Die Notwendigkeit von Reformen in Staat, Gesellschaft und Universität
Die Verhältnisse unseres Universitätslebens werden mit jedem Jahre unerträglicher; und dennoch ist die Universitätsreform in der letzten Zeit allen so gleichgültig geworden: sie tritt im Verhältnis zu den allgemeinen Staatsreformen in den Hintergrund. Es ist allen klar geworden, dass die chronische Krankheit, an der unsere Hochschulen leiden, eine Nebenerscheinung des allgemeinen Leidens ist. Es gibt keine spezielle Universitätsfrage: das, was bei uns so genannt wird, ist nur ein Teil der allgemeinen Staatsfrage. Daher kann die akademische Reform nur bei radikaler Veränderung der Staatsordnung von Nutzen sein.
Gegenwärtig wird kaum jemand sagen können, dass die Wiederherstellung der Universitätsautonomie die Studentenunruhen, die, wie erwähnt, gar keinen akademischen Charakter tragen, aus der Welt schaffen werde. Es unterliegt durchaus keinem Zweifel, dass die Jugend nach wie vor Versammlungen abhalten wird, um über verbotene Fragen zu beraten, politische Forderungen zu stellen, Proteste und Demonstrationen[ zu veranstalten. Solange die gegenwärtige Staatsordnung besteht, werden auch die Studentenstreike nicht aufhören.
Bei der augenblicklichen Stimmung der Gesellschaft ist die Universität in einem absolutistischen Staate lebensunfähig. Im politischen Kampfe zwischen der Regierung und der Studentenschaft kann die Universität die Neutralität nicht bewahren: sie wird entweder für die Regierung oder für die Studentenschaft Partei ergreifen müssen; sie wird entweder die Unruhen unterdrücken, d. h. einen beständigen Kampf mit den Studenten führen, oder aber politische Versammlungen und Demonstrationen sich gefallen lassen müssen; und das heißt: die Autonomie der Universität aufs Spiel setzen. Die Regierung wird selbstverständlich nicht dulden, dass die Universität zum Mittelpunkt der Agitation gegen den Absolutismus werde. Im Jahre 1884 brach die Autonomie der Universität zusammen, weil sie unter den widerspruchsvollen Verhältnissen des russischen Staatslebens ein Kartenhäuschen war! Es wird auch künftighin so sein, solange die Staatsordnung die alte bleibt.
Bei der heutigen Staatsordnung wird eine akademische Reform keine Verbesserungen im Leben der Universität hervorbringen und die Studenten nicht beruhigen. In den letzten Jahren wurde seitens der Professoren häufig der Versuch gemacht, auf die Jugend durch Ermahnungen einzuwirken. Diese Versuche hatten im allgemeinen gar keinen Erfolg; in den meisten Fällen betrachtete die Jugend den "ermahnenden“ Professor als einen Beamten, der aus Dienstpflicht sie zu beruhigen suchte. Bei einer Universitätsautonomie hätte sich das Professorenkollegium einer größeren Autorität erfreuen können: die Anhänger der Universitätsreform führen dieses richtige Argument immer an.
Es ist jedoch leicht einzusehen, dass die heutigen Verhältnisse des öffentlichen russischen Lebens den Einfluß des Professorenkollegiums auch bei einer Autonomie unbedingt paralysieren müssen. Versetzen Sie sich in die Lage eines Professors, der überzeugt ist, dass die Politik mit der Universität nichts zu schaffen hat. Was wird er seinen aufgeregten Zuhörern sagen können? Um sie zu beruhigen, genügt es nicht, in allgemeinen Redensarten "von dem Nutzen der Wissenschaft“ zu sprechen. Man muss auf das Wesen der Frage, welche die Studenten beunruhigt, eingehen, d. h. mit ihnen über die Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit ihres Kampfes gegen den Absolutismus debattieren!
