Studentenorganisationen in der Universität - Landsmannschaften

Gleichzeitig mit der Zerstörung der gesetzlichen korporativen Organisation des Professorenkollegiums entwickelten und befestigten sich die illegalen Studentenorganisationen in der Universität. Unsere Gesetzgebung erkannte den Studenten bis auf die letzte Zeit keine Rechte zu; in dieser Hinsicht wiederholte das Reglement von 1884 nur die Bestimmungen des früheren. Nach dem Sinne des § 13 "der Regeln für die Studenten“, die vom Minister für Volksaufklärung am 16. Mai 1885 veröffentlicht wurden, "sind die Studenten vereinzelte Besucher der Universität und daher ist jede Handlung, die einen korporativen Charakter trägt, verboten“. Der § 16 derselben Regeln verbietet den Studenten, sich an irgendwelchen geheimen Gesellschaften und Zirkeln zu beteiligen, "wenn diese auch keine verbrecherischen Zwecke verfolgen.“

Trotz dieser Verbote mussten Studentenorganisationen notwendigerweise entstehen. Jeder, der nur ein wenig das Leben der russischen Studenten kennt, weiß, dass das Streben, sich zu gruppieren und sich in kleine Verbindungen, sogenannte "Landsmannschaften“ zu vereinigen, bei den meisten einem unentbehrlichen Lebensbedürfnisse entspringt. Die Zahl der Studenten, die das Gymnasium in einer Universitätsstadt absolviert haben, ist gering; für die meisten ist der Eintritt in die Hochschule mit der Übersiedelung nach einer fremden großen Universitätsstadt verbunden; und da der größere Teil der Studierenden den unvermögenden Klassen angehört, so sind neun Zehntel von ihnen gezwungen, sofort nach dem Eintritt in die Universität für ihre Existenzmittel zu sorgen. Bei dem Mangel an anderen Bekanntschaften und Beziehungen muss sich jeder neue Student an seine älteren Kollegen, an Landsleute wenden, die mit den Verhältnissen der Universitätsstadt vertraut sind. Von ihnen bekommt er Auskunft, wie er sich das Leben billiger einzurichten vermag, wo er eine billige Wohnung und billigen Tisch, Stundenunterricht und Beschäftigung finden kann. Das Gefühl der Einsamkeit und Unbeholfenheit, die materielle Not und das Bedürfnis nach kameradschaftlichem Verkehr veranlasst die Landsleute, sich enger zusammenzuschließen zwecks gegenseitiger Unterstützung und Hilfeleistung.


Auf diesem Boden entstehen die Landsmannschaften. Das Einkommen der meisten armen Studenten, das ihnen das Stundengeben oder andere Beschäftigungen einbringen, trägt einen zufälligen Charakter und bietet bei der hochentwickelten Konkurrenz der Großstädte nur eine unsichere und unzuverlässige Existenzquelle. Daher bei den meisten Studenten das Bedürfnis nach einer Art gegenseitiger Versicherung, nach Gründung gemeinschaftlicher Kassen, die jedem von ihnen in Fällen von äußerster Not, von Krankheit und Arbeitslosigkeit helfen sollen. Dass die Entstehung der Landsmannschaften von dieser Beschaffenheit ist, wird durch die Angaben der Regierung und durch die uns vorliegende illegale Studentenliteratur aus der Mitte der neunziger Jahre bestätigt: alle unsere Quellen stimmen darin überein, "dass die Landsmannschaften ursprünglich gegenseitige Hilfe zum Zweck hatten und zu diesem Behuf ihre Kassen gründeten, Geldsammlungen, Lotterien, Abendunterhaltungen veranstalteten und die gesammelten Mittel leihweise oder als beständige Unterstützung an die armen Kameraden unter den Landsleuten verteilten“*). Der "Bundesrat“ der Landsmannschaften der Moskauer Universität bringt in einem Briefe vom 14. Nov. 1894 die Existenz der Landsmannschaften mit der Tatsache in Verbindung, "dass die russische Studentenschaft den mittleren unvermögenden Klassen der Gesellschaft angehört; das sind Kinder der Bauern, der Kleinbürger, der Geistlichen und Beamten“ usw.; daher "das Bedürfnis nach einer Organisation von landsmannschaftlichen Kassen zur gegenseitigen Hilfe und zur Errichtung von billigen Speisehallen.“

*) Vgl. die Regierungsmitteilung vom 5. Dezember 1896.

