Universitätszustände in Russland

Wer von den gegenwärtigen Universitätszuständen in Russland sprechen will, der muss unwillkürlich mit der Erörterung jenes Zuges in unserem akademischen Leben beginnen, der unseren westlichen Nachbarn am meisten bekannt und dennoch so unbegreiflich erscheint. Die westeuropäischen gebildeten Leser sind nur wenig mit unseren Universitätszuständen vertraut und kennen nicht die Bedeutung derselben für unser soziales Leben, aber sie haben alle wahrscheinlich von unseren Studentenunruhen gehört. Diese rätselhafte Erscheinung muss nun vor allem erklärt werden.

Ich will die Studentenunruhen nicht eingehend schildern; es genügt, zu sagen, dass sie in letzter Zeit jedes akademische Leben bei uns unmöglich gemacht haben. Unsere Universitäten befinden sich, wie die gesamte russische Gesellschaft, in der Atmosphäre einer ununterbrochenen, in stetem Wachsen begriffenen Unzufriedenheit. Unsere studierende Jugend, die nervös, regsam und leicht erregbar ist, äußerte stets ihren Missmut durch laute Proteste und war immer zu Unruhen geneigt. In der letzten Zeit aber haben die Studentenunruhen den Charakter einer chronischen Krankheit angenommen: die Unordnung ist zur Regel, die Ordnung zur Ausnahme geworden.


Eine friedliche Stätte der Wissenschaft — artet die Universität nach und nach in einen eigenartigen politischen Klub aus. Die Vorlesungen werden fortwährend durch verbotene politische Versammlungen unterbrochen, in denen revolutionäre Reden gehalten und Resolutionen radikal-revolutionären Charakters gefasst werden; manchmal gehen die Versammlungen in Demonstrationen über, d. h. sie schließen mit einem Umzüge und mit dem Singen revolutionärer Lieder in den Universitätsräumen und auf den Straßen. Nicht selten führt die Versammlung zu einem Streik. Die Studenten beschließen, den Besuch aller Vorlesungen einzustellen, solange ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Derartige Streike finden in allen oder wenigstens in einigen Hochschulen des Reiches gleichzeitig statt; gegen die Kollegen und Professoren, die den Streik nicht anerkennen, machen die Studenten Obstruktion, d. h. sie suchen durch Lärm und ähnliche Mittel die Vorlesungen zu verhindern und jede Universitätstätigkeit gewaltsam zu unterdrücken.

Die unmittelbaren Veranlassungen zu den Studentenunruhen beweisen, dass diese in den allgemeinen anormalen Verhältnissen des russischen Lebens wurzeln, die durch die Eigentümlichkeiten unserer akademischen Ordnung noch verstärkt werden. Diese Veranlassungen sind äußerst mannigfaltig. Der allgemeine Streik, der 1899 alle höheren Lehranstalten Russlands ergriffen hatte, wurde durch die verwerfliche und sinnlose Handlungsweise der Petersburger Polizei hervorgerufen, die ohne jeden Grund die Studenten mit Nagaiken durchprügelte, als sie am Jahresfest der Universität deren Räume friedvoll verließen. Die Polizei glaubte irrtümlicherweise, die Studenten wollten Straßentumulte veranstalten. Die Prügelei rief begreiflicherweise Empörung hervor. Im Jahre 1901 wurde der Streik in vielen Lehranstalten durch die drakonischen Maßregeln der Regierung veranlasst, kraft deren 150 Studenten der Kiewer Universität wegen Teilnahme an verbotenen Versammlungen in Zwangsbataillone gesteckt wurden. Im nächstfolgenden Jahre brachten hingegen "Maßregeln der Milde“ und die Konzessionen der Regierung den Streik zum Ausbruch. Der damalige Kultusminister, General Wannowski, schaffte die erwähnten Maßregeln wieder ab und erlaubte den im vorhergegangenen Jahre relegierten und bestraften Studenten, die Universitäten wieder zu beziehen. Außerdem stellte er eine Universitätsreform in Aussicht und ließ die Universitätsbehörden ihre diesbezüglichen Wünsche äußern. Schließlich gewährte er den Studenten manche korporativen Rechte, gestattete ihnen, unter der Aufsicht der gewählten Professoren Vereine zu gründen und Versammlungen abzuhalten. Die Studenten aber erklärten den Streik als Protest gegen die ,, trügerischen“ Reformen, die ihren Erwartungen nicht entsprachen und verlangten neben mancher politischen Forderung volle akademische Freiheit. In Kiew wurden die "Reformen“ des Ministers demonstrativ auf der Straße verbrannt. Proklamationen, die damals verbreitet wurden, forderten die Studentenschaft auf, sich mit einzelnen Konzessionen der Regierung nicht zu begnügen und politische Rechte zu verlangen. "Die Tatsache“, — hieß es darin — "dass die Regierung Konzessionen macht, beweist ihre Schwäche und verkündet den wahren Zusammenbruch des absolutistischen Regimes.

