4. Ja, ja, rief Greenford, es war ein verdammt guter Schuß von Harvard – und kam sehr zur rechten Zeit...

„Ja, ja,“ rief Greenford, „es war ein verdammt guter Schuß von Harvard – und kam sehr zur rechten Zeit – nun, Anna – ich hege auch keinen Groll weiter gegen die Schurken – aber“ – fuhr er, die Kugeln in seine Ledertasche schüttend, fort, „aber –“

„Du möchtest doch gern das Blei nach ihren Köpfen verschießen, nicht wahr, Junge?“ lachte der alte Stevenson dazwischen, „nun, laß es gut sein, Anna, wir werden keinen unnützen Streit und Kampf suchen, das versprech’ ich Dir, aber fort müssen die Ruhestörer, denn so lange sie im Land leben, wird kein Friede. Diese Daniten rauben und plündern auf eine wirklich schauderhaft freche Weise, und das „Waarenhaus des Herrn“, das sie in Far West errichtet haben, birgt einen wahren Schatz gestohlener Gegenstände. Doch auch ohne den Namen Dan’s sind diese Frömmler eine Pest, sowohl für unsere constitutionellen Gerechtsame, als auch für die Ruhe und den Frieden unserer Familien. Wir haben schon genug des religiösen Unsinns hier mit Methodisten, Quäkern, Baptisten und wie sie alle heißen mögen – also fort mit diesen Frömmlern, die das Wort Gottes auf der Zunge und Gift und Zwietracht im Herzen tragen.“


Im „Lager der Heiligen“ herrschte indessen Angst und Verwirrung, denn keineswegs waren ihnen die kriegerischen Vorbereitungen ihrer gekränkten Nachbarn unbekannt geblieben, und ausgesandte Kundschafter kehrten mit der nichts weniger als ermutigenden Nachricht zurück, daß eine große Truppenzahl in die Ansiedelungen, und zwar, wie es schien, mit feindseligen Absichten, eingerückt wäre.

Zum ersten Mal wieder, seit sie sich in diesem abgelegenen Landstrich niedergelassen hatten, schien den Verblendeten die Möglichkeit vor Augen zu treten, von den Ungläubigen und Gottlosen besiegt und vertrieben zu werden, und Angst und Verzweiflung trat an die Stelle des sonstigen stolzen Trotzes; da schritt der „Prophet“ unter sie, und ihren Kleinmuth bemerkend, warf er ihnen mit Donnerworten ihren Unglauben, ihre Wankelmüthigkeit vor.

„In unzähligen Beweisen hat Euch der Herr seine Gnade und seinen Schutz kund gethan,“ schloß er endlich seine begeisterte Rede, „sein heiliges Waarenhaus ist gefüllt! Ihr habt Eure Feinde gezüchtigt und geht jetzt einem neuen, dem letzten Siege entgegen, denn in stiller Nacht ward mir die Kunde, daß morgen die heiligen Schaaren uns mit ihren himmlischen Waffen zu Hülfe eilen und den Feind schlagen werden. – Dann aber hält keine enge Grenze mehr die Glieder unseres Glaubens zusammen, dann umschließt kein fremdes, unheiliges Gesetz mit drohenden, höhnischen Worten unsere Städte – frei und unbegrenzt fliegen unsere Prediger in die Welt hinaus, und das All soll Euch, als den Glaubensrettern der einzig wahren Religion, huldigen.“

Mit tausend Fragen wurde der Prophet jetzt von den Seinigen bestürmt, um etwas Näheres über die Erscheinung der Engel und die so sehr nöthige Hülfe von Oben zu erfahren; dieser verwies sie jedoch auf die in seiner Verwahrung befindlichen, mit heiligen Hieroglyphen beschriebenen Platten, welche er unter dem Beistand und der Anleitung des Höchsten übersetzt und dadurch das Schicksal seines Volkes vorausgesehen habe. Für den nächsten entscheidenden Tag aber befahl er ihnen einzig und allein, eine Brustwehr von zolldicken Planken um das Lager her aufzuschlagen.

„Von zolldicken Planken?“ entgegnete Einer aus dem Stamm der Daniten verwundert; „aber, Herr, das wäre ja kaum ein Schutz gegen den Pfeil eines Indianers, wie soll er die Kugeln der Feinde abhalten?“

„Ungläubiger,“ zürnte der Prophet, „bekehre Dich und baue auf den Höchsten – die Wunder von Jericho werden sich wiederholen – das Heer der Engel wird unsere Schaar umschweben, und im Harnisch der Gerechtigkeit liegt allein unsere Stärke! Bedürfen die Krieger des himmlischen Königreichs eines kräftigeren Schutzes? Glaube, durch Glauben erschuf der Herr das Weltall, und durch Glauben werden wir siegen.“

Seinen Befehlen wurde gehorcht; Alles, was eine Axt oder einen Hammer schwingen konnte, legte Hand an’s Werk, und in zauberhafter Schnelle stieg eine vier Fuß hohe Brustwehr empor, die das „Lager der Heiligen“ von allen Seiten umzog.