Indem die gemeinschaftlichen "Landsmannschaftskassen“ ihren Mitgliedern materielle Unterstützung gewährten, sorgten sie auch für die Befriedigung ihrer geistigen und moralischen Bedürfnisse. Nach dem Zeugnis des Moskauer Bundesrates der vereinigten Landsmannschaften (Brief vom 14. November 1894) legt die Armut der Studenten ihrer geistigen Entwicklung Hindernisse in den Weg, da sie es ihnen unmöglich macht, die nötigen Bücher und Zeitschriften zu erwerben; aus diesem Grunde entstanden "landsmannschaftliche Bibliotheken“, die den Studenten die Möglichkeit geben, die periodischen Zeitschriften, Zeitungen und die wegen ihres hohen Preises und bibliographischer Seltenheit unzugänglichen Werke zu beziehen. Abgesehen von den materiellen ökonomischen Bedürfnissen kommen die Landsmannschaften dem durchaus natürlichen und begreiflichen moralischen Bedürfnisse der Studenten nach einem kameradschaftlichen, geistigen Verkehr entgegen. Schon 1892 weist der Moskauer „Bundesrat“ auf die Existenz einer bedeutenden Zahl von Landsmannschaften hin, deren Mitglieder durch eine Art gemeinschaftlicher Bürgschaft für die geistige und moralische Entwicklung ihrer Landsleute verpflichtet sind. Zu diesem Zwecke werden in den Landsmannschaften Vereine für Selbstentwicklung gegründet und dafür gesorgt, dass sich daran so viel Landsleute als möglich beteiligen. *)

*) Zitiert nach der hektographierten historischen Skizze: „Der Moskauer Bund der Landsmannschaften seit 1884 bis 1892“.

Das sind die Ziele, um derentwillen die Studenten sich in Landsmannschaften vereinigen — Ziele, die vom akademischen Standpunkte zweifellos nützlich sind und volle Beachtung verdienen; sie konnten sich jedoch auf diese Ziele allein nicht beschränken; infolge unserer akademischen und allgemeinen Staatsordnung musste die Tätigkeit der Landsmannschaften über kurz oder lang zuerst eine antiakademische und dann eine regierungsfeindliche Richtung einschlagen.

Dem Sinne unserer allgemeinen Gesetze und der oben angeführten Universitätsreglements nach sind die Landsmannschaften als geheime Gesellschaften zu betrachten; schon die Teilnahme an einer solchen Gesellschaft, abgesehen von ihren Zielen, gilt als eine strafbare Handlung. Daher jene anormale Lage, die so deutlich in den Unruhen am Ende des vorigen und im Anfange des gegenwärtigen Jahrhunderts an den Tag getreten ist. Die Landsmannschaften, welche ihre Entstehung einem inneren Bedürfnisse des Studentenlebens verdanken, mussten unbedingt entstehen. Und da sie durch das Gesetz verboten waren, mussten sie von vornherein eine illegale Existenz führen. Bei dem Vorhandensein von stark entwickelten kameradschaftlichen Interessen moralischer und materieller Natur, musste sich ein bedeutender Teil unseres Studententums in Korporationen vereinigen; daher der unversöhnliche Widerspruch zwischen dem Studentenleben und den Regeln, die korporative Bündnisse und Handlungen verbieten.

Als geheime, illegale Gesellschaften wurden die Landsmannschaften und die „Zirkel für Selbstbildung“ schon von Anfang an zur Opposition gegen die Universität getrieben. Die Mitglieder dieser Vereinigungen waren gezwungen, auch dann als Verschwörer zu wirken, wenn sie keine politischen Ziele verfolgten, sondern einfach um die Hebung des materiellen Niveaus und der geistigen Entwicklung ihrer Kameraden besorgt waren.

Unter diesen Verhältnissen wird uns die Tatsache völlig klar, die uns die Mitteilungen der Regierung vom 5. Dezember 1896 bestätigen: die Landsmannschaften, die mit einer geheimen Selbsthilfe begonnen haben, gingen im Laufe der Zeit auf das Gebiet der politischen und revolutionären Ziele über. Zur Erklärung dieses Umschwungs kann man besonders lehrreiche Angaben in der Literatur des ,,Moskauer Bundesrates“ finden, da eben in Moskau die Organisation der "vereinten Landsmannschaften“ entstanden ist, die später den Studenten der anderen Universitäten als Vorbild diente.

