Das Ländergebiet der Ukraine. Volk und Sprache

Von den 680.000 Quadratkilometern des Gebietes der Ukraine entfallen 75.000 Quadratkilometer auf Ostgalizien. Das Gesamtgebiet ist um 150.000 Quadratkilometer größer als das Gebiet des Balkans mit allen seinen Staaten und ungefähr in der gleichen Größe wie das Staatsgebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die Bevölkerung der Balkanhalbinsel ist ebenfalls geringer als diejenige der Ukraine; sie betrug nach der Volkszählung von 1900 21.464.787 Einwohner, demnach rund 10 Millionen weniger als die Bevölkerung des ukrainischen Volkes im selben Jahre nach der russischen Nationalitäten-Statistik aufwies, die gewiss nicht besonders günstig für die Ukrainer zusammengestellt ist.

Über die geographische Ausdehnung dieses Landes sind allerdings die Meinungen verschieden. Ethnographisch genommen erstrecken sich die Gebiete vom Narew über den größten Teil Ostgaliziens und der Donaumündung bis zum Kaukasus, und nördlich läuft die Grenze vom Narew durch die Polissje-Sümpfe bis zum Don und dessen Nebenfluss Choper, östlich vom Choper bis Rostow und das Kuban-Gebiet bis zum Terek-Gebiet. Nach Cleinow umfasst die russische Ukraine etwa ein Fünftel des europäischen Russlands. Denkt man sich die Halbinsel Krim fort, deren nördliche Hälfte auch ukrainisch ist, und die schon mehr als achthundert Kilometer Küste hat, so hat das ukrainische Festland eine Meeresküste von mehr als tausend Kilometer, die mit dem Inland durch die drei Stromsysteme des Dnjestr, Dnjepr und Don, und acht Flüsse: den Tiligul, Bug, Ingul, Ingulez, Donez, Manytsch, Jega und Kuban verbunden ist. Ein Mangel dieser Küste ist die Steilheit ihrer Ufer und das Fehlen brauchbarer natürlicher Häfen; vermindert wird ferner der in ihrer Länge liegende weltwirtschaftliche Wert durch den Umstand, dass das Schwarze Meer nur einen schmalen Ausgang hat. Rudnyckyi sagt, dass die Ukraine keineswegs ein nur ethnographischer Begriff ist, wie es die offizielle und die nationalistische russische Auffassung der Welt predigt, sondern ein wohlumgrenzter geographischer Begriff, der sich mit unserer obigen Auffassung deckt. Rudnyckyi bemerkt dann weiter, dass die Ukraine auch eine ganz dem übrigen Russland gegenüber andere geologische Geschichte hat, ferner einen anderen tektonischen Charakter, wegen der Anlehnung an den Faltungsgebirgsgürtel Südeuropas und der damit verbundenen tektonischen Störungen des Vorlandes. Die einheitliche Plattengruppe des ukrainischen (asowschen) Horstes mit ihren Tieflandsäumen, das im Pontus konzentrierte Flussnetz, das eigenartige Klima, der eigenartige pflanzengeographische Charakter bedingt im Vergleiche mit den anderen westeuropäischen Landschaften die physisch-geographische Einheit und Selbständigkeit der Ukraine. Als anthropogeographische Einheit bietet die Ukraine ein noch prägnanteres Bild: „Ukrainer bleibt überall Ukrainer“, sagt ein russisches Sprichwort. Damit wird der eigenartige Charakter wiedergegeben, welcher dem Lande von dem dasselbe bewohnenden ukrainischen Volke verliehen wird. Die Ukraine wird nicht nur von einem eigenartigen, von den Russen verschiedenen Volksstamm bewohnt, sondern hat auch eine geschichtliche Vergangenheit gehabt, die von derjenigen des eigentlichen Russland vollkommen verschieden ist. Das eigentliche Russland und die Ukraine sind voneinander mehr verschieden als Polen und Böhmen, Schweden und Norwegen.