Dabei muss der Professor offen alles sagen, was er denkt, und alles anhören, was man ihm antworten wird. Ist denn dieser freie Meinungsaustausch zwischen ihm und den Zuhörern in Russland möglich, wo es keine Redefreiheit gibt? Auf "das Wesen der Frage eingehen“ — das bedeutet, mit den Studenten politische Gespräche führen, die bei uns überall verboten sind. Ich rede gar nicht einmal davon, dass alles, was in der Universität besprochen wird, bald außerhalb ihrer Mauern bekannt wird: während der Unruhen befinden sich in den Hörsälen nicht wenige Polizeiagenten, die als Studenten verkleidet dorthin kommen. Es ist selbstverständlich, dass jeder Professor, der auf die Jugend "einwirken“ will, auf Antworten gefaßt sein muss, die den Sprechenden nur Unheil bringen können! Unter diesen Verhältnissen gibt es kein „Einwirken“.
Und dann unsere Preßgesetze! Diese Gesetze mit ihren Zensur verboten sind wie dazu geschaffen, die loyale Presse zu diskreditieren und ihr jeden lebendigen Inhalt zu rauben. Dadurch wird ein bedeutender Teil der studierenden Jugend dem Einfluß der illegalen Presse preisgegeben. Ich kannte Studenten, die ausschließlich verbotene Schriften lasen und nach ihnen ihre Weltanschauung bildeten, weil alles, was in Russland veröffentlicht werden darf, von vornherein ihr Misstrauen erweckte. Von Studenten habe ich gehört, dass die Bibliotheken unserer Landsmannschaften wesentlich, wenn nicht ausschließlich, aus verbotenen Schriften zusammengesetzt sind; revolutionäre Proklamationen, die täglich in großen Mengen in der Universität verbreitet werden, ersetzen ihnen die Zeitungen.
Fortwährende Verhaftungen, administrative Verbannungen, Strafen ohne vorhergehendes Gerichtsverfahren versetzen unsere Jugend in eine nervöse, ewig aufgeregte Stimmung und fördern nur den Einfluß der revolutionären Literatur. Welchen Erfolg können unter diesen Verhältnissen die Versuche "zu beruhigen und zu überreden“ haben? Die Universität wird nur dann ruhig werden, wenn die Straße ruhig geworden ist: darum braucht man Reformen, die das öffentliche russische Leben in ruhigere Bahnen leiten werden. Unsere Gesellschaft aber kann sich nicht eher beruhigen, als bis das bestehende Regime, das unsere inneren Wirren und unsere Misserfolge im fernen Osten verursacht hat, abgeschafft wird.
Alle Redner, die auf den Studenten Versammlungen für die Aufrechterhaltung der Ordnung sprechen, treten in der Regel auf im Namen der Devise: "Die Universität ist für die Wissenschaft da und nicht für die Politik.“ Diese Erklärung begleitet fast immer das Erscheinen der offiziellen Beamten auf den Versammlungen. Leider aber haben diese Worte in ihrem Munde einen falschen Klang und entbehren daher jeder Überzeugungskraft. Die Regierung selbst kann bei dem bestehenden Regime ihrem Prinzip nicht treu bleiben. Sie allein und nicht die Jugend ist schuld daran, dass die Politik in die Universität eingedrungen ist. Aus politischen Gründen zerstörte das Reglement vom Jahre 1884 die Autonomie und die akademische Freiheit, vernichtete die frühere relative Lehrfreiheit und würdigte die Wissenschaft zu einem Hilfsmittel des Staates herab; aus politischen Gründen verjagte das Ministerium die beliebten Lehrer der Jugend aus den Universitäten und versuchte, die anderen in Beamte zu verwandeln. Welche Überzeugungskraft kann unter diesen Umständen die Devise: "die Universität ist für die Wissenschaft da“ haben? Die Regierung selbst hat die Universität zum Schauplatze des politischen Kampfes gemacht. Ja, bei dem bestehenden Regime konnte sie gar nicht anders handeln; die Wissenschaft von der bureaukratischen Bevormundung befreien, hieße unter anderem, dem Professor der russischen Geschichte und dem Professor des russischen Staatsrechts zu erlauben, unsere höheren Staatseinrichtungen einer objektiven Kritik zu unterziehen! Eine freie Kritik aber wäre freilich für die "Staatsordnung“ gefährlich.
