Die politische Bedeutung einer selbständigen Ukraine.

Nicht erst seit Beginn des Krieges hat eine außerordentlich tatkräftige Werbung um die Befreiung der Ukraine vom russischen Joch angesetzt, sondern diese Bestrebungen dauern schon, man kann wohl sagen, seit Jahrhunderten an. Der Weltkrieg und der Vormarsch der Verbündeten über die polnischen Ostgrenzen hinaus, die Befreiung Galiziens, dessen ruthenisch-ukrainischen Bewohner während der russischen Okkupation das russische Zepter nicht gerade als ersehnenswert betrachten konnten, aber auch die durch den Weltkrieg offen zutage getretene moskowitische Ausdehnungspolitik nach Galizien und den Balkanländern, haben nicht nur die Ukrainer selbst zu Befreiungswünschen von Russland veranlasst, sondern auch die verbündeten Zentralmächte konnten sich nicht verschließen, der Werbetätigkeit für eine selbständige Ukraine ihre Aufmerksamkeit und Beachtung zu schenken. Allerdings dürfte die „Freie Ukraine“ nicht zu den direkten Kriegsgegnern der Kabinette am Ballplatz und der Wilhelmstraße zählen. Kriegsziele zu besprechen, ist uns heute überhaupt versagt, aber die Pflicht des volkswirtschaftlichen Studiums derjenigen Länder und Völker, die willig oder widerwillig in die zu erwartenden Umwälzungen der Staatengebilde hineingezogen wurden, erfordert es unbedingt, tiefe Verständigung über das ukrainische Problem zu erlangen und zu verbreiten.

Die europäische Länderkarte hat seit Jahrtausenden durch Kriegszüge von Ost nach West und von West nach Ost ungeheure Verschiebungen und Veränderungen zu dulden gehabt. Der Ukraine war es zudem noch vorbehalten, das Kampfobjekt von allen sie umgebenden Ländern der Windrose zu bilden. Nicht nur Tataren aus dem Osten, oder Polen aus Westen, sondern auch Schweden vom Norden und Türken vom Süden haben um dieses fruchtbare und mineralreiche Land gestritten. Die Politik der Ukrainer ist wohl nie so selbständig, so klar und energisch gewesen wie heute. Es erübrigt sich nach der vorstehenden Klarlegung der ukrainischen Geschichte alle Symptome der ukrainischen Politik in den vergangenen Jahrhunderten nochmals klarzulegen.


Wir möchten uns hier darauf beschränken, die ukrainische Frage mit den geschehenen und noch zu erwartenden Ereignissen des Weltkrieges in Einklang zu bringen. Die Ukrainer erstreben einen selbständigen Staat in den Grenzen zwischen Ungarn und Polen bis zum Don und Kaukasus. Schon durch den etwa beanspruchten Besitz der ruthenischen Gebietsteile Ostgaliziens würden große Schwierigkeiten entstehen; Galizien war stets ein Bollwerk gegen die unsere westeuropäische Kultur bedrohenden unzivilisierten östlichen Völker, in dem sich die meisten Kämpfe zwischen West- und Osteuropa abgespielt haben. Wenn auch der im 9. Jahrhundert gegründete Fürstenstaat Kijew im Laufe der Jahrzehnte in Handel, Literatur, Kunst und Wohlstand großen Aufschwung nahm, so wurde im 13. Jahrhundert diese ,Kultur von den Mongolen vernichtet. Die Mongolen zogen weiter durch Wolhynien nach Galizien und Ungarn. Sie fielen durch die ruthenische Pforte, das Quellgebiet des Stryjflusses in das Laborczatal ein. Der ukrainische Fürst Daniel und sein Sohn Leo, nach dem heute die Hauptstadt Galiziens Lemberg heißt, führten heftige Kämpfe gegen die Mongolen.

