Die Zukunft der russischen Universitäten

Über die Zukunft der russischen Universitäten darf man nicht nach dem traurigen Bilde, das sie gegenwärtig bieten, urteilen. Die stürmische Zerstörungsperiode, in der wir jetzt leben, ist in jeder Hinsicht eine Übergangszeit. Die chronische Krankheit unserer Hochschule, von der wir in diesem Aufsatz sprachen, ist alten Datums; aber die scharfe Krise, die wir jetzt durchmachen, ist vor kurzem entstanden, im Jahre 1899: die Studentenunruhen, die in jenem Jahre ausgebrochen sind, waren die erste Äußerung der allgemeinen Staatskrise, in der wir uns jetzt befinden, der Krise, die zur Verfassung führen wird. Wenn nicht alle Zeichen trügen, so ist das ein Symptom der baldigen Genesung unseres Staatsorganismus.

Was die russischen Universitäten in Zukunft werden leisten können, läßt sich nach dem beurteilen, was sie bereits für Russland geleistet haben. Bis zum Jahre 1899 waren die Studentenunruhen bei uns keine übliche Erscheinung: in der Kiewer Universität z. B. fanden in den Jahren 1884 bis 1897 keine Unruhen statt; sie traten vereinzelt bald hier, bald dort auf; in Moskau kamen sie häufiger, in den anderen Universitäten seltener vor. Im allgemeinen aber konnten die Universitäten ihre fruchtbringende, schöpferische Arbeit fortsetzen. Und diese Arbeit war um so wertvoller, je bedeutender die Hindernisse waren, die überwunden werden mussten. Die ganze Geschichte unserer höheren Schulbildung ist die Geschichte eines fortwährenden schweren Aufklärungskampfes gegen fremde und feindselige Elemente des russischen öffentlichen Lebens. In den Tagen der grausamen und unerbittlichen Reaktion, in den Zeiten der allgemeinen Rechtlosigkeit und Sklaverei, vermochten es unsere Universitäten dennoch, eine Reihe glänzender Staatsmänner auszubilden, die die Fesseln der Leibeigenschaft von Russland abgestreift und die weitgehenden freiheitlichen Reformen Alexanders II. durchgeführt haben. In der Regierungszeit Nikolaus' I., während die rücksichtslose Zensur sich bemühte, die leisesten Äußerungen eines freien Gedankens aus unserer Literatur auszumerzen, wo jedes unvorsichtige Wort grausam geahndet wurde, auch da hörte unsere Jugend im Auditorium ein freies Wort! Ein solches ertönte bei uns zuerst auf dem Katheder. Aus den mündlichen Auseinandersetzungen ihrer Lehrer erfuhr die Jugend das, was der Bleistift des Zensors aus den Büchern vertilgt hatte. Es gibt keine verbotene Lehre von wissenschaftlicher Bedeutung, welche die russischen Professoren ihren Zuhörern nicht vermittelt hätten. Unter ihnen waren immer aufopferungsfähige Männer, die furchtlos das Licht der Aufklärung in der umgebenden Finsternis verbreitet haben: sie gedachten des evangelischen Gebotes: "Selig sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen“; darum gab es auch unter ihnen viele, die Verfolgung litten!


In den vierziger Jahren, zur Zeit Nikolaus' I., nahm die Jugend in der Universität den Geist der deutschen idealistischen Philosophie auf, die den bei uns herrschenden offiziellen Anschauungen so schroff widersprach. Beim Antritte der Regierung Alexanders III., als ich Student der Moskauer Universität war, wurde uns die Lehre Auguste Comtes ganz frei vom Katheder vorgetragen, trotzdem die Werke des berühmten französischen Philosophen verboten waren; in der Universität lernten die Studenten Darwin und Spencer kennen, die das Entsetzen der Geistlichkeit hervorriefen, wie auch alle politischen und ökonomischen Theorien, ohne jede Rücksicht auf das feindliche Verhalten der Zensur. Manche Professoren der juristischen Fakultät machten kein Hehl aus ihren Sympathien für die konstitutionellen Regierungsformen; von einem Professor sprachen die Studenten scherzend: er schlage zwei Fliegen mit einer Klappe, indem er die Nichtexistenz Gottes durch die Existenz des russischen Staates beweise. Und zu jener Zeit wurde die Universität von dem wachsamen Auge Katkows verfolgt, der keine Gelegenheit vorübergehen ließ, um die Professoren, "die die Jugend demoralisieren“, zu denunzieren. Vier meiner Lehrer wurden zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Amtes enthoben, und trotzdem erstarb nicht das freie Wort an der Universität; nach wie vor lehrten die Professoren alles, was ihnen wissenschaftlich wertvoll schien, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, was verboten und was erlaubt war. Das allgemeine Staatsrecht, das aus dem offiziellen Universitätsprogramm gestrichen ist, wurde dennoch freiwillig von den Professoren gelesen; die Professoren der Philosophie und Rechtsphilosophie nahmen in ihren Vortragszyklus die Systeme der neueren und neuesten Philosophie, die aus dem offiziellen Programm verbannt waren, auf. Die Volkswirtschaftler hielten nach wie vor Vorträge über Marx. Natürlich mussten die Universitäten seit der Zeit ihrer Existenz gegen den Ansturm aller reaktionären Mächte, der Behörden, der Geistlichkeit und der reaktionären Blätter kämpfen. Und schließlich fanden sich jetzt nach soviel Prüfungen und Verfolgungen einige Hundert Gelehrte — Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, Professoren und Privatdozenten, die offen das aussprachen, was sie bis jetzt verschwiegen hatten: sie wiesen ohne weiteres auf das Staatsregime als die Grundursache des Unheils in unserem öffentlichen und akademischen Leben hin. Die Tatsache, dass die meisten dieser Professoren von der Regierung ernannt worden, beweist, dass nicht alle Professoren dem reaktionären Ideal vom ernannten Professor entsprechen! Der Reaktion ist es nicht gelungen, den ernsten wissenschaftlichen Unterricht in den Universitäten zu töten und die heilige Fahne der akademischen Freiheit den Händen der Professoren zu entreißen!