Unter diesen Umständen darf man sich nicht wundern, dass unsere Jugend von einem tiefen, ja übertriebenen Misstrauen gegen alles, was vom Universitätskatheder herab gelehrt wird, durchdrungen ist. In dieser Hinsicht übten ihren Einfluß aus nicht nur die unter unseren Studenten verbreiteten marxistischen Vorurteile gegen die "bürgerliche Wissenschaft“, sondern auch lokale spezifisch russische Verhältnisse: die russische Regierung stellte die Wissenschaft unter Kuratel, weil sie ihr verdächtig schien; die russischen Studenten mißtrauten ihrerseits der Universitätswissenschaft, weil sie unter Kuratel gestellt war. Das System der politischen Bevormundung der Universität gegenüber und politische Unruhen innerhalb derselben sind unzertrennliche Erscheinungen.
Da die Universität keine wirksamen pädagogischen Mittel hat, so bleiben zur Bekämpfung der Studentenunruhen nur politische Maßnahmen übrig, deren Unbrauchbarkeit die vieljährige Erfahrung bewiesen hat. Machtlos, etwas zu unternehmen oder zu verhindern, wirkt die Universitätsinspektion nur demoralisierend auf unsere Jugend. Der zahlreiche Stab von Aufsehern, die in den Korridoren der Universität müßig auf und ab gehen, läßt alle Studenten als verdächtige Subjekte erscheinen: dadurch wird in der Universität eine schwere, drückende Atmosphäre erzeugt.
Begreiflicherweise verlangen alle Anhänger der Universitätsreform eine radikale Veränderung oder sogar völlige Abschaffung der Inspektion. Nur vergessen sie dabei das Allerwichtigste: unter dem bestehenden Staatsregime ist eine solche Reform unmöglich; in einem Lande, wo die gesamte Bevölkerung unter wachsamer polizeilicher Aufsicht lebt, kann die Universität keine Ausnahme bilden. Schaffen wir gegenwärtig die Inspektion ab, so wird die polizeiliche Aufsicht in einer anderen Form auftauchen. So oder anders wird sie uns von außen her aufgezwungen sein; werden wir denn viel dadurch gewinnen, dass anstatt der Pedelle Schutzleute vor den Hörsälen stehen werden? Es lohnt sich kaum, über solche Bekämpfungsmittel gegen die Studentenunruhen zu sprechen, wie die Spionage der Pedelle und die Einführung des Militärs und der Polizei in die Universitätsgebäude. Darüber läßt sich nur sagen: "le remède est pire que le mal.“ Unter dem gegenwärtigen Staatsregime steht unsere Universitätsbehörde immer vor dem Dilemma: entweder die Universität zu schließen oder die Hilfe der bewaffneten Gewalt zur Herstellung der Ruhe in Anspruch zu nehmen.
