Afrikanische Menschenstämme und deren Wohnsitze - Einleitung

Als ich Ägyptens niedriges Meeresgestade bei Alexandria betrat, glaubte ich in den mir begegnenden Fellah, Nubiern und Schwarzen Typen gänzlich verschiedener Menschenrassen zu erkennen, welche einander von Hause aus fremd, nur durch den Zufall des Tages zusammengewürfelt worden seien. Alte Lehren, alte Erinnerungen, längstgehegte Gedanken tauchten in mir auf, als ich die lebenden Völkergalerien durchmusterte. Beim Betreten des großen Gewühles in Massr-el-Qahireh, der begnadeten und gelehrten Stadt des mohammedanischen Orient, verwirrte sich anfänglich das sich mir eröffnende Bild. Ich will hier nicht erst von den grell und phantastisch gekleideten Amanten sprechen, deren damals acht Regimenter ihre Rosse im Staube Altkairos tummelten, nicht von den stahlgepanzerten Tscherkessengarden des Statthalters Said-Pascha, nicht von den Pilgrimen 1) aus Turkistan, nicht von den Händlern und Dellâlen 2) aus Smyrna, Beirut, Damaskus, aus Basra, Bagdad, Meschhed und Ispahan, nicht von den ernsten osmanischen Paschas, Beys und Aghas, den derzeitigen Gebietern des Landes, sie waren ja, gerade wie die Armenier, Griechen und Franken 3), auffällige, leicht erkennbare Fremdlingsgestalten auf Afrikas Boden. Ganz anders aber verhielt es sich mit allen denen, welche mit dem leicht aussprechbaren und vielfach so leichtfertig gebrauchten Worte Araber betitelt wurden, ferner mit jenen in den Barbareskenstaaten, im sogenannten Magreb oder afrikanischen Nordwesten angeworbenen, unfern Bulak in der Zahl von 4.000 campierenden Reitertruppen, ferner mit den zahlreichen Vertretern aller jener nilotischen, zentralen und westlichen Stämme, bei deren Anblick sich die mir schulgerecht dünkende Frage aufwarf, sind das Semiten, Hamiten, sind das Kaukasier oder Äthiopier?

Erst als sich die zu Beginn an mir vorüberjagenden, einander gewissermaßen überstürzenden Eindrücke zu ordnen begannen, vermochte ich die Einzelheiten des Völkergemäldes besser aufzufassen und zu sichten. Später allmählich, nilaufwärts ziehend, Landschaft um Landschaft durchmessend, bis in den Steppen und Wäldern der Funje die trotzigen feindseligen Ingassena, an den Zinnen des Fazoglobergs das unbarmherzige Fieber weitern Wanderungen, wenn auch nicht weitern Forschungen ein Ziel setzten, da änderten sich die ursprünglichen, von alten Vorurteilen beherrschten Ansichten über die Völker Afrikas sehr wesentlich. Ich gelangte bereits auf afrikanischem Boden zu der Überzeugung, dass hier mit den Begriffen Kaukasier, Äthiopier, Semiten und Hamiten im ganzen sehr wenig anzufangen sei, so wenig wie etwa mit den Begriffen Arier, Indoeuropäer, Turanier. Ich merkte, dass die ethnologische Forschung für die Aufhellung der verwickelten Völkerverhältnisse der nördlichen Hälfte Afrikas andere Bahnen aufsuchen müsse, als die bisher meist übliche einer einseitigen Gegenüberstellung scharf begrenzter Rassengegensätze und als verbrauchte Sammelbezeichnungen für Völker, die einmal nicht unter den Hut doktrinärer Anschauungen zusammengezwängt werden können. Neben der möglichst ausgedehnten Selbstbeobachtung lebendigen Völkermaterials, zu welcher besonders der gänzlich unverdiente Ruf eines hervorragenden Arztes 4) die Wege in vorher kaum geahnter Weise ebnete, waren mir natürlich die Erzeugnisse des Todes, d. h. Leichen, Skelete, Schädel, vorzügliche, in reicher Fülle gebotene Forschungsobjekte. 5) Daneben erwiesen sich gleich von Anfang an die altägyptischen Wandgemälde, Reliefbilder, Büsten und Statuen, die charakteristischen Schöpfungen einer urwüchsigen, barocken, aber im Risse stets das Eigentümliche, das Nationale treffenden Kunstlebens als vorzügliche Hilfsmittel zur vergleichenden, mitten auf geschichtlichem Boden sich bewegenden allgemeinern und zur Detailforschung. Später wurde — auch daheim — keine Gelegenheit versäumt, Afrikaner zu sehen und zu untersuchen. Sie bot sich, dank unsern regen heutigen Verkehrsverhältnissen, häufiger dar, als ich in den ersten Tagen meiner Rückkehr aus Afrika hoffen zu dürfen geglaubt. Ferner wurden die Gemälde und Zeichenmappen hervorragender Künstler, begabter Dilettanten, der Vernet, Gérome, Gentz, Richter, Makart, R. Kretschmer, Alma Tadema, Daniell, der C. Harris, Baines, Harnier, Schweinfurth, Pechuël-Loesche u. a., endlich die unvergleichlichen Erzeugnisse der Photographie, die Leistungen der Hammerschmidt, James, Sébah, Trémaux, Kisch, Fritsch, J. M. Hildebrandt, Falkenstein, Elton, Playfair, Joaque, Buchta und zahlreicher anderer (mir zum Teil persönlich Unbekannter) eine stete Quelle weiterer Belehrung.