Der erste Versuch der einzelnen Moskauer Landsmannschaften, sich in einem Bund zu vereinen, rührt noch vom Jahr 1884 her. Der ,,Bundesrat“ der vereinten Landsmannschaften, der sich damals gebildet und in dem jede Landsmannschaft einen Vertreter hatte, begann seine Tätigkeit mit der Ausarbeitung der Statuten. In dem Entwürfe hieß es: "Das Hauptziel des Bundes ist die materielle Hilfe der Mitglieder“; "die Beteiligung an allgemeinen Studentenangelegenheiten und überhaupt geistige Ziele“ kamen in zweiter Linie in Betracht; zu jener Zeit standen die Mitglieder des Bundes der Politik fern, denn sie fürchteten, auf revolutionäre Bahnen zu geraten.*)

*) Aus ,,Der Moskauer Bund der Landsmannschaften seit 1884 — 1892.“

Aus begreiflichen Gründen jedoch waren die Landsmannschaften bald gezwungen, das ursprüngliche Programm aufzugeben. Der "Bundesrat“ musste als Zentralorgan die Vertretung nicht nur der "materiellen“ sondern auch der gesamten Interessen der vereinten Landsmannschaften übernehmen; schon aus diesem Grunde allein betrachtete er es als notwendig, sich an die Spitze der Opposition der Studentenkorporation gegen die Universitätsordnung, die sie untersagte, zu stellen. Diesen Charakter musste die Tätigkeit des "Bundesrates“ schon in der Fürsorge für den materiellen Wohlstand der Studentenschaft annehmen.

Er versuchte, mit den offiziellen Institutionen und den offiziell genehmigten Gesellschaften, die den Studenten Hilfe leisten, in Beziehung zu treten; hier stieß er jedoch sofort auf Hindernisse, die mit der illegalen Lage der Landsmannschaften verbunden waren. Im Jahre 1890 — 1891 versuchte er zum ersten Male sich mit dem "Verein zur Hilfe für unbemittelte Studenten“ in Verbindung zu setzen, um die Ausbeutung dieses Vereines seitens bemittelter Studenten möglichst zu verhindern. Zu diesem Zwecke wurde es dem Vereine ans Herz gelegt, in erster Linie die Mitglieder der Landsmannschaften zu berücksichtigen, da deren Recht auf Unterstützung von den Landsmannschaften kontrolliert wird, und da eine solche Kontrolle viel wirksamer ist, als die, welche der Verein ausübt. Dieser Versuch, wie alle Versuche gleicher Art, blieb erfolglos, denn "der Verein konnte als offiziell anerkannte Institution in keine direkten Beziehungen zu den illegalen Organisationen der Studenten treten“.

Überhaupt hat die Fürsorge für die materiellen Interessen der Studenten dem ,,Bundesrate“ einerseits eine ganze Reihe von Missbräuchen der Wohltätigkeit seitens der Studenten, auf der anderen Seite die Unzulänglichkeit der offiziellen Organe, von denen die Hilfeleistung gewissermaßen abhing, gezeigt. Es stellte sich heraus, dass die Mißbräuche eben in der bestehenden Universitätsordnung wurzelten, da die Behörden keine Möglichkeit hatten, die Bedürfnisse der Studenten durch die Studenten selbst kennen zu lernen. Die Inspektion, der es oblag, die unbemittelten Studenten behufs Unterstützung zu empfehlen, hatte ihre Lieblinge und nahm oft für vermögende Studenten Hilfe in Anspruch, während arme ohne Unterstützung blieben.

Auf diesem Boden entstanden die ersten Konflikte zwischen den Studentenorganisationen und den Universitätsbehörden. Die Regulierung der Wohltätigkeit erheischte eine Kontrolle über das Betragen der Kollegen und eine Einwirkung auf die Universitätsbehörden; beides konnte durch legale Mittel nicht erreicht werden. Daher äußerte sich die Unzufriedenheit in der illegalen Form von Studentengerichten, Gesuchen und Forderungen an die Obrigkeit.