Das Wesen unserer Universitätskrankheit besteht darin, dass die Hochschule bei der heutigen Stimmung der Gesellschaft mit unserer Staatsordnung unvereinbar ist. Davon spricht unter anderem das "Memorandum über die Bedürfnisse der Aufklärung“, das vor kurzem in der Zeitung "Naschi Dni“ veröffentlicht wurde und gegenwärtig von vielen Hunderten Gelehrten unterzeichnet ist. Dieses ,,Memorandum“ schließt mit den Worten: "indem wir uns den Resolutionen des denkenden Russlands anschließen (es handelt sich um die Erklärungen der Semstwos und der Magistrate), bringen wir, die wir Vertreter der wissenschaftlichen Anstalten und Hochschulen sind, die feste Überzeugung zum Ausdruck, dass die Einführung der Gesetzlichkeit und der damit verbundenen politischen Freiheit für das Wohl des Landes notwendig ist. Die Geschichte lehrt, dass dieses Ziel ohne Heranziehung von freigewählten Vertretern des gesamten Volkes zur Teilnahme an der Gesetzgebung und zur Kontrolle über die Administration nicht erreicht werden kann. Nur auf Grundlage der gesicherten individuellen und gesellschaftlichen Freiheit — kann die akademische Freiheit, diese notwendigste Bedingung für wahre Aufklärung — erlangt werden.“
Nach all dem, was über den Zusammenhang zwischen unserer akademischen und Staatsordnung gesagt worden ist, bedarf der Gedanke des „Memorandum“ keiner weiteren Erklärung. Wenn wir Selbstverwaltungsorgane haben werden, die bevollmächtigt sind, von den Bedürfnissen und dem Willen des Landes zu sprechen, dann wird sich der gesamte Charakter unseres gesellschaftlichen Lebens und unserer Versammlungen ändern. Anstalten, die nicht geschaffen sind, um sich mit Politik zu beschäftigen, werden nicht gezwungen sein, die Funktionen der Volksvertreter zu übernehmen; dann wird die politische Agitation in unseren Universitäten entweder ganz aufhören, oder wenigstens ihren heutigen, unversöhnlichen revolutionären Charakter verlieren. Wenn erwachsene Bürger das Recht haben werden, sich in politischen Meetings zu versammeln, dann werden Versammlungen, die zu anderen Zwecken berufen sind, sich nicht mehr in politische Meetings verwandeln. Unter diesen Umständen werden politische Versammlungen in der Universität keinen Boden unter den Füßen haben: solche Versammlungen haben nicht den geringsten Sinn in einem Staate, wo die Bürger zur Erörterung politischer Fragen sich in einem beliebigen Restaurant versammeln können. Wenn das Gesetz die Unantastbarkeit der Person, die Rede-, Press- und Gewissensfreiheit gesichert hat, wird die russische Universität den Charakter eines Vulkans verlieren und eine friedliche Stätte der Wissenschaft werden. Dann wird das Land, das der Welt schon viele Denker und Gelehrte geschenkt hat, zeigen, mit welchen neuen Schätzen es die Weltkultur bereichern kann.
Gegenwärtig wird kaum jemand sagen können, dass die Wiederherstellung der Universitätsautonomie die Studentenunruhen, die, wie erwähnt, gar keinen akademischen Charakter tragen, aus der Welt schaffen werde. Es unterliegt durchaus keinem Zweifel, dass die Jugend nach wie vor Versammlungen abhalten wird, um über verbotene Fragen zu beraten, politische Forderungen zu stellen, Proteste und Demonstrationen[ zu veranstalten. Solange die gegenwärtige Staatsordnung besteht, werden auch die Studentenstreike nicht aufhören.
Bei der augenblicklichen Stimmung der Gesellschaft ist die Universität in einem absolutistischen Staate lebensunfähig. Im politischen Kampfe zwischen der Regierung und der Studentenschaft kann die Universität die Neutralität nicht bewahren: sie wird entweder für die Regierung oder für die Studentenschaft Partei ergreifen müssen; sie wird entweder die Unruhen unterdrücken, d. h. einen beständigen Kampf mit den Studenten führen, oder aber politische Versammlungen und Demonstrationen sich gefallen lassen müssen; und das heißt: die Autonomie der Universität aufs Spiel setzen. Die Regierung wird selbstverständlich nicht dulden, dass die Universität zum Mittelpunkt der Agitation gegen den Absolutismus werde. Im Jahre 1884 brach die Autonomie der Universität zusammen, weil sie unter den widerspruchsvollen Verhältnissen des russischen Staatslebens ein Kartenhäuschen war! Es wird auch künftighin so sein, solange die Staatsordnung die alte bleibt.
