Die Ukraine in ihrer geschichtlichen Bedeutung. Von Prof. Dr. Stübe.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 52. 1917
Autor: Stübe, K. Dr. () Professor, Erscheinungsjahr: 1917

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Ukraine, Russland, Schwarzes Meer, Kuban, Don, Tschernigow, Kiew, Charkow, Poltawa, Podolien, Kaukasus,
Seit Beginn des Krieges ist auch weitesten Kreisen der Name der Ukraine bekannt. Vorher kannten ihn auch die Gebildeten nur in seltenen Fällen; selbst in der 268. Auflage eines verbreiteten geographischen Lehrbuches stehen noch falsche Angaben. Auch bei denen, die sich um die politischen Fragen kümmern, die sich an die Ukraine knüpfen, findet man oft keine klare Anschauung von den Dingen, um die es sich hier handelt. Im Wesentlichen umfasst die Ukraine ein Gebiet von 700.000 Quadratkilometer, das zwischen dem Schwarzen Meere und dem Pripetfluss liegt und von den Karpaten bis an den Don und Kuban reicht. Die Zahl der kleinrussischen Bewohner beträgt 30 bis 32 Millionen. Freilich ist die Bevölkerung überall gemischt, im Norden mit Polen, im Osten mit Russen, im Süden mit Rumänen, Deutschen, Juden, Armeniern und anderen Völkern. Das Kernland bilden die russischen Gouvernements Tschernigow, Kiew, Charkow, Poltawa und Podolien. Hier machen die Ukrainer 70 bis 98 vom Hundert der Bevölkerung aus, von hier haben sie sich bis Galizien und Ungarn und über den Don bis an den Kaukasus ausgebreitet.

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Was heißt zunächst Ukraine? Es ist ein altrussisches Wort (ukraina), das „Grenze“ bedeutet. Der Süden Russlands, das Gebiet der Steppe, ist zu allen Zeiten das Durchgangsland gewesen, durch das oft barbarische Nomadenvölker aus Asien in Europa einfielen. Nordwärts dehnt sich das Land der „schwarzen Erde“, das fruchtbare Ackerland, wo sich zuerst feste Kulturverhältnisse durch Ackerbau, Sesshaftigkeit und staatliche Ordnung bildeten. Zum Schutz dieses Kulturlandes entstand eine Grenzzone, in der ein wehrhaftes Bauernvolk saß. Heute hat sich der Name Ukraine über ein Gebiet ausgedehnt, das von diesem Bauernvolke, den sogenannten „Kleinrussen“, bewohnt ist. Sie haben nach Süden die Steppe besiedelt und sich ostwärts, wenn auch in weniger dichter Siedlung, bis an den Kaukasus ausgebreitet. Unser täglich Brot gib uns heute. In Russland, wo wissenschaftliche Erkenntnisse oft polizeilicher Genehmigung bedürfen, wird bis heute amtlich nicht anerkannt, dass die Ukrainer ein besonderes Volk sind. Sie sollen nur ein Stamm der Russen sein und einen russischen Dialekt reden. Indes hat sowohl die Untersuchung ihrer körperlichen Eigenart wie ihrer Sprache zweifellos festgestellt, dass die Ukrainer körperlich und geistig von den Russen wesentlich verschieden sind. Schließlich hat sogar die Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg 1905 diese Tatsache in einem amtlichen Gutachten anerkannt. Aber solche wissenschaftliche Ehrlichkeit ist in Russland selten und — hat auf die Regierung keinen Einfluss. Die Ukrainer haben das Recht, sich als eigene Nation zu fühlen, sie sind ein verhältnismäßig reines Volk von ausgeprägter Eigenart.

