Die Kultur der Ukraine.

Die ukrainische Kultur ist der russischen nicht gleichzustellen. Die erstere weist zahlreiche Züge auf, die nur ihr eigentümlich sind. Wenn dieselbe auch nicht hoch steht, und nicht mit westeuropäischem Maßstabe gemessen werden darf, weil das Bauernvolk fast durchweg aus Analphabeten besteht, so hindert dies natürlich nicht daran, dass es eine Fülle poetischer Überlieferung sein Eigen nennt. Man kann leicht in Erwägung ziehen, was an Kulturwerten der Dreißigjährige Krieg in Deutschland zerstört hat, um nur zu gut zu begreifen, wie die fast fünfhundert Jahre andauernde Tatarennot, die polnischen und russischen Kämpfe auf die kulturelle Entwicklung der Ukraine gewirkt haben muss. Nötzel und Rudnyckyj sind der gleichen Ansicht, dass die Kultur des ukrainischen Landvolkes die uralte Kultur eines reinen Ackerbauvolkes ist. Altes, vorchristliches Kulturgut liegt ihr zugrunde. An das angenommene griechische Christentum musste sich die alte heidnische Weltanschauung anpassen. Dazu kamen noch starke byzantinische Kultureinflüsse und einiges sickerte auch aus Westeuropa durch. Die ukrainische Kultur steht unvergleichlich höher als die russische, die erstere hat zudem große Massen von fremden Bauernansiedlern in der Ukraine einverleibt und ukrainisiert. Der Charakter der Siedlungen, Bauten, Trachten, Nahrung und Lebensweise des ukrainischen Landvolkes ist vollkommen dem Ackerbau angepasst und stellt es auf eine viel höhere Stufe als das russische Landvolk. Es ist deshalb kein Wunder, dass die ukrainischen Bauern mit russischen keine Mischehen eingehen und fast nie in einem Dorfe mit ihnen zusammenleben. Eine noch tiefere Kluft gräbt die geistlose Kultur, deren Reichtum die großartige mündliche Volksliteratur des ukrainischen Volkes widerspiegelt.

Wie sehr aber Russland bemüht war, die Literatur der Ukraine zu unterdrücken, beweist, dass bereits 1680 die gesamte kirchliche Literatur in ukrainischer Sprache verboten wurde, sogar 1720 erschien ein Verbot, ukrainische Bücher überhaupt zu drucken. Ukrainische Schulen wurden geschlossen. In der Mitte des 18. Jahrhunderts gab es zum Beispiel im Tschernygower Lande 866 Schulen, welche zur Zeit der Autonomie der Ukraine gegründet wurden, und sechzig Jahre später existierte keine einzige mehr! Hier und in der späteren Einführung der unverständlichen russischen Sprache in allen Schulen liegt die Ursache des schon erwähnten Analphabetismus in der Ukraine. Die ukrainische orthodoxe Kirche, welche in loser Abhängigkeit vom Konstantinopeler Patriarchen sich einer vollständigen Autonomie erfreute, wurde dem Moskauer Patriarchen, dann der heiligen Synode unterstellt und ganz russifiziert. Der griechisch-unierte Glaube, welcher in der westlichen Ukraine viele Anhänger hatte, wurde von der russischen Regierung vollkommen unterdrückt und seine sämtlichen Anhänger durch furchtbare Verfolgungen genötigt, zum orthodoxen Glauben „zurückzukehren“. Das ukrainische Volk wurde seiner gewesenen Nationalkirche, die nun zu einem Werkzeug der Russifizierung herabgesunken ist, entfremdet und dadurch die Bildung der sogenannten Stunda, einer baptistischen Sekte, in der Ukraine gefördert. —


