Das Schwarze Meer-Gebiet. Handel, Industrie und Volkswirtschaft.

Wie sehr Russland unter dem riesenhaften Verluste der Ukraine leiden würde, zeigt ein Vergleich über die Weizenausfuhr Russlands durch die Dardanellen nach dem statistischen Jahrbuch des „Price Current-Grain Reporter" des Jahres 1914 (Endtermin 31. Juli 1914) mit derjenigen vom 31. Juli 1914 bis 8. Mai 1915 unter Berücksichtigung der übrigen Weltgetreideausfuhrgebiete, die folgende Mengen in Bushels exportieren (1 Bushel = 1 Scheffel zu 8 Gallonen = 36 ½ Liter):

1914 1915
Amerika 283.680.000 389.955.000
Russland 173.704 000 12.064.000
Balkanländer 61.072.000 2.475.000
Indien 29.608.000 17.061.000
Argentinien 44.088.000 68.534.000
Australien 66.032.000 8.568.000
Verschiedene Länder 7.040.000 6.212.000
Alle Länder 665.224.000 504.869.000


Man erkennt aus diesen Ziffern, welche außerordentliche Bedeutung für den Weltmarkt der Ausfall der Ausfuhr aus Russland und den Balkanländern gehabt hat, welche im Jahre 1915 nur 14,4 Millionen Bushels statt 234,7 Millionen Bushels exportierten. Dieser Ausfall, der sich noch durch den Fortfall der australischen Exporte verschärfte, wurde in erster Linie durch die Weizenausfuhr der Vereinigten Staaten von Amerika, Kanadas und Argentiniens, durch das letztgenannte Land jedoch nur in vergleichsweise geringem Maße, wett gemacht. Man kann wohl sagen, dass Amerika einerseits und Russland und die Balkanstaaten andererseits die großen Gebietskomplexe darstellen, von deren Export die Gestaltung des Weltgetreidemarktes fundamental abhängt. Die anderen in Frage kommenden Gebiete, wie Indien, Argentinien, Australien, können, wie man schon aus dem Verhältnis der Exporte dieser Länder in Friedenszeiten zu der Exportziffer der großen Getreideexportgebiete erkennen kann, die Waagschalen des Weltgetreidemarktes nach unten oder nach oben nur in sekundärer Weise beeinflussen. Es bleibt also für die weitere Ausgestaltung des Weltgetreidemarktes im Kriege die Behinderung der russischen Getreideausfuhr von weittragender Bedeutung. Die Schließung der Ostsee und die Dardanellensperre sind die eigentliche Ursache für die Getreideteuerung auf dem Weltmarkte, die dann noch freilich durch die hohen Fracht- und Versicherungsraten für die beziehenden Länder eine wesentliche Verschärfung erfährt. Es muss recht fraglich erscheinen, ob die Vereinigten Staaten und Kanada auch in dem kommenden Welterntejahr imstande sein werden, das Defizit der Weltgetreideversorgung, welches durch den Fortfall der russischen Ausfuhr entstanden ist, zu decken, zumal nach wie vor die Annahme nicht von der Hand zu weisen ist, dass die außerordentliche Steigerung der amerikanischen Exporte zum Teil nur dadurch ermöglicht werden konnte, dass Amerika in diesem Jahre mit einer geringeren Reserve, als es sonst üblich ist, in das neue Erntejahr hineingeht. Man ist sich auch in Amerika, das ja an hohen Weizenpreisen lebhaft interessiert ist, wohl bewusst, dass eine nennenswerte Weizenbaisse nicht zu erwarten ist, solange die Dardanellen geschlossen bleiben. Die Fachblätter des Getreidemarktes beschäftigen sich daher dauernd mit der Dardanellenfrage. „Der Kampf um die Dardanellen“ so schrieb (nach der „Post“) am 2. Juni 1915 der in Chicago erscheinende „Price Current-Grain Reporter“, „macht wohl einige Fortschritte, aber die Öffnung der Meerengen braucht im Augenblick nicht befürchtet zu werden." Wenn sich, wie ja in Deutschland mit voller Zuversicht erwartet werden kann, diese Annahme bestätigt, so wird also für England eine wesentliche Verbesserung der Mengen und Preise der Weizeneinfuhr in kommender Zeit nicht stattfinden, vor allem, wenn unsere U-Boote weiter dazu beitragen, die Zufuhr nach England zu erschweren, gefahrvoll zu machen und dadurch zu verteuern. In dem Maße aber, wie die Teuerung in England weittragende Wirkungen innerpolitischer Art nach sich zieht und die Widerstandskraft Englands langsam, aber sicher schwächen muss, bleibt die Frage der russischen Getreideausfuhr und der Schließung der Dardanellen für unsere weiteren Erfolge im Weltkrieg von größter Bedeutung.

Schon jetzt sind große Verschiebungen in der Getreideausfuhr der einzelnen Länder entstanden, deren Bedeutung durch einen russischen Verlust der Ukraine dauernd bleiben würden. Für eine selbständige Ukraine könnten diese aber nur von Vorteil sein.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Ukraine