Auch geschichtlich bilden die Ukrainer ein altes und ehemals selbständiges Ganze. Sie haben ein eigenes Reich geschaffen, den ältesten Staat von bleibender Bedeutung in Osteuropa. Im 9. Jahrhundert errichteten aus Schweden eingedrungene germanische Eroberer, denen der Name Rus oder Ros beigelegt wurde, einen großen Staat am Dnjepr, dessen Hauptstadt Kiew wurde. Dieses alte Großfürstentum Kiew, indem die germanischen Eroberer früh mit der slawischen Volksmasse verschmolzen, ist 1240 von den Mongolen zerstört worden, die bis gegen 1500 ganz Russland beherrschten. Nur im Westen erhielt sich ein Rest des alten Staates von Kiew, das Gebiet zwischen Dnjepr und Karpathen, das nach seiner Hauptstadt Halisz den Namen Galizien erhielt. Aber dieser Staat war zwischen Polen, der Türkei und dem Zarentum Moskau eingekeilt und wurde eine Beute der umgebenden Mächte. Im Jahre 1667 teilten sich Polen und Moskau in das Gebiet, wobei alles Land östlich vom Dnjepr an Moskau fiel. Doch behielt dieser Teil der Ukraine zunächst das Recht der Selbstverwaltung unter dem von der Volksversammlung gewählten Hetman (Hauptmann). Der selbständigen Ukraine hat Katharina II. (1783) ein Ende gemacht; die Würde des Hetmans wurde aufgehoben und das Land in russische Gouvernements geteilt. Mit der Teilung Polens kam auch der größte Teil der westlichen Ukraine an Russland. Seit dem Wiener Kongress (1815) bestehen die heutigen Verhältnisse: Ostgalizien fiel an Österreich, das übrige ukrainische Gebiet blieb russisch. Heute leben über 30 Millionen Ukrainer in Russland, 4 Millionen in Österreich-Ungarn; wo sie den alten lateinischen Namen Ruthenen, das heißt Russen, führen. Noch bis zur Zeit Peters des Großen nannte man in Westeuropa nur die Ukrainer „Russen“; die heutigen „Großrussen“ sind bis dahin nie anders als „Moskowiter“ benannt.

In diesen geschichtlichen Tatsachen ist nun die sogenannte „ukrainische Frage“ begründet, die heute lebhaft erörtert wird. Die Erinnerung an ihre alte politische und kulturelle Selbständigkeit ist in den Ukrainern nie ganz erloschen und wird heute durch begabte Führer wieder belebt. Die Ukrainer streben nach Unabhängigkeit von Russland. Die russische Regierung geht umgekehrt vor. Um die Herrschaft über Konstantinopel zu gewinnen, will sie die slawischen Völker mit sich vereinen. Das schließt die Zertrümmerung Österreichs ein. Die Einverleibung Galiziens mit seiner polnischen und ukrainischen Bevölkerung war eines der Kriegsziele. Schon 1876 hat Russland das geplant und ist damals nur durch deutschen Einspruch gehindert worden. In den Jahren 1905 und 1911 drohte die selbe Gefahr, die 1914 Wirklichkeit wurde. Der ungeheure Aufwand an Kräften, die Russland in den Karpathen opferte, ist nur durch das politische Wollen Russlands verständlich. Mit der Eroberung von Lemberg und Halisz schien die russische Einheit vollendet. Man gab dem Lande den alten Namen „Rotrussland“ wieder, und der Zar selbst musste kommen, um die Vereinigung feierlich, wenn auch angstvoll, zu weihen. Wenn es damals hieß, nun sei die Wiege des russischen Reiches wieder mit dem Mutterland vereinigt, so beruht das auf der in allen russischen Schulbüchern — und auch in vielen deutschen Schriften — ausgeführten Auffassung, die in Russland die amtlich gültige ist. Danach stünde Moskau Erbe und rechtmäßige Nachfolge des alten ukrainischen Reiches von Kiew zu. Das ist eine grobe Fälschung. Das Zarentum Moskau ist neben Kiew emporgewachsen und kann höchstens als Erbe der Tatarenherrschaft gelten. Aber von der russischen Staatsanschauung aus hatte das russische Reich seine Einheit erst erreicht, wenn Galizien einverleibt war.

Die Ukrainer, die geschichtlich und national denken gelernt haben, sehen die Lage — und zwar mit besserem Recht — ganz anders an. Für sie ist der Moskowiter ein Fremdherrscher, der sich durch Gewalt unter Verletzung eines grundlegenden Staatsvertrages die Ukraine angeeignet hat. In dem geistig hochbegabten Volke sind zahlreiche Schriftsteller und Dichter aufgetreten, die für die Freiheit, mindestens für die innere Selbstverwaltung und die Erhaltung der Volksart eintraten. Namentlich der bedeutende Dichter Taras Schewtschenko ist der Vorkämpfer der ukrainischen Freiheit gewesen. Die russische Regierung hat alle diese Bestrebungen mit Gewalt unterdrückt. „Es gibt kleine ukrainische Nation und darf keine geben,“ sagte ein russischer Kultusminister.