Das ist das Hauptverdienst unserer Professoren in der Vergangenheit und Gegenwart. Was sollen wir nun von der Hoffnung unserer Zukunft, von unserer studierenden Jugend sagen? Sie hat strenge Richter, welche sie der Verachtung der Wissenschaft zeihen und in den Studentenunruhen nur eine Äußerung der Unkultur und Barbarei sehen! Genügt denn das, was wir von den Ursachen der Studentenunruhen gesagt haben, nicht, um sich von der äußersten Einseitigkeit und Ungerechtigkeit dieser Ansicht zu überzeugen? Es unterliegt keinem Zweifel, dass die gegenwärtige Studentenbewegung manche Verirrungen und Übertreibungen zeitigt. Aber unsere Jugend erscheint sogar in ihren Verirrungen sehr sympathisch. Selbst ihre Mängel sind die Kehrseite großer und wertvoller Eigenschaften.

Vor allem ist der tiefgehende praktische Idealismus hervorzuheben, der unsere Jugend zu irgend welchen verwerflichen Kompromissen unfähig macht. Der russische Student stellt sich mit außerordentlicher Begeisterung und Leidenschaft in den Dienst des Gesellschaftsideals. Der Marxismus selbst wurde von unserer Studentenschaft als eine Art religiöser Glaube aufgenommen. Damit hängt ein anderer Zug zusammen — das Bedürfnis der Selbstaufopferung, die Sehnsucht nach dem Märtyrertum. So groß ihre Mängel sein mögen, den Mangel an Aufopferungsfreude und Kühnheit kann man ihr nicht vorwerfen. Die Studentenunruhen haben oft ganze Hekatomben von Opfern, Verhaftungen, Verbannungen nach den entlegensten Gegenden Sibiriens zur Folge. Diese Strafen wirken nicht besänftigend, sondern rufen eher weitere Unruhen hervor. Das Gefühl der Solidarität mit den bestraften Kollegen zwingt die Studenten, deren Befreiung zu fordern; diese Forderung, die immer aufgestellt wird, verleiht den Streiken oft eine Zähigkeit und ausdauernde Kraft.

Dem Radikalismus der politischen Überzeugungen unserer Jugend entspricht der Radikalismus ihres Charakters. Sie begnügt sich nicht mit der allmählichen Annäherung an das politische oder soziale Ideal, an welches sie glaubt: sie will es sofort verwirklicht, in vollem Maße verkörpert sehen. So z. B. will sie sich gegenwärtig mit einer gemäßigten Konstitution nicht begnügen: sie fordert vielmehr die sofortige Einführung des allgemeinen, direkten, geheimen und gleichen Wahlrechts; in den Versammlungen sprechen sich die Studenten oft für eine sozialdemokratische Republik aus. Nach ihrer Geistesart erinnern unsere Studenten an die französischen Revolutionäre des XVIII. Jahrhunderts — dieselbe Unfähigkeit, die geschichtlichen Gestaltungen zu begreifen, dieselbe Neigung, more geometrico zu denken, derselbe Dogmatismus und Glaube an die Möglichkeit, die Wirklichkeit im Nu nach den Prinzipien der Vernunft umbauen zu können. Sogar diejenigen unter ihnen, die als Evolutionisten auftreten, wollen nichts von dem allmählichen Lauf der historischen Evolution hören. Dieser Zug ist bei uns übrigens nicht nur den Studenten allein eigen. Die Neigung, in der Sphäre der Abstraktionen zu schweben und die antihistorische Denkweise bilden den charakteristischen Zug eines bedeutenden Teiles der russischen Gesellschaft. Der Gedanke, der durch die Schule der Selbstverwaltung nicht hindurchgegangen ist, wird von den Tatsachen der politischen Erfahrung nicht eingedämmt; im Denken unserer Jugend äußert sich dieser Mangel in übertriebener Weise.