Nach dem Fall Konstantinopels entstand in der osmanischen Übermacht eine große Gefahr für Europa, wobei Galizien und die Ukraine die Schutzmauer gegen die tatarisch-osmanischen Einfälle bildete. Später war Galizien, wie heute, der Wall gegen das zum Zarenreich emporgewachsene Moskauer Großfürstentum, welches die Ukraine vernichtete, und das bis zum Schwarzen Meer vordrang. Im ersten türkisch-russischen Kriege 1767 — 1774 erscheinen die Russen bereits an den Dardanellen und bemächtigten sich Bessarabiens, der Walachei, der Moldau und eines Teiles Bulgariens. Nur von Österreich wurden sie behindert, diese Teile zu behalten. Darin liegt die Bedeutung Galiziens und seine Zusammengehörigkeit mit der Habsburgischen Monarchie. Durch die Teilung Polens kamen die Russen in die unmittelbare Nachbarschaft Österreich-Ungarns und der Balkanstaaten.

Russlands Ziel ist noch heute Konstantinopel. Zur Durchführung dieses Zieles gebrauchen sie als Rückendeckung Galizien und die Karpaten. Kaum war Galizien nach der Teilung Polens Österreich angegliedert, als auch schon die Wühlarbeit der Panslawisten einsetzte. In dem jetzigen Ringen um dieses Kronland tritt die große Bedeutung Galiziens für die österreichisch-ungarische Monarchie und letzten Endes für die gesamte europäische Kultur hervor.

Dieses Bollwerk für die Zukunft gegen Russland zu bilden, macht sich die Ukraine erbötig. Der Gedanke hat etwas Erhabenes: ein geknechtetes Volk, ein Land, in dem sich die Wurzeln des russischen wirtschaftlichen Lebens befinden, das ein Drittel der Brotfrucht, fünf Sechstel des Zuckers und ein Drittel des Fleisches als Nahrungsmittel für ganz Russland hervorbringt, und das nicht weniger als 70 Prozent der Kohlen und 64 Prozent russischen Roheisens produziert (nachdem sich das Dombrower Kohlenbecken in Polen in den Händen der Verbündeten befindet), würde durch seine Abtrennung von Russland den Lebensnerv dieses Kolosses tödlich treffen.

Die Ukraine als offener Feind Russlands, als Schutzwall zwischen Ost und West: dies ist es aber nicht allein, was die Ukrainer als Ziel ihrer Wünsche und ihres Sehnens betrachten. Gerade diese Kornkammer Europas, dieses Schwarzerdeland, dessen Kohle eine schnell aufblühende Industrie zu einem Faktor in den neuen Staatengebilden werden würde, liegt auf dem erstrebten Ziele deutscher Weltwirtschaftspolitik, an dem Wege Hamburg-Indischer Ozean.

Die ukrainischen Handelsbeziehungen mit den Türken waren schon vor Jahrhunderten bedeutend. Einstmals hat der Schwedenkönig Karl mit den verbündeten Ukrainern die Hilfe der Türken, wenn auch vergeblich, erstrebt.

Heute eröffnet sich der „Freien Ukraine“ der Weg der durch die türkischen Freunde gehüteten Dardanellen, die Seeverbindung mit dem Westen, allerdings nur ein kurzer Weg auf der Strecke deutscher Wirtschaftspolitik, dafür aber ein um so wertvollerer. Den Deutschen sind die Ukrainer nicht fremd. In ihren Häfen dominiert die deutsche Handelsflagge, deutsche Kolonisatoren haben im bäuerlichen Gewand die ersten eisernen Geräte für den landwirtschaftlichen Betrieb nach dem europäischen Süden Russlands gebracht. Der eiserne Pflug ist das erste Kulturinstrument auch in der Ukraine. Diese deutsch-ukrainischen Beziehungen sind neueren Datums, sie konnten sich im Zeitalter des Dampfes mühsam herausbilden, sind aber für die Zukunft einer „Freien Ukraine“ eine Gewähr für eine moralisch-politische Selbständigkeit, an der heute der oberflächliche, das heißt, der durch russische Brillen sehende Kenner dieses Landes noch zu zweifeln gewillt ist. Die Wege des Handels ebnen die Wege der Kultur. Wir zweifeln deshalb nicht daran, dass ein selbständiger ukrainischer Staat bei einer Fühlungnahme mit den Zentralmächten einer gesicherten Zukunft entgegengehen muss.