Dicht daneben erhob sich das große, backsteinerne Gebäude, das größtenteils zum Waarenhaus des Herrn bestimmt war, aber auch zu gleicher Zeit mehrere Gemächer für die „Kammerschwestern der Mildthätigkeit“ und die „Klosterheiligen“ enthielt, während sich die „Cyprischen Heiligen“ – drei verschiedene Frauenorden, größtenteils nur darum errichtet, um eine schändliche Unsittlichkeit zu heiligen – in einem andern Gebäude befanden. In diesem Hause wurde der sogenannte „Schatz des Höchsten“ bewahrt, der in all’ den Gütern und Waaren bestand, welche die Daniten sich heimlich oder öffentlich zueignen konnten, und nicht Unrecht hatte der alte Stevenson, wenn er behauptete, daß Raub und Plünderung in fast unglaublich schneller Zeit diese Räume mit allen nur erdenkbaren Gegenständen, werthvoll oder gering, gefüllt hatte.

Wie sich aber am andern Morgen der Himmel im Osten röthete und die goldene Scheibe endlich langsam und glühend am klaren, wolkenlosen Firmament emporstieg, versammelten sich die „Krieger der heiligen Sache“ in ihrem von den dünnen Planken umgebenen Lager, und erwarteten unter Gebeten und ermutigenden Reden des Propheten das Nahen der Feinde.

Da rasselte in der Ferne ein kurzer, herausfordernder Trommelschlag, und Trompeten und Hörner schmetterten den wilden Kriegsruf darein, so daß selbst die, jetzt mit wirklicher Inbrunst die Engel herabflehenden Mormonen einen Augenblick ihre Gesänge und Gebete verstummen ließen und in athemlosem Schweigen den drohenden Tönen lauschten. Das feste, freudige Vertrauen aber, das ihr Führer und Prophet bewies, die unerschütterliche Sicherheit, mit der er das baldige Nahen der himmlischen Hülfstruppen verkündete, und der klare, fast triumphirende Blick, mit welchem er die Seinigen überschaute, gab auch diesen größtenteils das alte Gefühl der Sicherheit und der frohen Hoffnung zurück.

Näher und näher kam indessen die kriegerische Musik der heranrückenden Schaaren, und aus dem Wald heraustretend, beleuchtete die Morgensonne die blitzenden Bajonnette der Soldaten, hinter denen, auf ihren kleinen, rauhhaarigen, indianischen Ponies, Hunderte von dunkeln, in Jagdhemden und Leggins gekleidete Gestalten sichtbar wurden, die, die Büchsen auf den Schultern, die Messer an der Seite, wild und zornig nach den verschanzten Feinden hinüberblickten, in ein lautes Gelächter aber ausbrachen, als sie der dünnen Bretterwand ansichtig wurden, welche die Vorsorge des Propheten zum Schutz der Seinigen errichtet hatte.

Der Offizier der Schaar jedoch, eine kräftige, schlanke Gestalt, band als Zeichen der friedlichen Annäherung ein weißes Tuch an einen Zweig und ritt, von zwei Soldaten begleitet, an die Brustwehr heran, um den Mormonen das über sie ausgesprochene Urtheil: die Anführer auszuliefern, augenblicklich und ohne die geringste Gegenwehr den Staat zu verlassen und sich nach den indianischen Gebieten zu verfügen – kund zu thun und sie aufzufordern, die Waffen zu strecken. Voll Trotz und Hohn war aber die Antwort von des Propheten Lippen, und drohend warnte er den jungen Soldaten vor den schrecklichen Folgen, die es für ihn und die Seinigen haben müsse, wenn er wagen wolle, Hand an auch nur den Geringsten der Auserwählten des Herrn zu legen. Der Officier zuckte die Achseln und wandte sich, um mit bewaffneter Hand die Befolgung seiner Befehle zu erzwingen; noch einmal aber kehrte er mitleidig zu den Verblendeten zurück, machte sie auf ihre vertheidigungslose Lage aufmerksam und beschwor sie, ihr Leben nicht aus Trotz und Eigensinn zu opfern, sondern der Uebermacht zu weichen und ihn nicht zu Maßregeln zu zwingen, deren Erfüllung seinem Herzen wehe thun müßte.