Nach der Auffassung Nötzels umfasst dagegen das Gebiet der Ukraine die Länder vom Schwarzen Meere bis in das Becken des Baltischen Meeres, also zwischen dem 38. und 59. Grad östlicher Länge und dem 45. und 53. Grad nördlicher Breite mit einem Areal von 750.000 Quadratkilometern. Nach seiner Ansicht reicht die Ukraine bis weit nach Weißrussland, etwa bis Minsk und Smolensk hinein. Wenn wir nun diese ukrainischen Kolonien miteinbeziehen, so umfasst das ukrainische Territorium in Russland folgende Gouvernements:

Wolhynien: mitsamt den benachbarten Teilen von
Lublin, Siedlce, Grodno und Minsk = 3.920.000 Einwohner, 70% Ukrainer.
Podolien: samt Teilen von Bessarabien = 2.812.000 Einwohner, 81% Ukrainer.
Kijew: 4.604.000 Einwohner, 79% Ukrainer.
Chersson: 3.496.000 Einwohner, 54% Ukrainer.
Tschernigow: 3.031.000 Einwohner, 86% Ukrainer.
Poltawa: 3.626.000 Einwohner, 98% Ukrainer.
Charkow : samt den benachbarten Teilen von Kursk,
Woronesh, Dongebiet, Jekaterinoslaw: 3.138. 000 Einwohner, 69% Ukrainer.
Taurien: 1.921.000 Einwohner, 42% Ukrainer.
Kuban: samt benachbarten Teilen von Stawropol,
Terek- und Schwarze Meerdistrikt: 2.731.000 Einwohner, 47% Ukrainer.

Anthropologisch gehören nach Rudnyckyi die Ukrainer der adriatischen Rasse, die Russen und Polen den miteinander verwandten Orientalen, beziehungsweise der Weichselrasse an. Ein großer Teil mag zwar unter den Russen aufgegangen sein, aber trotzdem kommt ihnen eine ethnographische Selbständigkeit ebensogut zu, wie den Polen, Tschechen, Bulgaren oder Serben. Es ist den Ukrainern aber nicht im Laufe der historischen Entwicklung gelungen, sich als Volkseinheit durchzusetzen. Die ethnographische Selbständigkeit wird den Ukrainern von zwei Seiten her bestritten, sowohl von den Russen als auch von den Polen (nicht von den Österreichern). Man behauptet, dass es keine Ukrainer gibt, und die Polen fügen dem noch hinzu, dass das ukrainische Landvolk in Wirklichkeit nur ein Teil der polnischen Bauernwirtschaft ist. Die Russen behaupten, dass die Ukrainer Kleinrussen seien, die sich nur durch den Dialekt von den übrigen Kleinrussen unterscheiden. Beides trifft, neueren Forschungen zufolge, nicht zu. Wenn auch die Ukrainer eine Mischrasse sind, so ist diese Mischung von der polnischen und russischen sehr verschieden. Die anthropologische Verwandtschaft ist in Bezug auf Wuchs, Brustumfang, Arm- und Beinlänge, Schädel und Nasenindex und Gesichtsbreite nicht erweisbar. Auch die bei den Russen sehr starken mongolischen Einflüsse fehlen vollständig bei den Ukrainern. Dagegen ist die anthropologische Verwandtschaft zwischen Russen und Polen längst nachgewiesen.

Ebenso ist die Sprache weder ein polnischer noch ein russischer Dialekt. Selbst die St. Petersburger Akademie konnte 1905 nicht bestreiten, dass die russische und ukrainische zwei ganz verschiedene Sprachen sind. Die ukrainische ist eine selbständige slawische Sprache mit einer großartigen Volksdichtung, einer bedeutenden, acht Jahrhunderte alten Nationalliteratur und einer aufblühenden wissenschaftlichen Literatur, welche alle Zweige des menschlichen Wissens umfasst.

