Aus der Geschichte der Ukraine

Die Ukraine war bis zur zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts in allen ihren Gebieten, bis zur Vereinigung Litauens mit Polen im Jahre 1569, im überwiegenden Teile unabhängig. Von diesem Zeitpunkt ab begannen für die Ukrainer bis auf den heutigen Tag mehr oder weniger unruhige Zeiten. Vor allem stets bedrängt und bedroht vom Westen, Norden und Osten. Die Moskowiter ließen es sich besonders angelegen sein, die ukrainischen Selbständigkeitsbestrebungen zu stören, denn durch die Ukraine allein wurde der moskowitische Staat Iwans III. zur europäischen Großmacht, ohne Ukraine musste er zu einem einflusslosen Staate zweiten Grades zusammenschrumpfen. Es sind deshalb die heutigen Bestrebungen der Ukrainer verständlich, sich von Russland loszulösen, denn nur im Kampfe gegen Russland kann die freie Ukraine entstehen, deren Entwicklung nur außerhalb Russlands möglich ist.

Wir entnehmen aus den Schriften Rudnyckyjs und Hruschewskyjs folgendes über die Geschichte der Ukraine: Der erstere sagt, dass das alte Kijewer Reich, welches in allen Geschichtsbüchern als altrussisch bezeichnet wird, in Wirklichkeit eine staatliche Organisation der südlichen Slawenstämme Osteuropas war, der Vorfahren der heutigen Ukrainer. Der Staat von Kijew bestand bereits im 9. Jahrhundert, entwickelte sich mit Hilfe normannischer Söldnerscharen im 10. Jahrhundert bedeutend und unterjochte die nördlichen Slawenstämme, die Vorfahren der heutigen Russen. Die Nomadenvölker der Steppe wurden zurückgedrängt und mit dem byzantinischen Reich wurden rege Handels- und Kulturbeziehungen eingegangen. 988 nahm der Kijewer Großfürst, Wladimir der Große, samt seinem Volk das griechische Christentum mit slawischem Ritus von Konstantinopel an. Dass der alte Kijewer Staat ein Werk der alten Ukrainer war, ergibt sich aus den alten Literaturdenkmälern Kijews, die deutliche ukrainische Spracheigentümlichkeiten aufweisen, aber auch aus der Staatsverfassung. Die Macht des Großfürsten war durch den Einfluss seiner Gefolgschaft, aus der später der Bojarenadel hervorging, sowie durch die Generalversammlung aller Freien beschränkt. Es gab stets heftige Kämpfe um die Macht zwischen dem Großfürsten und diesen beiden, die dem Kijewer Reiche verhängnisvoll werden sollten. Es kam zur Bildung zahlreicher Teilfürstentümer, welche unter einer beinahe nominellen Oberhoheit des Kijewer Großfürsten standen, von den Bojaren und dem Volk aber sehr begünstigt wurden.


Im Norden lagen die Verhältnisse ganz anders. In den Teilfürstentümern an der Oka und Moskau stammte nur die Dynastie aus Kijew, das Volk aus einer Mischung der nördlichen ostslawischen Stämme und der finnisch-mongolischen Urbevölkerung. Aus dieser Mischung begann sich die russische Nation zu bilden. Der vom ukrainischen vollkommen verschiedene Volksgeist erlaubte den russischen Teilfürsten bereits im 12. Jahrhundert die Macht des Adels niederzukämpfen und eine absolutistische Regierungsform einzuführen. Es entstand da der wirkliche Kern des heutigen russischen Reiches.

Das junge russische Reich, dessen Zentrum zuerst Wladimir dann Moskau war, führte bald blutige Kriege mit Kijew, das derart geschwächt wurde, dass sich das Zentrum des politischen Lebens der alten Ukraine im 13. Jahrhundert nach Halitsch am Dnjestr verschieben musste. Ferner wurde das alte Kijewer Reich durch fortwährende Einfälle kriegerischer Nomadenhorden derart beunruhigt, dass es den Heeren des Mongolenkaisers Dschingiskhan gelang, in der Schlacht an der Kalka 1224 das Kijewer Heer zu vernichten und 1240 die Stadt Kijew dem Erdboden gleich zu machen. Das Fürstentum Halitsch hielt sich noch beinahe ein Jahrhundert lang, konnte aber den Tataren einerseits, den Polen und Litauern andererseits nicht standhalten. 1340 fiel Halitsch durch Erbschaft an Polen, und die erste Staatsbildung des ukrainischen Volkes ging damit zugrunde. Der polnisch-litauische Staat behandelte die Ukrainer als erobertes Land. Die Adligen wurden ihrer Rechte beeinträchtigt, die Bürger unterdrückt und die Bauern zu Leibeigenen gemacht. Es entstanden mehrere Aufstände gegen die Polen, aber auch gegen die immer wiederkehrenden Tatareneinfälle hatte sich die Ukraine selbst zu schützen, da das polnische Reich sich hierzu zu schwach erwies. Es kam für die schwer geprüfte Nation zur Selbstverteidigung durch Gründung einer neuen Staatsbildung, die aber die Kräfte der Nation erschöpfte und ein tragisches Ende nahm. Die Grenzbevölkerung führte ein gefährliches Leben, griff zur Selbstbewaffnung der Bauern, Jäger und Fischer, die sich Kosaken nannten, das heißt freie Krieger. Im 16. Jahrhundert bildete sich aus diesen ukrainischen Kosaken eine militärstaatliche Organisation, die eine auf vollkommene Freiheit und Gleichheit begründete Republik war. Das ganze ukrainische Volk sah in diesen Kosaken seine natürlichen Verteidiger gegen Tatarennot und polnische Unterdrückung. Die Führer der Kosaken hießen Hetman.