Verächtlich wies ihn der Prophet zurück und verkündete, zum Himmel emporzeigend, die nahe Ankunft der Beschützer und Rächer. Mitleiden mit der grenzenlosen Verstocktheit dieses Schwärmers bewegte die Brust des jungen Soldaten, als er langsam den Seinigen wieder zu ritt, und noch immer konnte er sich nicht entschließen, den Befehl zum Angriff zu geben, so lange ihm die Hoffnung blieb, ohne Blutvergießen seine Sendung zu erfüllen. Durch den Mund eines ehrwürdigen alten Mannes wurden daher auf’s Neue gütige Vorstellungen versucht, es blieb aber vergebens; die Mormonen, durch die Nachsicht der Feinde, die sie für Furcht hielten, ermuthigt, stimmten jubelnde, herausfordernde Siegeslieder an, und der Officier sah sich genöthigt, den Verblendeten zu zeigen, daß er im Stande sei, sich mit kräftiger Hand Gehorsam zu erzwingen.

Die Trommeln wirbelten, die Trompeten schmetterten und an beiden Seiten schlossen sich jetzt die Jäger und Landleute dem in dichten Colonnen vorrückenden Centrum an.

Immer noch war kein Schuß gefallen, und etwa fünfzig Schritt vor der Verschanzung commandirte der Führer wiederum Halt, um den Feinden die letzte Gelegenheit zu verstatten, die milden ihnen vorgeschriebenen Bedingungen anzunehmen. Joe Smith beharrte aber in seinem festen, unerschütterlichen Trotz, wozu er selber auch wohl die gegründetste Ursache hatte, da der Staat seine Auslieferung besonders verlangte; doch war der Glaube der Heiligen, selbst der Daniten, schon bedeutend durch das schnelle Heranrücken der Truppen wankend geworden, da sie sich vergebens an dem klaren, reinen Himmel nach einer Gewitterwolke umgeschaut hatten, die Tod und Verderben in die Reihen der Feinde schleudern oder wenigstens in ihrer Umhüllung die versprochene und verheißene „Englische Verstärkung“ mit sich führen sollte.

Still und ruhig blieb die Natur, und kein Lüftchen regte sich, das dem Rauschen eines Engelflügels hätte gleichen können.

In diesem kritischen Moment, wo die Mormonen, auf der einen Seite von ihrem Führer angefeuert, auf der andern von den glänzenden Bajonnetten und den keineswegs freundlichen Gesichtern und Blicken der Ansiedler bedroht, zwischen Ergebung und Widerstand schwankten, näherte sich, mit einer Spitzhacke in der Hand, der alte Stevenson, der den rechten Flügel anführte, dem backsteinernen Waarenhaus und rief lachend seinen Söhnen und dem jungen Greenford zu, heranzukommen und ihm zu helfen.

„Hol’s der Henker!“ rief er fröhlich, indem er die aufgefundene Hacke in der Hand schwang, „die guten Leute reden da drüben so viel hin und her, daß Einem ordentlich die Zeit lang währt. – Kommt, Jungens, wir wollen uns indessen die Zeit vertreiben und die Wände hier einhacken – nieder mit dem Nest! Ich habe so eine Ahnung, daß Mancher da drinnen alte, bekannte Sachen wiederfinden wird!“

Mit diesen Worten näherte er sich dem Gebäude und war eben, weit ausholend, im Begriff, den ersten Schlag zu führen, als plötzlich auf dem flachen Dach eine weiße, verschleierte, von fliegende Gewändern umhüllte Gestalt emportauchte, drohend die Arme gegen den Greis ausstreckte, der in stummer Verwunderung die Hacke sinken ließ, und mit hohler Stimme rief:

„Halt ein, Unglücklicher! Die Hand, die sich gegen dieses Haus des Herrn erhebt, wird verdorren, ehe der Schlag geführt ist – also spricht der Höchste durch meinen Mund und also hat es sein heiliger Prophet verkündet.“

Eine abergläubische Scheu durchschauerte die Herzen der Umstehenden und selbst Greenford blickte wild und unruhig im Kreise umher; der alte Stevenson war jedoch der Erste, der sich wieder sammelte und, um die Gestalt besser betrachten zu können, einige Schritte zurücktrat, während Mormonen sowohl als Soldaten für den Augenblick ihre gegenseitige Stellung zu vergessen schienen und den Ausgang der Scene erwarteten, die, wie sie wohl fühlten, für beide Theile entscheidend sein mußte.

