gefällig ist, gnädiger Herr!“ ....
„Schon durstet sein gerührtes Herz, gleich einem Hirsche, nach den Wasserquellen der heiligen Taufe; allein da er sich erinnerte, wie sehr er und seine Vorfahren den Griechen an Tapferkeit überlegen waren, so suchte er sein Vorhaben unter dem Scheine einer wichtigen Unternehmung zu verbergen, damit die griechischen Kaiser und die Griechen es nicht für eine Erniedrigung ansehen und nicht damit großtun möchten, dass die Russen von ihnen die Taufe verlangt hätten.“
Wie Wladimir darauf eine neue Heerfahrt unternahm, Theodosia eroberte, Botschaft nach Konstantinopel sandte, die griechische Prinzessin Anna heiratete und sich taufen ließ, ist männiglich bekannt aus der Geschichte.
Eben so bekannt ist, dass Wladimir — dem sein Volk den Beinamen „der Große“ und die Kirche den Beinamen „der Heilige“ gab — durch die Teilung Russlands unter seine zwölf Söhne der späteren Mongolenherrschaft gleichsam in die Hände arbeitete, durch welche die russischen Eroberungszüge nach der schönen Zargrad (Konstantinopel) bis zu unsern Tagen unterbrochen wurden.
Größer als alle Not und Trübsal, welche Russland unter der langen, drückenden Fremdherrschaft zu ertragen hatte, war der nicht hoch genug anzuschlagende Vorteil, dass das bis dahin durch Zersplitterung und Stammeshader schwache Volk neugekräftigt und gereinigt aus dem Tatarenjoche hervorging.
Dieses Joch hatte merkwürdiger Weise weder die Religion, noch die innere Organisation und Verwaltung des Landes beeinträchtigt. Die mongolischen Chane begnügten sich damit den Staat zu zentralisieren und von den russischen Fürsten ihren Tribut zu empfangen. Diese Fürsten regierten fort wie früher, nur mit dem Unterschiede, dass sie unter der Botmäßigkeit der Chane standen und diesen auf die demütigendste Weise vor allem Volke bei feierlichen Gelegenheiten ihre Unterwürfigkeit zu erkennen geben mussten.
Die ersten Befreiungsversuche Russlands von der Tatarenherrschaft fallen zusammen mit dem Untergang des byzantinischen Kaiserreichs.
Während Konstantinopel nach langem, hartnäckigen Widerstande (1453) dem Andrange der Osmanen erlag, wuchs — aus unscheinbaren Anfängen — im Herzen Russlands eine neue Stadt empor, welche bestimmt war die Erbin der byzantinischen Kaiserstadt und die Metropole des neugebornen Zarenreichs zu werden. Die in ihrer Heimat ohnmächtig gewordene griechische Kirche erhob sich in Russland zu neuer Macht, und Byzanz erzog sich in Moskau eine furchtbare Rächerin.
Die alten Eroberungszüge der russischen Fürsten nach Konstantinopel hatten notgedrungen aufgehört; denn nach der Vertreibung der Tataren war Russland noch lange Zeit hindurch zu erschöpft im Innern, um große Streitkräfte nach Außen entwickeln zu können, und dann war auch mit den kampfmutigen Türken nicht so leicht fertig zu werden, wie vordem mit den entnervten und entarteten Griechen. Aber die russische Sehnsucht nach Konstantinopel war unwandelbar dieselbe geblieben. Die neuen Glaubensbeziehungen hatten zwischen Griechen und Russen neue Verbindungsfäden geschlagen, und seit dem Beginne der Türkenherrschaft sah die in Byzanz unterdrückte Kirche auf ihre in Moskau herrschende Tochter als auf ihre einstige Befreierin.
Joann Wassiljewitsch suchte nach seinem Siege über die Tataren am Schwarzen Meere und im Kaukasus festen Fuß zu fassen, um dein Ziele aller russischen Politik der Eroberung Konstantinopels einen Schritt näher zu kommen.