Solange der "Bund der Landsmannschaften“ noch schwach war, trat er bescheiden auf; in dem Maße aber, als die Zahl seiner Mitglieder wuchs, vergrößerten sich seine Ansprüche, und selbst der Charakter seiner Tätigkeit veränderte sich wesentlich. Trotz der Bemühungen der Behörden zählte der Bund 1894 — 1895 1.500 Mitglieder, d. h, er umfasste wenigstens den dritten Teil der Moskauer Studentenschaft. (Nach den Angaben der "Regierungsmitteilungen“ vom 5. Dezember 1896 etwas weniger als die Hälfte der gesamten Studentenzahl.)

Das rief unter der studierenden Jugend die Überzeugung von der Ohnmacht der Regierung wach, die angeblich nicht in der Lage war, das Wachsen der verbotenen Studentenorganisationen zu verhindern, und steigerte das Selbstbewußtsein des "Bundesrates“. Der organisierte Teil der Jugend fühlte sich in der Lage, den nichtorganisierten Teil der Studenten zu beeinflussen und auf die Universitätsbehörden einen Druck auszuüben; der Bund erklärte, dass die Aufrechterhaltung der Ordnung, resp. die Heraufbeschwörung von Unruhen von ihm abhänge.

Bis zu den Jahren 1894 — 1895 hat die Organisation — nach ihren eigenen Worten — die Ordnung geschützt; zu dieser Zeit schrieb der "Bundesrat“ seiner Tätigkeit die Tatsache zu, dass die Ordnung in der [/b]Moskauer Universität[/b] während fünf Jahren, d. h. seit dem Momente, wo die Studentenorganisation entstanden, nicht verletzt wurde. In der Tat aber wurde die "Aufrechterhaltung der Ordnung“ durch den fortwährenden und systematischen Druck seitens der Landsmannschaften auf die Professoren und die Leitung der Universität erreicht. Im Briefe vom 5. Januar 1895 charakterisiert der "Moskauer Bundesrat“ seine Tätigkeit folgendermaßen: "Wenn das Benehmen eines Professors oder das der Behörde die Ruhe der Universität bedroht, erklärt die Organisation diesen Personen die Schädlichkeit ihres Benehmens. Wenn die Ordnung bereits gestört ist, wendet sich die Organisation an diejenigen um Hilfe, welche diese Angelegenheit ordnen und ihr einen friedlichen Verlauf sichern können.“

Genauer gesprochen, die "Aufrechterhaltung der Ordnung“ wird während der erwähnten Zeit durch die Drohung, Unruhen hervorzurufen oder zuzulassen, falls man die studentischen Forderungen nicht erfüllen sollte, erreicht, d. h. vermittelst der Terrorisierung der Universitätsbehörden und Professoren. Eine Reihe von Beispielen zeigt, dass die Handlungen der "Bundesorganisation“ derart beschaffen sind: im Jahre 1894 drohte die Moskauer Universität mit Unruhen wegen der Berufung des früheren Charkower Professors W., der unter den Studenten als „Reaktionär“ und „Streber“ bekannt war. Die Unruhen fanden nicht statt, weil der genannte Professor nach dem Urteilspruch der „Gerichtskommission der Studenten“, die beschlossen hatte, ihn an der Moskauer Universität nicht zu dulden, seine Vorlesungen nicht begann. Ein anderes Mal kam es nicht zu Unruhen, weil Professor K. auf Veranlassung der Studenten rechtzeitig nach [/b]Kasan versetzt wurde. Als Professor J. am 19. Februar (am Jahrestag der Bauernemanzipation) Vorlesungen hielt, wollten die Studenten Unruhen veranstalten, die jedoch ausblieben, weil sie mit dem Urteilspruch der "Gerichtskommission“ zufrieden waren. Das Urteil lautete: "Dem Professor sei wegen seines ungebührlichen Benehmens am 19. Februar der Tadel aller Studenten im Auditorium auszusprechen.“

Die „Gerichtskommission“, von der nun die Rede ist, bestand aus Vertretern, die von den Landsmannschaften gewählt waren, je einem für eine Landsmannschaft. Aus dem hektographischen Berichte dieser Kommission für die Jahre 1893 — 1894 ist zu ersehen, dass die illegale Studentenorganisation zu dieser Zeit bemüht war, eine wachsame Kontrolle über die Professoren und die Universitätsbehörden einzuführen. So z. B. werden in dem Berichte erwähnt: die "Angelegenheit des Professors O., dem die physikalisch-mathematische Fakultät in gesetzwidriger Weise den Grad Doktor der Chemie verliehen hatte,“ die Angelegenheit der Universitätsinspektion "wegen der ausgehängten Bekanntmachungen und der für die Studenten schmachvollen Einsendungen in den "Moskowskija Wjedomosti“, schließlich die Angelegenheit "des ungebührlichen Benehmens der Universitätsbeamten und der Unordnung in der Universitätskanzlei“.