Stevenson, zwischen Gefahren aufgewachsen und nicht gesonnen, sich jetzt durch ein verschleiertes Frauenzimmer schrecken zu lassen, übersah schnellen Blicks die Lage der Dinge; die Spitzhacke aber mit der linken Hand ergreifend, denn so ganz traute er dem Frieden doch nicht, rief er fröhlich der verhüllten Gestalt zu:

„Sieh hier, mein gutes Mädchen, ich will gerade nicht sagen, daß Du gelogen hast – die Sache kommt mir aber etwas unwahrscheinlich vor; ich bin übrigens ein alter Mann und werde meine Gliedmaßen so nicht mehr lange gebrauchen können, daher will ich den einen, den linken Arm einmal dranwagen, also – mit Gott!“

Und bei dem letzten Ausruf das Werkzeug in der Linken um seinen Kopf schwingend, hieb er mit kräftig geführtem Schlag auf die Ecke des Gebäudes, daß der zerbröckelte Backstein weit umherspritzte.

„Hallo!“ rief er jetzt einhaltend und seine Hand mit anscheinender Verwunderung betrachtend – „sie lebt noch? Ei, da nehmen wir’s doppelt;“ und mit beiden Händen die schwere Hacke rasch emporhebend, schlug er, unter dem rauschenden Beifallsjubel der Seinigen, mit kräftiger Gewandtheit auf den weichen, wenig widerstehenden Backstein ein.

Die heilige Schwester war gleich nach dem ersten, mit glücklichem Erfolg geführten Streich verschwunden, und mit wildem Jauchzen stürzte sich jetzt der größte Theil der Ansiedler, Alles als Werkzeug benutzend, was ihnen unter die Hände kam, auf das verhaßte Gebäude, dessen Mauern eingeschlagen und die Güter herausgeschleppt wurden. Nur die Soldaten standen still und finster unter den Waffen und schauten dem Treiben des Landvolkes zu, das, Büchsen und Messer bei Seite werfend, als ob ihnen von Seiten der Feinde auch nicht die geringste Gefahr drohen könne, wirklich in diesem Augenblick nur daran zu denken schien, das Gebäude so rasch als möglich der Oeffentlichkeit preis zu geben und die darin von den Feinden aufgespeicherten Waaren zu Tag zu fördern. Es dauerte auch gar nicht lange, so kamen sie, wie beim Ausgraben eines Hamsterbaues, auf die eingeschleppten und aufgespeicherten Güter und ein förmlicher Jubel brach unter dem Volk aus, als sie hier eine Masse Gegenstände zu sehen bekamen, die sie kannten und deren rechtmäßige Eigenthümer sie anzugeben wußten.

Als die Mormonen nun die Zerstörung ihres Waarenhauses sahen, ohne daß eine himmlische Einmischung, die, ihrer Ansicht nach, doch hier sehr am Platze gewesen wäre, erfolgte, streckten sie die Waffen und übergaben die Anführer den Händen des Militärs. Nun hatte zwar der Staat die Absicht, diese unruhigen Köpfe in die Nähe gleicher Genossen, der Indianer, zu schaffen, doch beschlossen die Mormonen einstimmig, wieder über den Mississippi zurück nach Quincy in Illinois auszuwandern, da ihnen, wie sie behaupteten, von jener Gegend Schutz und freundliche Aufnahme zugesichert worden wäre.

Den Missouriern war ihr künftiger Aufenthaltsort ziemlich gleichgültig, wenn sie nur von ihnen befreit wurden, und sie überließen es den Einwohnern von Illinois, mit ihren neuen Nachbarn fertig zu werden. Joe Smith wurde mit den übrigen Anführern nach St.-Louis geführt, entwischte aber bald darauf aus seiner Haft und schloß sich den Seinigen wieder an; später aber anderer Vergehungen wegen auf’s Neue vor Gericht gefordert und eingekerkert, sollte ihn hier ein weit traurigeres Loos treffen, als der Staat wohl je über ihn verhängt haben würde.

Ein wilder Haufe gesetzloser Amerikaner stürmte das Gefängniß und ermordete den Priester und Heiligen der Mormonen und der Stamm wanderte später aus, um über den Felsengebirgen drüben eine neue Heimath zu suchen – und zu finden.

Dort haben sie sich am großen Salzsee, unfern der Sierra Nevada, niedergelassen, aber von dem starren Führer befreit, der oft den blinden Fanatismus der Schaar zum Bösen gelenkt zu haben scheint – auch dort in der Wildniß der Versuchung enthoben, zum Besten der Heiligen ihre Nachbarn mehr als „Werkzeuge“, denn als irgend etwas Anderes anzusehen – haben sie jetzt einen förmlichen Staat gegründet und blühen und wachsen. Aber es ist vorauszusehen, daß die Vereinigten Staaten nicht Jahre lang mehr eine Gesellschaft dulden werden, die einen Staat im Staat bildet. – Außerdem wird in der Union Bigamie mit Zuchthaus bestraft, und das gerade, was den Mormonen einen solchen Zufluß an Mitgliedern zugeführt hat, ist die fast unbeschränkte Vielweiberei der „Heiligen“.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Vertreibung der Mormonen aus Missouri