Mehr und mehr lernte ich einsehen, dass die Bezeichnung Neger für die dunkelhäutigen kraushaarigen Bewohner eines großen Teiles von Afrika sehr häufig in missbräuchliche Anwendung gezogen werde. Ich schlug daher schon vor Jahren für jene große Völkergruppe die mehr präzisierende Bezeichnung Nigritier [Schwarze] vor. Es entstand mein so betiteltes Buch 7), eine Anzahl Studien geschichtlicher, ethnographischer, sprachlicher und physisch-anthropologischer Natur, welche, zu einer monographischen Arbeit vereinigt, mich noch gegenwärtig beschäftigen. Nachfolgendes Schriftchen soll nun nicht etwa einen Auszug aus obigem Buche bringen, sondern es soll in ganz selbstständiger Behandlung einen Einblick in das Leben der gesamten bis jetzt bekannt gewordenen Menschheit Afrikas gewähren. Vielleicht wird gerade diese Art der Darstellung eines selbst noch vielfach unfertigen und noch lebhaft umstrittenen Themas ihre Freunde gewinnen.


                                    Anmerkungen

1) zu S. 1. Pilgrime aus Turkistân, mit welchem letztem Namen im Orient häufig die innerasiatischen Gebiete von Chiwa, Bochara, Taschkend u. s. w. bezeichnet werden, machen nicht selten einen Abstecher von den heiligen Stätten aus nach Ägypten, wo man sie denn in ihren buntgestickten, mit Wollfranzen besetzten Kegelmützen oder in ihren hohen Turbanen, mit teils scharf gezeichneten, teils stumpfen kirgisisch-gebildeten Zügen umherbummeln sieht. Manche sind Bettlerderwische und Haschasch. (S. 194.)