Mit dem Zaren Feodor erlosch das Rurik’sche Regentenhaus, und die Erhebung Boris Godunoffs auf den Zarenthron, das Erscheinen des falschen Demetrius und die unglücklichen Kämpfe mit den Polen wurden zu einer solchen Quelle des Elends und innerer Zerwürfnisse für Russland, dass es einer kräftigen Hand und langer Zeit bedurfte, um sich von seiner gänzlichen Zerrüttung und Erschöpfung einigermaßen zu erholen.
Der Adel überlieferte sich und das Volk dem selbstgewählten Zaren Michael Romanoff, dem siebzehnjährigen Sohne des Erzbischofs Philaret, gleichsam mit gebundenen Händen, indem er einen aus Adel, Geistlichkeit und Städteabgeordneten bestehenden Reichstag berief, der ein Staatsgrundgesetz entwarf, welches die früheren Beschränkungen aufhob und dem Zaren für sich und alle seine Nachkommen unumschränkte Herrschergewalt sicherte.
Wie eifrig die Zaren aus dem Hause Romanoff die russo-byzantinischen Pläne wieder aufnahmen, mit welcher Zähigkeit und Ausdauer sie dieselben bis auf den heutigen Tag verfolgten und welche Vorteile sie dadurch erlangten, ist im Allgemeinen bekannt genug und soll ausführlicher in einem andern Kapitel dieses Buches entwickelt werden.
Hier war es nur meine Absicht, durch einen schnellen Überblick der russischen Geschichte darzutun, dass die Beherrschung Konstantinopels seit tausend Jahren der leitende Gedanke von Russlands auswärtiger Politik gewesen, dass dieser Gedanke dem Volke nachgerade in Fleisch und Blut übergegangen, ein volkstümlicher Gedanke geworden ist, und dass die Zaren nie eine Gelegenheit versäumt haben, welche einen Schritt näher zu seiner Verwirklichung führen konnte.
Das Ziel ist allezeit dasselbe geblieben, nur die Vorwände zur Erreichung des Ziels haben je nach den Umständen gewechselt.
Das Heidentum, das Christentum und der Islam haben der russischen Ausdehnungspolitik der Reihe nach als Mittel zum Zweck dienen müssen.
Bei den alten heidnischen Großfürsten galt es als eine Ehrensache „ihren Schild aufzuhängen an den Toren von Byzanz.“ Sie zogen nach Konstantinopel, um die Christen zu bekämpfen und sie sich tributpflichtig zu machen, — und die christlichen Beherrscher Russlands waren seit Peter dem Großen wenigstens alle auf dem Wege nach Konstantinopel, um den Christen beizustehen und — sie sich tributpflichtig zu machen.
Ist es nun eine offenkundige, selbst von keinem Russen bis auf Kaiser Nikolaus (der nach den Seymour'schen Enthüllungen bloß Konstantinopel — als den Kopf — und die Dardanellen — als den Hals — des „kranken Mannes“ für sich behalten, alle übrigen Glieder aber verteilen oder ein selbstständiges Leben führen lassen wollte), geleugnete Tatsache, dass Russland von jeher nach der Herrschaft des Osmanenreichs gestrebt hat und noch strebt, so begreift man kaum, wie es bei uns dennoch viele brave Leute gibt, welche allen Ernstes glauben, dass die russischen Bestrebungen kein anderes Motiv und keinen andern Endzweck hätten, als das Christentum gegen den Islam zu schützen.
Wem nicht aus eigner Erfahrung oder aus glaubenswürdigen Reiseberichten bekannt ist, dass allen rechtgläubigen Moskowitern die Christen anderer Konfessionen ferner stehen als die Türken, und wem durch die verschiedenen kaiserlichen Proklamationen, in welchen alle Völker des Okzidents geradezu „Heiden“ genannt werden, die Augen noch nicht hinlänglich geöffnet sind, dem will ich durch ein Beispiel aus meiner eignen Erfahrung veranschaulichen, was es mit dem russischen Schutze der christlichen Kirche für eine Bewandtnis hat.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Völker des Kaukasus und ihre Freiheitskämpfe gegen die Russen Bd1