Bei der heutigen Staatsordnung wird eine akademische Reform keine Verbesserungen im Leben der Universität hervorbringen und die Studenten nicht beruhigen. In den letzten Jahren wurde seitens der Professoren häufig der Versuch gemacht, auf die Jugend durch Ermahnungen einzuwirken. Diese Versuche hatten im allgemeinen gar keinen Erfolg; in den meisten Fällen betrachtete die Jugend den "ermahnenden“ Professor als einen Beamten, der aus Dienstpflicht sie zu beruhigen suchte. Bei einer Universitätsautonomie hätte sich das Professorenkollegium einer größeren Autorität erfreuen können: die Anhänger der Universitätsreform führen dieses richtige Argument immer an.
Es ist jedoch leicht einzusehen, dass die heutigen Verhältnisse des öffentlichen russischen Lebens den Einfluß des Professorenkollegiums auch bei einer Autonomie unbedingt paralysieren müssen. Versetzen Sie sich in die Lage eines Professors, der überzeugt ist, dass die Politik mit der Universität nichts zu schaffen hat. Was wird er seinen aufgeregten Zuhörern sagen können? Um sie zu beruhigen, genügt es nicht, in allgemeinen Redensarten "von dem Nutzen der Wissenschaft“ zu sprechen. Man muss auf das Wesen der Frage, welche die Studenten beunruhigt, eingehen, d. h. mit ihnen über die Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit ihres Kampfes gegen den Absolutismus debattieren!
Dabei muss der Professor offen alles sagen, was er denkt, und alles anhören, was man ihm antworten wird. Ist denn dieser freie Meinungsaustausch zwischen ihm und den Zuhörern in Russland möglich, wo es keine Redefreiheit gibt? Auf "das Wesen der Frage eingehen“ — das bedeutet, mit den Studenten politische Gespräche führen, die bei uns überall verboten sind. Ich rede gar nicht einmal davon, dass alles, was in der Universität besprochen wird, bald außerhalb ihrer Mauern bekannt wird: während der Unruhen befinden sich in den Hörsälen nicht wenige Polizeiagenten, die als Studenten verkleidet dorthin kommen. Es ist selbstverständlich, dass jeder Professor, der auf die Jugend "einwirken“ will, auf Antworten gefaßt sein muss, die den Sprechenden nur Unheil bringen können! Unter diesen Verhältnissen gibt es kein „Einwirken“.
Und dann unsere Preßgesetze! Diese Gesetze mit ihren Zensur verboten sind wie dazu geschaffen, die loyale Presse zu diskreditieren und ihr jeden lebendigen Inhalt zu rauben. Dadurch wird ein bedeutender Teil der studierenden Jugend dem Einfluß der illegalen Presse preisgegeben. Ich kannte Studenten, die ausschließlich verbotene Schriften lasen und nach ihnen ihre Weltanschauung bildeten, weil alles, was in Russland veröffentlicht werden darf, von vornherein ihr Misstrauen erweckte. Von Studenten habe ich gehört, dass die Bibliotheken unserer Landsmannschaften wesentlich, wenn nicht ausschließlich, aus verbotenen Schriften zusammengesetzt sind; revolutionäre Proklamationen, die täglich in großen Mengen in der Universität verbreitet werden, ersetzen ihnen die Zeitungen.
Fortwährende Verhaftungen, administrative Verbannungen, Strafen ohne vorhergehendes Gerichtsverfahren versetzen unsere Jugend in eine nervöse, ewig aufgeregte Stimmung und fördern nur den Einfluß der revolutionären Literatur. Welchen Erfolg können unter diesen Verhältnissen die Versuche "zu beruhigen und zu überreden“ haben? Die Universität wird nur dann ruhig werden, wenn die Straße ruhig geworden ist: darum braucht man Reformen, die das öffentliche russische Leben in ruhigere Bahnen leiten werden. Unsere Gesellschaft aber kann sich nicht eher beruhigen, als bis das bestehende Regime, das unsere inneren Wirren und unsere Misserfolge im fernen Osten verursacht hat, abgeschafft wird.