Auch ein anderes Land, den Ukrainern verwandt, liegt auf der Strecke Berlin-Bagdad. Auch dieses Land hat nach schwerstem Ringen, trotz sogenannter, schon lange dauernder Selbständigkeit, endlich die innere Kraft gefunden, sich von den nur noch unsichtbaren russischen Fesseln zu befreien: Bulgarien. Das Schicksal aller Balkanvölker ist dem der Ukraine aufs engste verwandt. Der Kampf um die Selbständigkeit auch dieser Völker wurde erschwert durch die wechselvollen politischen Bestrebungen größerer und stärkerer Völker. Wie die Türkenflut an den balkanischen Gebirgen brandete, so hat moskowitischer und Tataren-Ehrgeiz das Schicksal des osteuropäischen Tieflandes beherrscht. Erst die Sehnsucht nach Konstantinopel ließ die Russen auch auf die Balkanländer ihre unheilvolle Politik verbreiten. Mit einer freien Ukraine und dem geebneten Weg durch den Balkan zur Türkei ist nicht nur die russische Macht, sondern auch der englische Weltwahnsinn gebrochen.

Es kann nach dem hier Aufgeführten noch der Einwand gemacht werden, ob das ukrainische Volk denjenigen Lebensbedingungen entspricht, um als kultureller Faktor zu gelten und einen selbständigen Staat zu leiten. Gewiss sind die Erfahrungen, die die Weltgeschichte mit den Balkanstaatsgebilden gemacht hat, nicht gerade aneifernd, wo wir die Ukraine in Geschichte und Entwicklung mit den Balkanvölkern verglichen haben. Wohl haben die Serben und Bulgaren auch einen hohen Kulturstand im Mittelalter nachzuweisen, über die Vergangenheit Griechenlands gar nicht zu sprechen, wie auch aus anderen Gründen Rumänien ganz beiseite lassend, so hat der wechselseitige Charakter aller Balkanvölker bisher bewiesen, dass ein gesunder politischer Kern mehr oder weniger in ihnen vorhanden ist. Die garantierte, nicht aus sich heraus entwickelte Selbständigkeit der Balkanstaaten besteht seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, eine kurze Spanne Zeit der Entwicklungsmöglichkeit, die nicht mit der der Ukraine zu vergleichen ist, denn unseres Erachtens liegt die Entfaltung nationaler Kraft nicht nur in großer Zähigkeit und Lebensfähigkeit, sondern vor allen Dingen in dem Festhalten an der kulturellen Tradition, von der zum Beispiel Serbien und Bulgarien wenig bis in die Jetztzeit hinüberzubringen verstanden haben. Als dagegen im Jahre 1905 das Verbot der ukrainischen Literatur in Russland aufgehoben wurde, erschien eine imposante ukrainische Literatur, eine reiche politische und literarische Presse. Alles dies vermissen wir noch heute bei den Balkanstaaten, von denen es Bulgarien durch einen energievollen Führer und weisen Fürsten zur heutigen machtvollen und gesicherten Zukunftsstellung gebracht hat.

Wir glauben deshalb um so eher an die Möglichkeit und Lebensfähigkeit eines ukrainischen Staates, weil die Grundlagen für diesen selbständigen Staat bedeutend gesichertere als zum Beispiel: Bulgarien sind, und dass die heutige Zeit auch bedeutend leichtere Zukunftsmöglichkeiten für ein neues Staatengebilde bieten kann, weil der Weltkrieg und die dadurch verursachten Machtverschiebungen ein festeres Fundament für den Zukunftsstaat „Ukraine“ zu schaffen imstande sind.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Ukraine