Seitdem hatten die Unruhen ausschließlich politische Gründe zum Anlass. Die Studenten interessierten sich nicht mehr für die akademischen Reformen und sahen in den Mängeln der Universitätsordnung nur eine spezielle Äußerung des allgemeinen Staatsübels. In den Versammlungen wurden alle nebensächlichen Fragen beiseite geschoben, während die Frage über den radikalen Umsturz der Staatsordnung in den Vordergrund trat. Der Ruf: "Nieder mit dem Absolutismus!“ wurde gleichsam obligatorisch: die Studenten hielten es einfach für eine Anstandspflicht, denselben auf ihren Versammlungen ertönen zu lassen; mit ihm beginnen und schließen die Reden und Resolutionen. Die „Protestäußerungen“ selbst haben in den letzten zwei Jahren ihren Charakter geändert. Die Streike der früheren Jahre trugen zwar immer ein politisches Gepräge, aber sie knüpften in der Regel an eine akademische Angelegenheit an: die Studenten beschlossen z. B. zu streiken, ,,solange das Universitätsreglement nicht nach ihren Wünschen abgeändert“, oder "solange ihre relegierten Kollegen nicht die Erlaubnis erhalten, in die Universitäten zurückzukehren.“ Als die Studenten vor zwei Jahren die akademischen Forderungen aus ihrem Programme gestrichen, war für sie das Streiken schwieriger geworden; sie hätten denn solange streiken müssen, bis der Absolutismus abgeschafft worden, d. h. vielleicht viele Jahre lang. Jetzt aber, da die Jugend überzeugt ist, dass der Zusammenbruch des Absolutismus — eine Frage von Monaten und nicht mehr von Jahren ist, ist der Streik wieder möglich geworden; er ist bereits in allen Hochschulen ausgebrochen. Während der letzten zwei Jahre aber waren keine Streike zu verzeichnen und die Unruhen nahmen die Form von Versammlungen — mit oder ohne Gesang — und von Demonstrationen innerhalb der Universitätsräume oder auf der Straße an. Es gibt bestimmte Tage im Jahre, an denen solche nach dem Programme einiger revolutionären Parteien unbedingt stattfinden müssen. Ein solcher Tag ist z. B. der 3. November, der Tag der Hinrichtung Baimaschews, der den Minister Sipjagin getötet hat — und der 8. Februar, an dem die Petersburger Studenten von der Polizei geprügelt wurden. Wenn wir nun die Studentenunruhen mit den Erscheinungen vergleichen, die jetzt überall in den breiten Schichten der russischen Gesellschaft zutage treten, so wird ihr Sinn für uns völlig klar: Sie sind die krankhafteste und vielleicht die exzentrischste Äußerung der gesellschaftlichen Bewegung, die gegenwärtig neun Zehntel aller Russen, die irgendwie Fühlung mit der Kultur haben, ergriffen hat. In den achtziger Jahren hat der bekannte reaktionäre Publizist Katkow bereits die Tatsache hervorgehoben, dass bei uns Menschen, die vereinzelt regierungstreu sind, "versammelt einen schädlichen Geist verbreiten“. Von seinem engen bureaukratisch-polizeilichen Standpunkte aus hatte Katkow selbstverständlich tausendmal recht. In den meisten Versammlungen macht sich bei uns ein Drang nach gesellschaftlicher Autonomie bemerkbar; darum muss jede zahlreich besuchte Versammlung für das bestehende bureaukratische Regime als gefährlich und folglich vom Standpunkte Katkows als „schädlich“ bezeichnet werden.

Die von Katkow hervorgehobene Erscheinung, die zu seiner Zeit erst im Entstehen begriffen war, hat nun den Gipfelpunkt ihrer Entwickelung erreicht. Intelligente Menschen können, mit Ausnahme von unseren wenigen Konservativen, überhaupt nicht zusammenkommen, ohne die bestehende Staatsordnung zu verurteilen und deren radikale Veränderung zu fordern. Tagt bei uns z. B. ein Naturforscherkongress, so wird er es für seine Pflicht halten, die Erklärung abzugeben, dass es einstweilen unmöglich ist, den naturwissenschaftlichen Unterricht gehörig zu organisieren, da die politische Freiheit eine conditio sine qua non für die Organisation des gesamten Schulwesens ist. Ein Ärztekongress wird unbedingt die Meinung äußern, dass eine richtige Organisation der Volksgesundheitspflege und des Sanitätswesens ohne Volksvertretung unmöglich ist, da die Regierung bei dem bestehenden Regime kein Ohr für die Forderungen der Gesellschaft hat; der Kriminalistenkongress in Kiew erklärte vor kurzem, dass bei der allgemeinen Rechtlosigkeit des Volkes kein Rechtsschutz gewährt werden könne und . . . forderte gleichfalls eine Volksvertretung. Wenn Rechtsanwälte sich versammeln sollten, so kann man mit Sicherheit voraussagen, dass sie die Unmöglichkeit einer Rechtsprechung unter dem Absolutismus betonen würden, da ein unabhängiges öffentliches Gericht mit der politischen Freiheit organisch verbunden ist. Ähnliche Kundgebungen hören wir auf jedem Bankette, fast bei jedem Festdiner, das aus irgend einem feierlichen Anlasse stattfindet.