Alle Redner, die auf den Studenten Versammlungen für die Aufrechterhaltung der Ordnung sprechen, treten in der Regel auf im Namen der Devise: "Die Universität ist für die Wissenschaft da und nicht für die Politik.“ Diese Erklärung begleitet fast immer das Erscheinen der offiziellen Beamten auf den Versammlungen. Leider aber haben diese Worte in ihrem Munde einen falschen Klang und entbehren daher jeder Überzeugungskraft. Die Regierung selbst kann bei dem bestehenden Regime ihrem Prinzip nicht treu bleiben. Sie allein und nicht die Jugend ist schuld daran, dass die Politik in die Universität eingedrungen ist. Aus politischen Gründen zerstörte das Reglement vom Jahre 1884 die Autonomie und die akademische Freiheit, vernichtete die frühere relative Lehrfreiheit und würdigte die Wissenschaft zu einem Hilfsmittel des Staates herab; aus politischen Gründen verjagte das Ministerium die beliebten Lehrer der Jugend aus den Universitäten und versuchte, die anderen in Beamte zu verwandeln. Welche Überzeugungskraft kann unter diesen Umständen die Devise: "die Universität ist für die Wissenschaft da“ haben? Die Regierung selbst hat die Universität zum Schauplatze des politischen Kampfes gemacht. Ja, bei dem bestehenden Regime konnte sie gar nicht anders handeln; die Wissenschaft von der bureaukratischen Bevormundung befreien, hieße unter anderem, dem Professor der russischen Geschichte und dem Professor des russischen Staatsrechts zu erlauben, unsere höheren Staatseinrichtungen einer objektiven Kritik zu unterziehen! Eine freie Kritik aber wäre freilich für die "Staatsordnung“ gefährlich.
Unter diesen Umständen darf man sich nicht wundern, dass unsere Jugend von einem tiefen, ja übertriebenen Misstrauen gegen alles, was vom Universitätskatheder herab gelehrt wird, durchdrungen ist. In dieser Hinsicht übten ihren Einfluß aus nicht nur die unter unseren Studenten verbreiteten marxistischen Vorurteile gegen die "bürgerliche Wissenschaft“, sondern auch lokale spezifisch russische Verhältnisse: die russische Regierung stellte die Wissenschaft unter Kuratel, weil sie ihr verdächtig schien; die russischen Studenten mißtrauten ihrerseits der Universitätswissenschaft, weil sie unter Kuratel gestellt war. Das System der politischen Bevormundung der Universität gegenüber und politische Unruhen innerhalb derselben sind unzertrennliche Erscheinungen.
Da die Universität keine wirksamen pädagogischen Mittel hat, so bleiben zur Bekämpfung der Studentenunruhen nur politische Maßnahmen übrig, deren Unbrauchbarkeit die vieljährige Erfahrung bewiesen hat. Machtlos, etwas zu unternehmen oder zu verhindern, wirkt die Universitätsinspektion nur demoralisierend auf unsere Jugend. Der zahlreiche Stab von Aufsehern, die in den Korridoren der Universität müßig auf und ab gehen, läßt alle Studenten als verdächtige Subjekte erscheinen: dadurch wird in der Universität eine schwere, drückende Atmosphäre erzeugt.