Mit einem Worte, die Lage in der Moskauer Universität während 1893 — 94 war folgende: Die stark entwickelte Studentenorganisation hatte die Möglichkeit, jeden Schritt der Professoren und anderer Universitätsbeamten, deren Tätigkeit allen sichtbar ist, zu verfolgen; wenn es notwendig war, suchten die Studenten mit ganz unzweideutigen Drohungen auf sie einzuwirken. Die Universität aber hatte keine Mittel, die Tätigkeit der Studentenverbindungen zu verfolgen, die sich im Geheimen und außerhalb ihrer Einwirkungssphäre entfaltete. Der konspirative Charakter der Studentenorganisation, der ihre antiakademische Richtung bewirkt, machte dagegen den Kampf seitens der Universität unmöglich.

Angesichts des engen Zusammenhangs zwischen unserer akademischen Ordnung und der allgemeinen Staatsordnung musste der Übergang der Studentenorganisation zur politischen, ja sogar revolutionären Tätigkeit unbedingt stattfinden. Dieser Umschwung in der Tätigkeit des "Bundes“ fällt mit der Veränderung in der Regierung zusammen.

Die Thronbesteigung Nikolaus II. rief bekanntlich in weiten Schichten der russischen Gesellschaft die Hoffnung auf Wiederaufnahme und Vollendung der Befreiungsreformen, die unter Alexander II. begonnen worden, hervor. Begreiflicherweise spiegelten sich diese Hoffnungen wie die bald darauf folgenden Enttäuschungen auch in der Stimmung der Studentenschaft wider. Vier Tage nach dem Tode Alexanders III. — 24. Oktober 1894 — beriet der Moskauer ,,Bundesrat“ über die Antwort auf die gestellte Frage: "Was ist im gegenwärtigen Moment zu unternehmen?“

In diesem Übergangsmomente verteilten sich die Stimmen der Landsmannschaften: die einen sprachen sich für eine Petition mit bescheidenen akademischen Forderungen aus, die anderen für politische Forderungen, wie z. B.: die Einberufung eines "Semski Sobor“, die Freiheit des Wortes und der Presse, die Amnestie für politische Verbrecher; dabei war die Landsmannschaft des Gouv. Twer der Ansicht, dass diese Petition zusammen mit analogen Petitionen der Semstwos eingereicht werden müßte, die Landsmannschaft des Gouv. Kursk erklärte sogar, "dass die Studentenschaft stark genug organisiert sei, um die Initiative zu einer sozialen Bewegung zu ergreifen.“ In dieser charakteristischen Erklärung kam zum ersten Male das Programm zum Ausdruck, das späterhin von allen revolutionären Studentenorganisationen in Wirklichkeit umgesetzt werden sollte.

Bereits im Jahre 1894 äußerten manche Landsmannschaften die Bereitwilligkeit, ihre Forderungen durch Unruhen "bis zum äußersten“ zu unterstützen. Diese politischen Tendenzen, die damals nur von kleinen Studentengruppen geteilt wurden, gelangten im Jahre 1896, als der reaktionäre Charakter der neuen Regierung klar wurde, zur völligen Herrschaft. In dem Aufrufe vom 21. Oktober 1896 erklärt der "Bundesrat“ als seine Hauptaufgabe „die Vorbereitung von Kämpfen“ gegen die Staatsordnung: Er betrachte die Universität in ihrer jetzigen Form als eine Begleiterscheinung des allgemeinen Staatsübels und fordere die Studentenschaft "zum organisierten, aktiven Proteste auf.“

Aus den anderen Erklärungen des Moskauer Bundesrates ist zu ersehen, dass die früheren Versuche des Bundes, die Schaubühne der politischen Tätigkeit zu betreten, scheiterten, da die anderen Universitäten und Hochschulen die Unterstützung verweigerten. Im Berichte über die Jahre 1893 — 94 klagt der "Bundesrat“, dass die anderen Universitäten Moskau nicht unterstützen können, da sie keine Organisationen mit Zentralorganen besitzen.