2) zu S. 1. Die Dellâle oder Mäkler machen sich im ganzen Orient unentbehrlich. Sie sind z. B. sehr brauchbar bei Einkäufen auf den Bazaren, sobald man nur vor augenfälligen Prellereien seitens derselben auf der Hut ist. Klunzinger erzählt, dass die in Kosser landenden Pilgrime ihre unterwegs aufgekauften oder erbettelten Waren aus Geldnot durch den Mäkler losschlagen lassen. Waffen, Bücher, Räuchergefäße, Stücken der schwarzen Koralle, Rosenkränze aus diesen oder aus Aloeholz, lederne und metallene Gefäße mit heiligem Semsemwasser gefüllt, Bilderbogen mit den Ansichten der heiligen Stätten, eingewickelte Klösschen mit heiliger Mekka- und Medinaerde, Datteln vom Grabe des Propheten, Zahnstocher und andere Reliquien. (Vgl. Klunzinger, Bilder aus Oberägypten, der Wüste und dem Rothen Meere, Stuttgart 1877— 79; 2. Aufl., S. 320.) Wir selbst fanden den Dellâl bis nach dem Innern von Afrika hinein verbreitet und erhandelten mit seiner Hilfe von den Funje und Abu Rof am Guleberg jene S. 163 geschilderten Marktprodukte. Eine höchst lesenswerte, an launigen und kulturgeschichtlichen Bemerkungen reiche Darstellung der Wirksamkeit persischer Dellâle gewährt uns H. Brugsch in seiner „Reise der königlich preußischen Gesandtschaft nach Persien 1860 und 1861" (Leipzig 1863), II, 74 fg. In Nordafrika gibt es aber auch Dellâlehs, d. h. weibliche Mäkler. Diese haben in den Harems Zutritt, verschachern die oft sehr zierlichen Stickereien und andern Handarbeiten der Damen und versehen nebenbei das Geschäft der Katbehs oder professionierten Ehekupplerinnen.

3) zu S. 1. Franken, Effrendj, Singul. Frendji, Frengi, werden in Ägypten im allgemeinen die Inglis oder Engländer, die Fransa oder Franzosen, die Sbaniulin oder Spanier, die Bertukan oder Portugiesen, die Nemsa oder Süddeutschen und Österreicher, die Burusianin oder Preußen, Norddeutschen, die Talianin oder Italiener und die Moskob oder Russen genannt. Der Grieche, Rumi, zählt im allgemeinen nicht zu den Franken. Die Osmanen nennt man Turuk (Sing. Turki), die Amerikaner Malekamin. Armenier heißt Armeni.

4) zu S. 2. Der unverdiente Ruf, als Begleiter eines preußischen Prinzensohnes ein hervorragender Arzt zu sein, welche letztere Eigenschaft schon durch mein damaliges jugendliches Alter ausgeschlossen wurde, verschaffte mir Zutritt auch in die Frauengemächer namentlich der Sudanesen. Ich genoss noch mehr Zutrauen als mancher andere reisende Arzt und gewann dadurch in ethnologischer Hinsicht sehr bedeutende Vorteile.

5) zu S. 3. Infolge der Bemühungen eines Sachs, Schweinfurth, Lenz, Falkenstein, Pogge, Hildebrandt und durch eigenen Sammeleifer habe ich ein vorzügliches osteologisches Material über verschiedene afrikanische Stämme zusammengebracht, darunter Specimina von größter Seltenheit, über welche ich im zweiten Bande meiner „Nigritier" berichten werde. Einige Leichenöffnungen an Schwarzen vollzog ich in Gemeinschaft mit Dr. Th. Bilharz im Spitale Kasr el-Ain (Oktober 18G1) zu Kairo und mit Dr. Alfred Peney (April 1861) im Spitale zu Chartum.

6) zu S. 3. Die Gründe, weshalb ich die Bezeichnung Nigritier in die Wissenschaft eingeführt sehen möchte, habe ich ausführlicher in meinem Aufsatz: „Die Stellung der Funje in der afrikanischen Ethnologie vom geschichtlichen Standpunkte aus betrachtet" (in: Zeitschrift für Ethnologie, 1869, S. 28() fg.), dargelegt.

7) zu S. 3. Die Nigritier. Eine anthropologisch-ethnologische Monographie von R. Hartmann. l. Teil. Mit 52 lithographischen Tafeln und drei in den Text gedruckten Holzschnitten (Berlin 1876).
Hartmann, Robert (1831-1893) Professor, Naturforscher und Völkerkundler

Hartmann, Robert (1831-1893) Professor, Naturforscher und Völkerkundler

Fig. 010 Kasongos Musikbande

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Fig. 007 Sualhelifamilie

Fig. 007 Sualhelifamilie

Fig. 014 Quissama

Fig. 014 Quissama

Fig. 017 Ein Mtuta

Fig. 017 Ein Mtuta

Fig. 018 Amazulu

Fig. 018 Amazulu

Fig. 020 Kora-Hottentott

Fig. 020 Kora-Hottentott

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