Begreiflicherweise verlangen alle Anhänger der Universitätsreform eine radikale Veränderung oder sogar völlige Abschaffung der Inspektion. Nur vergessen sie dabei das Allerwichtigste: unter dem bestehenden Staatsregime ist eine solche Reform unmöglich; in einem Lande, wo die gesamte Bevölkerung unter wachsamer polizeilicher Aufsicht lebt, kann die Universität keine Ausnahme bilden. Schaffen wir gegenwärtig die Inspektion ab, so wird die polizeiliche Aufsicht in einer anderen Form auftauchen. So oder anders wird sie uns von außen her aufgezwungen sein; werden wir denn viel dadurch gewinnen, dass anstatt der Pedelle Schutzleute vor den Hörsälen stehen werden? Es lohnt sich kaum, über solche Bekämpfungsmittel gegen die Studentenunruhen zu sprechen, wie die Spionage der Pedelle und die Einführung des Militärs und der Polizei in die Universitätsgebäude. Darüber läßt sich nur sagen: "le remède est pire que le mal.“ Unter dem gegenwärtigen Staatsregime steht unsere Universitätsbehörde immer vor dem Dilemma: entweder die Universität zu schließen oder die Hilfe der bewaffneten Gewalt zur Herstellung der Ruhe in Anspruch zu nehmen.
Das Wesen unserer Universitätskrankheit besteht darin, dass die Hochschule bei der heutigen Stimmung der Gesellschaft mit unserer Staatsordnung unvereinbar ist. Davon spricht unter anderem das "Memorandum über die Bedürfnisse der Aufklärung“, das vor kurzem in der Zeitung "Naschi Dni“ veröffentlicht wurde und gegenwärtig von vielen Hunderten Gelehrten unterzeichnet ist. Dieses ,,Memorandum“ schließt mit den Worten: "indem wir uns den Resolutionen des denkenden Russlands anschließen (es handelt sich um die Erklärungen der Semstwos und der Magistrate), bringen wir, die wir Vertreter der wissenschaftlichen Anstalten und Hochschulen sind, die feste Überzeugung zum Ausdruck, dass die Einführung der Gesetzlichkeit und der damit verbundenen politischen Freiheit für das Wohl des Landes notwendig ist. Die Geschichte lehrt, dass dieses Ziel ohne Heranziehung von freigewählten Vertretern des gesamten Volkes zur Teilnahme an der Gesetzgebung und zur Kontrolle über die Administration nicht erreicht werden kann. Nur auf Grundlage der gesicherten individuellen und gesellschaftlichen Freiheit — kann die akademische Freiheit, diese notwendigste Bedingung für wahre Aufklärung — erlangt werden.“
Nach all dem, was über den Zusammenhang zwischen unserer akademischen und Staatsordnung gesagt worden ist, bedarf der Gedanke des „Memorandum“ keiner weiteren Erklärung. Wenn wir Selbstverwaltungsorgane haben werden, die bevollmächtigt sind, von den Bedürfnissen und dem Willen des Landes zu sprechen, dann wird sich der gesamte Charakter unseres gesellschaftlichen Lebens und unserer Versammlungen ändern. Anstalten, die nicht geschaffen sind, um sich mit Politik zu beschäftigen, werden nicht gezwungen sein, die Funktionen der Volksvertreter zu übernehmen; dann wird die politische Agitation in unseren Universitäten entweder ganz aufhören, oder wenigstens ihren heutigen, unversöhnlichen revolutionären Charakter verlieren. Wenn erwachsene Bürger das Recht haben werden, sich in politischen Meetings zu versammeln, dann werden Versammlungen, die zu anderen Zwecken berufen sind, sich nicht mehr in politische Meetings verwandeln. Unter diesen Umständen werden politische Versammlungen in der Universität keinen Boden unter den Füßen haben: solche Versammlungen haben nicht den geringsten Sinn in einem Staate, wo die Bürger zur Erörterung politischer Fragen sich in einem beliebigen Restaurant versammeln können. Wenn das Gesetz die Unantastbarkeit der Person, die Rede-, Press- und Gewissensfreiheit gesichert hat, wird die russische Universität den Charakter eines Vulkans verlieren und eine friedliche Stätte der Wissenschaft werden. Dann wird das Land, das der Welt schon viele Denker und Gelehrte geschenkt hat, zeigen, mit welchen neuen Schätzen es die Weltkultur bereichern kann.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Universitaetsfrage
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