Unsere Organe der lokalen Selbstverwaltung — die Semstwos, die Magistrate und — mit wenigen Ausnahmen — sogar die Adelsversammlungen halten es ebenfalls für ihre Pflicht, Erklärungen — darunter oft sehr kühne — über die allgemeine Lage abzugeben, obwohl es eigentlich ein Überschreiten ihrer Vollmachten bedeutet, wofür sich der Vorsitzende zu verantworten hat. Die Forderung einer "Volks Vertretung“ wurde in diesem Jahre zum Gemeinplatze in den regierungstreuen Adressen, die diese Versammlungen trotz der allerhöchsten Unzufriedenheit (wie der Fall des Semstwo im Gouv. Tschernigow zeigt) einreichen. Jeder hält es für notwendig, das allgemeine ,,ceterum censeo“ zu wiederholen. Die wichtigste politische Frage nimmt die allgemeine Aufmerksamkeiterart in Anspruch, dass, solange sie nicht gelöst ist, ein normales öffentliches Leben völlig ausgeschlossen erscheint. Jede gesellschaftliche Tätigkeit erschlafft in Erwartung einer politischen Reform oder einer Staatsumwälzung. Das Wort "Streik“ liegt jetzt überall in der Luft. Unsere Arbeiterstreike sind ja in Europa zur Genüge bekannt. Auch die Semstwos begannen zu streiken, wenn sie es auch nicht offen erklären; vor unseren Augen stellten einige von ihnen ihre Tätigkeit ein, gingen auseinander und ließen die wichtigsten Angelegenheiten, die die Fragen der lokalen Selbstverwaltung angehen, unerledigt. Das Semstwo des Gouv. Saratow löste sich auf angesichts der Unmöglichkeit, auf gesetzlichem Wege eine konstitutionelle Erklärung abzugeben, ebenso das Semstwo des Gouv. Tschernigow — das wegen seiner konstitutionellen Gesinnung getadelt wurde; die Semstwomitglieder des Gouv. Moskau erklärten, dass sie im Augenblick nicht genug Seelenruhe besäßen, um die Verhandlungen fortzusetzen. Diesen Semstwos folgten noch einige andere.

Da wir keine gesetzliche Volksvertretung haben, äußern sich bei uns über allgemeine Staatsbedürfnisse solche Institutionen, die nicht zu diesem Zweck ins Leben gerufen worden und die nur befugt sind, über die städtischen und provinziellen Wirtschaftsfragen zu beraten. Da wir nicht das Recht zur Abhaltung öffentlicher Versammlungen und politischer Meetings besitzen, so zeigt jede öffentliche Versammlung, zu welchem Zwecke sie auch ursprünglich einberufen sein mag, die Tendenz, sich in ein politisches Meeting zu verwandeln. So ist die Tatsache zu erklären, dass die Hochschulen, in denen sich täglich Hunderte und Tausende von jungen Leuten versammeln, allmählich zu Feuerherden der politischen Agitation geworden sind. Es ist kein Wunder, dass der allgemeine Traum von der "Zerstörung Karthagos“ den Studenten die Ruhe raubt, die für wissenschaftliche Studien notwendig ist; man kann sicher sein, dass diese Ruhe sich erst nach der Zerstörung Karthagos wieder einstellen wird. Es ist begreiflich, dass die Agitation dank dem jugendlichen Temperamente unserer Studenten in ihrer Mitte äußerst radikale Formen annimmt und mit einem besonderen Fanatismus und mit einer Intoleranz verbunden ist.

Die Gesetze der Massengärung, die sich jetzt in allen Sphären unseres gesellschaftlichen Lebens geltend machen, traten zuerst in den Universitäten zum Vorschein. Die Studenten sprachen und regten sich auf zu einer Zeit, als, abgesehen von den Revolutionären, die gesamte russische Gesellschaft noch unter dem schweren Drucke der Reaktion stumm darniederlag. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die oppositionelle Bewegung in den Universitäten auf den geringsten Widerstand stößt: sie kann sich hier am leichtesten Luft machen. Nicht umsonst haben die Moskauer Professoren die Universität mit einem unheilvollen Luftschacht verglichen, durch welchen jede politische und soziale Unzufriedenheit sich Bahn bricht. Politische Versammlungen, die für alle gleich streng untersagt sind, konnten, sogar zur Zeit der schlimmsten Reaktion, in den Universitäten stattfinden. Darum war die Hochschule bei uns immer die Zentralstelle der revolutionären Propaganda. Unter anderem wurde dieser Zustand durch manche Eigentümlichkeiten unserer akademischen Ordnung während der letzten zwanzig Jahre — seit dem Universitätsreglement von 1884 — gefördert. Die Charakteristik dieser Ordnung bildet in erster Linie den Inhalt der folgenden Auseinandersetzungen.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Universitaetsfrage
Russisches Sittenbild

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Im Park von Peterhof

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Die Nikolaus-Brücke

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Turgenew, Iwan Sergejewitsch 1818-1883

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