Darauf ist das zügellos-negative Verhalten der umgebenden Wirklichkeit gegenüber zurückzuführen, durch das sich ein bedeutender Teil unserer Studenten auszeichnet. Indem sie das Leben vom Standpunkte des Ideals der absoluten Vollkommenheit betrachten, wollen sie die relativen Werte gar nicht anerkennen, welche ihnen die Universität selbst in gegenwärtiger unvollkommener Gestalt bietet. Einzelne Reformen und Verbesserungen hetzen sie nur auf. Zwischen absoluter Finsternis und vollem Lichte wollen sie keine Übergänge anerkennen. Daher ihre äußerst schroffen Urteile über Menschen: das ganze Menschengeschlecht zerfällt für sie gleichsam in Helden und Schufte; da sie keine Mittelstufe zwischen diesen beiden Extremen sehen, lieben sie entweder leidenschaftlich oder sie hassen leidenschaftlich; die Fähigkeit, kritisch zu urteilen und ruhig zu analysieren, geht ihnen fast gänzlich ab.

Der Mangel an Toleranz und die ungerechte Beurteilung, unter denen die Professoren viel zu leiden haben, sind zweifellos große Fehler. Nur ist hier wiederum nicht zu vergessen, dass diese Fehler die Kehrseite der positiven Eigenschaft — der seltenen Kraft und Leidenschaftlichkeit der Überzeugung — sind. Unserer Jugend kann man vieles verzeihen, weil sie vieles liebt. Der Grund ihrer Schwärmereien ist immer uneigennützig und rein: das ist die grenzenlose Hingabe an das Volk, die Liebe zur Freiheit, um deren willen sie bereit ist, alles zu opfern. Zwischen den illegalen Studentenvereinen, die einander unterstützen, zwischen den Studenten verschiedener Hochschulen existiert ein inniger Zusammenhang von Kollegialität und Brüderlichkeit im Namen gleicher Freiheitsbestrebungen. Man kann zugeben, dass diese Vereine das allgemeine Wohl nicht immer richtig verstanden haben, man kann manche ihrer Kampfmittel, wie z. B. den Streik verwerfen, man kann aber nicht leugnen, dass sie der russischen Gesellschaft einen Dienst geleistet haben, indem sie der Jugend Parteidisziplin, die Unterordnung der eigenen Interessen zugunsten allgemeiner Aufgaben gelehrt und den nun überall begonnenen Protest vorbereitet haben.

Gegenwärtig erfasst das Streben nach Vereinigung zwecks Erreichung der Freiheit immer weitere Schichten der russischen Gesellschaft. Vertreter verschiedener Semstwos und Magistrate, Professoren verschiedener Hochschulen, Rechtsanwälte vereinigen sich. Überall macht sich ein planmäßiges, einheitliches Vorgehen, eine Solidarität zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Korporationen geltend. Zwischen den einzelnen oppositionellen Gruppen entsteht und wächst eine Art "Tugendbund“; man darf nicht vergessen, dass die Jugend den ersten Anstoß zu seiner Entstehung gegeben hat: sie marschierte immer an der Spitze der gesellschaftlichen Bewegung; sie war es, die die russische Gesellschaft zuerst erwachen ließ. Zum Schlusse möchte ich mit einigen Worten auf den Vorwurf erwidern, dass die russische Jugend die Wissenschaft missachte. Der Vorwurf ist ungerecht. In Wirklichkeit missachtet sie den Universitätsunterricht und nicht die Wissenschaft. In dieser Hinsicht lässt sich allerdings unsere Studentenschaft manche Übertreibungen zuschulden kommen. Im allgemeinen aber gelang es immer den talentvollen Professoren, das Vorurteil gegen offizielle Vertreter der Wissenschaft zu verscheuchen; ihre Auditorien sind überfüllt, und man muss sehen, mit welcher Aufmerksamkeit die Studenten ihren Worten folgen! Ihre leidenschaftliche, lebhafte Teilnahme an den Seminaren ist für die Professoren eine Quelle des Genusses. Die Wissbegier, die sie in friedlichen Zeiten an den Tag legen, lässt hoffen, dass unsere Universitäten, sobald die stürmische Zeit des Kampfes um politische Freiheit vorüber sein wird, gedeihen werden. Die vornehme, erhabene Gesinnung, die unsere Jugend sogar in ihren Verirrungen verrät, berechtigt uns, vertrauensvoll der Zukunft entgegenzusehen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Universitaetsfrage
Charles Robert Darwin (1809-1882), englischer Naturforscher

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Nikolaus I. (1769-1855), russischer Zar

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Karl Marx (1818-1883), englischer Philosoph

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Moskau - Bettler und Obdachlose wärmen sich am Feuer

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Moskau - Die Zaren-Glocke

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Moskau - Gouverneurspalast

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In Moskau kam es zu großen Studentenunruhen

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