Die hochstehenden Sitten und Gebräuche, die Volksmusik und Volkskunst, besonders die Ornamentik, das tolerante, tiefgehende religiöse Gefühl, das Eigenwesen des Familienlebens, die Höherstellung der Frau, zeichnen den ukrainischen Bauern sehr vorteilhaft gegenüber seinem russischen Nachbar aus. Man kann also, ohne fehlzugehen, annehmen, sagt Rudnyckyj, dass das begabte Ukrainervolk ein vorzügliches Material für eine große Kulturentwicklung abgibt. Auf der breiten Grundlage der Volkskultur wird seit einem Jahrhundert die Kultur der ukrainischen Intelligenz aufgebaut; sie hat vorher lange zwischen polnischen und russischen Einflüssen geschwankt, hat aber zuletzt selbständige Bahnen eingeschlagen, um mit Hilfe der westeuropäischen Kultureinflüsse der ukrainischen Nation zu einer Vollkultur zu verhelfen. Für die Russen bedeutet aber jeder Fortschritt des ukrainischen Gedankens die schwerste Gefahr.

Nach Cehelskyj entfallen die Anfänge der ukrainischen Literatur auf das 9. Jahrhundert nach Christo. Die älteste Periode kam im 11. bis 14. Jahrhundert zur Blüte, worauf infolge der Mongoleninvasion und der dauernden Verheerungen ein Verfall der Literatur erfolgte. In dieser ältesten Periode („Fürstenreichperiode“) sind die byzantinisch-bulgarischen Einflüsse stark; zur literarischen Sprache ist eine Mischung des Altukrainischen mit dem Kirchenslawischen (Altbulgarischen) geworden. Die älteste Blütenperiode, die solche Meisterwerke wie „Das Lied vom Feldzug des Fürsten Ihor" hervorbrachte, wurde von der russischen offiziösen Wissenschaft zugunsten der russischen Literaturgeschichte eskamotiert aus dem unhaltbaren Grund, dass die literarische Sprache dieser Periode nachher nach Moskowien verpflanzt wurde und nach ihrer Vermischung mit den russischen Elementen den Russen die Literatursprache schenkte, welche bis Ende des 18. Jahrhunderts in Moskowien in der Literatur vorherrschend war, bis sie von dem echtrussischen Idiom zurückgedrängt wurde. Dieser Grund ist aber gar nicht ausreichend, um die ausschließlich von den Altukrainern (Altruthenen) geschaffene Literatur als eine Vorläuferin der russischen — mit der sie in keinem organischen Zusammenhang steht — anzusehen. Nach dem Verfall der ukrainischen Literatur im 15. Jahrhundert und unter dem scholastisch-lateinischen und polnischen Einfluss wird die literarische Sprache auch durch polnisch-lateinische Elemente verunreinigt. Im 18. Jahrhundert beginnt eine entschiedene Nationalisierung der literarischen Sprache, wonach Peter Kotlarewskyj aus Poltawa die neuukrainische Literaturperiode durch Einführung der reinen Volkssprache beginnt. Die neue Periode hat der Ukraine den genialen Dichter Taras Schewtschenko und eine ganze Plejade von Dichtern, Dramaturgen (Kulisch, Fedjkowytsch, Tranko, Lesja Ukrainka, Kocjubynskyj, Karpenko Karyj usw.) sowie auch Gelehrte (Ohonowskyj, Kostomariw, Antonowytsch, Drahomanow, Hruschewskyj, Potabnia) gegeben. — Wir kommen demnach zu folgender Überzeugung: Die ukrainische Kultur mit einer großartigen Volksdichtung, einer bedeutenden, acht Jahrhunderte alten Nationalliteratur und einer aufblühenden wissenschaftlichen Literatur umfasst alle Zweige des menschlichen Wissens. Die ukrainische Volkskultur, auf vorchristlichem Kulturgut und byzantinischen Einflüssen fußend, ist trotz jahrhundertelanger Knechtschaft noch heute höher und reicher als die russische und sogar die polnische und dabei von beiden grundverschieden. Die wichtigsten Selbständigkeitsmerkmale verleihen der ukrainischen Nation ihre Vergangenheit und die darauf fußenden historischen Traditionen und politischen Bestrebungen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Ukraine