Um die Moskauer Studentenschaft aus dieser isolierten Lage zu befreien, begann der Moskauer "Bundesrat“ Kongresse "aller russischen Studenten“ einzuberufen; und, dank der politischen Gärung, die mit der neuen Regierung begonnen hat, blieben seine Bemühungen nicht erfolglos. Die Organisation büßte ihren lokalen Charakter ein, indem sie zugleich politisch und allgemein russisch wurde.

1896 — 1897 erschienen in Kiew die ersten Proklamationen des "Kiewer Bundesrates“ und es brachen bald politische Unruhen in Moskau, Petersburg und Kiew aus.

Seit dieser Zeit verblüffen die Universitätsunruhen durch ihr eigenartiges harmonisches Vorgehen und durch den einheitlichen Aktionsplan, Alle Universitäten erheben sich gewöhnlich zu gleicher Zeit, aus einem und demselben Anlasse, erklären einander "die Solidarität“ und stellen meistens dieselben Forderungen auf.

Inwiefern die Studentenorganisationen eng miteinander verbunden sind, ist z. B. aus der Menge hektographischer Bulletins zu ersehen, die der Kiewer „Bundesrat“ während der Unruhen von 1899 herausgegeben hat. Diese Bulletins, die je nach den Vorkommnissen mehrmals in der Woche erschienen, sind reich an Mitteilungen über alle Ereignisse an den russischen Hochschulen. Die veröffentlichten Tatsachen wurden meistens von den "Regierungsmitteilungen vom Jahre 1899“ bestätigt, obwohl naturgemäß die Ereignisse daselbst in anderer Beleuchtung erschienen und viele tendenziöse Übertreibungen enthielten.

Im Kampfe mit allen möglichen Hindernissen entwickelte sich der Moskauer „Bundesrat“ nach und nach, im Laufe von zehn Jahren. Nachdem es aber einmal gelungen war, diesen Typus einer Organisation zu schaffen, konnten die Studenten der anderen Universitäten denselben leicht entlehnen. Dadurch ist das ungeheure Wachsen der Organisationen während winziger 4 — 5 Jahre zu erklären.

Die Studentenbewegung breitete sich über ganz Russland aus, nahm einen politischen Charakter an und trat im Jahre 1899 als eine ausgesprochen revolutionäre Bewegung hervor. Wenn die oppositionelle Studentenschaft damals auch noch fortfuhr, neben den politischen Forderungen auch akademische zu stellen, so ließ sie in den letzten zwei Jahren diese völlig fallen, um sich ausschließlich mit den allgemeinen Staatsfragen zu befassen. Im Zusammenhang damit traten die Studentenorganisationen in eine neue Entwicklungsphase, die sich nun vor unseren Augen abwickelt. Sobald die Organisationen den revolutionären Weg einschlugen, mussten sie unbedingt ihren früheren ausschließlich studentischen Charakter ablegen und sich den überall tätigen revolutionären Parteien anschließen. Die Landsmannschaften wurden noch infolge der obenerwähnten Eigentümlichkeiten des russischen Studentenlebens beibehalten, die "Bundesräte“ aber begannen sich aufzulösen und traten vor den Organisationen, die einen ganz anderen Typus hatten, zurück. Im vorigen Jahre wurde der "Bundesrat“ in Kiew völlig abgeschafft; an die Spitze der Studentenbewegung traten solche Organisationen wie "die Studentengruppe der Sozial-Revolutionäre“, die „Studentengruppe der Sozialdemokraten“, die ,,Kleinrussische revolutionäre Partei“ usw. Die Proklamationen, die Studenten zum Proteste aufriefen, wurden manchmal von der "Koalitionsversammlung“ dieser und ähnlicher Gruppen unterzeichnet.

Das ist in kurzen Umrissen die Geschichte der Studentenbewegung während der letzten Jahre. Nachdem wir nun das Wesen unseres akademischen Lebens kennen gelernt haben, bleibt uns noch übrig, die Mittel und Wege in Betracht zu ziehen, welche gegenwärtig der Universität im Kampfe gegen die Studentenbewegung zur Verfügung stehen oder zur Verfügung stehen können.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Universitaetsfrage
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