Im Jahre 1648 erhoben sich die ukrainischen Kosaken endlich mit dem gesamten ukrainischen Volk unter Führung Bohdan Chmelnyzkyjs, die polnischen Armeen wurden vernichtet und die Ukraine bekam nach 300 Jahren wieder eine unabhängige staatliche Organisation. Damit der neue Staat Ruhe habe, und sich entwickeln könne, unterhandelte Chmelnyzkyj mit Polen, Siebenbürgern, Schweden und Türken und schloss 1654 mit dem glaubensverwandten Russland den Vertrag von Perejaslav ab. Auf Grund dieses Vertrages behielt die Ukraine eine vollkommene Autonomie und ihre militärische Kosakenverfassung unter Lehnsherrschaft des Zaren. Aber Russland war nicht gesonnen, den Vertrag, welcher die Kriegsmacht der Ukraine zu seinem Bundesgenossen machte, zu halten. Die demokratische Staatsidee war für Russland ein Gräuel. Mit allen Mitteln versuchte es die ihm gefährliche Organisation zu vernichten, wobei ihm der frühe Tod Chmelnyzkyjs (1657) und die Unfähigkeit seiner nächsten Nachfolger zu Hilfe kam. Die Kosaken wurden gegen ihre Vorgesetzten, das gemeine Volk gegen die Reichen aufgehetzt, Russland operierte mit Landverleihungen und großen Geldsummen. Bei jeder Neuwahl eines Hetmans, des Kosakenführers, wurde die Autonomie beschnitten und das Land im Frieden von Andrussow (mit Polen 1667) in zwei Teile zerschnitten. Die furchtbar verwüstete und entvölkerte rechtsseitige Ukraine wurde an Polen abgetreten, die linksseitige fiel an Russland. Zur Zeit des großen nordischen Krieges versuchte der geniale Hetman Masepa das russische Joch abzuwerfen. Er verbündete sich mit dem Schwedenkönig Karl XII. Aber die Schlacht bei Poltawa 1709 vernichtete seine Hoffnungen, er musste mit Karl XII. in die Türkei fliehen, der ukrainische Aufstand wurde von Peter dem Großen unter furchtbaren Grausamkeiten unterdrückt und die Autonomie aufgehoben. Zwar wurde nach Peters Tode die Hetmanswürde erneuert, diese führte aber nur eine Scheinexistenz. Die Saporoger Ssitsch, das letzte Bollwerk der Ukraine, wurde 1775 von den Russen durch Verrat eingenommen und zerstört. Der Rest der Saporoger wurde später am Kuban in den Kaukasusländern angesiedelt; die Kuban-Kosaken sind das einzige Kosakenheer Russlands ukrainischer Nationalität.

So wurde der neue ukrainische Staat in nicht ganz 1 1/2 Jahrhunderten durch Russland vollkommen zerstört, wie die gleichzeitig andauernde Wühlarbeit in Polen auch diesem Staate ein Ende bereitet. In den Teilungen Polens 1772—1795 kam das ganze ukrainische Gebiet, mit Ausnahme Ostgaliziens und der Bukowina, die an Österreich fielen, unter die Herrschaft Russlands. —

Das Los der russischen Ukraine seit dieser Zeit, sagt Cehelskyj, ist ohne Vergleich schwerer als das der österreichischen, da der Absolutismus und der Zarismus jede nationale Bewegung in Russland paralysieren. Der größte Dichter der Ukraine, Taras Schewtschenko, und, seine Genossen aus der sogenannten „Cyrill-Methodius-Gesellschaft“ (das fünfte Dezennium des vorigen Jahrhunderts) haben ihre Träume von einem selbständigen ukrainischen Staat mit Verbannung nach Turkestan, Uralgebiet und Archangelsk büßen müssen. Die liberale Richtung des siebenten Dezenniums des vorigen Jahrhunderts hat dem russischen Ukrainertum neue Hoffnungen geöffnet, allein die Zarenukase vom Jahre 1866 und 1876, die jedes gedruckte ukrainische Wort untersagt hatten, ließen alle Hoffnungen schwinden. Die ukrainischen politischen Emigranten (Drahomanow und Genossen) übertragen ihre Tätigkeit nach Genf und Lemberg, die ukrainische Literatur findet in Galizien ihre Zuflucht, und die russische Ukraine verfällt neuerlich in einen Lethargiezustand, indem sie ihre regsamsten Kräfte den russischen revolutionären Organisationen zuführt. Erst der breite Revolutionsstrom um die Jahrhundertwende hat das Ukrainertum in Russland neuerdings geweckt, indem er in der russischen Ukraine eine „unterirdische“ Organisation der „Ukrainischen revolutionären Partei“ ins Leben rief. In der Zeit der russischen Revolution hat sich auch das Ukrainertum betätigt. Mit den Jahren 1905—1906 beginnt dasselbe eine politische Massenbewegung zu werden, über die wir in dem Abschnitt „Das ukrainische Problem" schon berichtet haben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Ukraine