Cleinow bringt ferner ein klares Licht über den Streitpunkt der moskowitisch-ukrainischen Gegensätze, die darin liegen, dass sich die Moskowiter als das überlegene Herrenvolk hinstellen, das sich eben deshalb und um der nationalen Einheit willen berechtigt fühlt, gegen die ukrainische Sprache einen Ausrottungskampf zu führen. Der Ukrainer M. Shutschenko kennzeichnet die Lage 1911 wie folgt: Die national-kulturelle Bewegung der Ukraine ist von der Regierung als separatistisch und daher als staatsgefährlich bezeichnet und durch eine Reihe von Zirkularen und Verordnungen tatsächlich außerhalb des Gesetzes gestellt worden. Infolgedessen wurde die Auflösung aller bescheidenen Errungenschaften auf dem Gebiete der Kultur und Bildung seit 1905 bis 1906 fortgesetzt. Die Abneigung des verstorbenen Stolypin gegen das Ukrainertum, die in seiner Unterredung mit den Vertretern der Kijewer Nationalisten am verhängnisvollen 1. September ihren Ausdruck fand, ist bekannt. In Anbetracht dieses genügt es zu erwähnen, dass die „Nowoje Wremja" forderte, alle Ukrainer vor Gericht zu stellen, da diese nicht mehr und nicht weniger als einen bewaffneten Aufstand und eine Losreißung der Ukraine von Russland vorbereiteten . . .

Der jetzige Krieg im Osten Europas geht analog neben den ukrainisch-moskowitischen Kämpfen; um eine neue Kräfteverteilung auf dem Gebiete von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Eine glänzende Beurteilung über die Gebietsansprüche des ukrainischen Zukunftsstaates und seine Lebensfähigkeit finden wir in folgenden Äußerungen Cleinows:

Wollte irgendeine politische Macht die Wünsche derjenigen Kreise voll befriedigen, die in Deutschland als Ukrainophilen schlechthin bekannt sind, so müsste sie den Ukrainern etwa ein Fünftel des europäischen Russland, zwei Drittel Galiziens und ein Fünftel Ungarns staatlich sicherstellen.

Vorausgesetzt nun, dass die Ukrainer dies ganze Gebiet wirklich auch ethnographisch bedeckt haben, tritt die wichtige Frage in ihre Rechte, ob eine Ukraine in dem gekennzeichneten Umfang auch ein politisch lebensfähiges Gebilde abgäbe, ein Staatswesen, das nicht beim ersten Versuch wieder dem feindlichen Nachbarn oder Usurpator unterläge. Ein Staat ist im Zeitalter der Weltwirtschaft nur lebensfähig, wenn sein Territorium, enthielte es auch die größten Reichtümer, bei einer gewissen wirtschafts- und verkehrsgeographischen Geschlossenheit eine ungehinderte Verbindung zu den Straßen des Weltverkehrs und zu seinen Absatzmärkten besitzt, wenn seine Bevölkerung genügend große Wirtschaftsenergien zu entwickeln vermag, um die Schätze des Landes zu heben und gegen entsprechende Einfuhrwerte vorteilhaft einzutauschen, einen genügend großen Eigenverbrauch hat, und wenn schließlich die soziale Struktur des Volkes ein planmäßiges Zusammenwirken aller Volkskräfte nach innen und außen möglich macht. — Der Bildung einer mehr oder minder selbständigen Ukraine steht der moskowitisch-petrograder Staatsgedanke entgegen. Seit tausend Jahren, als Kijew noch den Schwerpunkt Russlands bildete, haben sich alle Verhältnisse nach und nach zugunsten Moskaus verschoben. Und als im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die Ukraine durch den inneren Zerfall des polnisch-litauischen Reiches gleich diesem zwischen Moskau und die aufstrebenden Staaten Mitteleuropas gestellt ward, wurde sie vom Westen abgelöst und an das neue Russland Peters des Großen gedrängt, das alle Gewähr für die nationale Selbständigkeit zu bieten schien. Für den heutigen russischen Staat würde die Rückentwicklung von einem stark zentralisierten Nationalstaat zu einem Nationalitätenstaat eine nicht zu unterschätzende Gefahr bedeuten. Nicht so für ein liberales und friedliebendes Russentum. Diesem bedeutete es die Schöpfung einer neuen nationalen Kraftquelle, mit deren Hilfe die Ostslawen eine bisher ungeahnte Rolle unter den Weltvölkern spielen könnten. Und hiermit sowie durch ihre wirtschaftspolitische Seite im Rahmen des großrussischen Wirtschaftsgebietes bekommt die ukrainische Frage auch eine Bedeutung für die mitteleuropäischen Staaten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Ukraine