Diese Anschauung kam in dem kaiserlichen Ukas von 1876 zur Geltung, der den Gebrauch der ukrainischen Sprache in Wort und Schrift verbot. Die Ukraine sollte ihres Selbstbewusstseins, ihrer geistigen Kräfte beraubt werden. Im Jahre 1905 brach die große russische Revolution aus, die das „Befreiungsjahr“ 1906 einleitete. Russland erhielt eine Volksvertretung in der Duma, in die auch die nichtrussischen Völker ihre Abgeordneten sandten. Die beschränkenden Bestimmungen über die Ukraine wurden aufgehoben. In der ersten Duma hatte die Ukraine 62 Abgeordnete, die sich zusammenschlossen und als erstes an die russische Regierung die Forderung der Selbstverwaltung richteten. Wie wenig die russische Regierung daran dachte, den Völkern des weiten Reiches auch nur ein selbständiges Kulturleben zu ermöglichen, zeigte sich in dem Staatsstreich, mit dem Stolypin die Forderung der Ukrainer erwiderte. Er löste die erste Duma aus, es kam ein neues Wahlrecht, das den Ukrainern eine Vertretung überhaupt entzog. Der kaiserliche Ukas (16. Juni 1907), offenbar Stolypins Arbeit, ist einer der brutalsten Gewaltakte. In ihm heißt es: „Die Reichsduma, die zur Festigung des russischen Reiches geschaffen ist, muss auch ihrem Geist nach russisch sein. Die anderen Völker, die zu unserem Reiche gehören, sollen in der Duma Vertreter ihrer Bedürfnisse haben (!), aber sie sollen nicht in einer Zahl erscheinen, die ihnen die Möglichkeit gibt, in russischen Fragen ausschlaggebend zu sein. In den Grenzländern müssen die Wahlen zeitweilig (!) eingestellt werden.“

Also auf der einen Seite erklärt die russische Regierung, dass es keine ukrainische Nation gibt, auf der anderen Seite veranstaltet sie um der Ukrainer willen einen Staatsstreich und ändert das Wahlrecht. In der Tat sitzt seit 1907 kein Ukrainer mehr in der Duma.

Seit 1906 ist die ukrainische Frage aber auch ein Problem, das weit über Russland hinausgreift. Die Ukrainer in Österreich, die Ruthenen, bilden fast ausschließlich die bäuerliche Bevölkerung Ostgaliziens. Der Großgrundbesitz und der überwiegende Teil des städtischen Bürgertums sind polnisch. So stand das ruthenische Bauerntum ganz im polnischen Schatten. Durch die Einführung des neuen Wahlrechtes in Österreich (1906) kamen 30 ruthenische Abgeordnete in den Reichsrat, die energisch für ihr Volk eintraten und damit auch Erfolge hatten. Zumal durch die Teilnahme des ermordeten Thronfolgers für die Ruthenen bestand die Möglichkeit, dass sich in Ostgalizien ein national-ukrainischer Staat im Verbande der Habsburger Monarchie bildete. Darin aber sahen die Russen eine schwere Gefahr. Bildete sich hier ein Herd der nationalen Einheits- und Freiheitsbestrebungen, so musste er auch in der russischen Ukraine gleiche Hoffnungen und Wünsche emporflammen lassen. Lemberg war ohnehin schon ein Sammelpunkt aller ukrainischen Bestrebungen. Als der Plan auftauchte, hier eine ruthenische Universität zu schaffen, erklärte die „Nowoje Wremja“, dass die Ausführung des Planes für Russland einen Kriegsgrund bilden werde. Die Petersburger Zeitungen wagten es sogar, den Thronfolger als heimlichen Anstifter des Abfalls der Ukraine hinzustellen. Inwieweit russische Einflüsse auf Serbien zu seiner Ermordung mitgewirkt haben, wissen wir noch nicht; aber nach allem, was bisher ans Tageslicht getreten ist, wird man auch in dieser Freveltat ein von Russland angestiftetes oder begünstigtes Werk sehen müssen. Die serbische Regierung hätte ohne Rückhalt an Russland die Mordtat schwerlich ausführen lassen.

Die Sorgen Russlands wegen der Ukraine aber hatten ihren guten Grund. Die Machtstellung Russlands beruht zum großen Teil auf dem Besitz der Ukraine. Zunächst schon aus wirtschaftlichen Gründen. Die Ukraine erzeugt fast alle Güter, die Russlands Ausfuhr bilden und seine europäische Handelsbilanz ermöglichen. Das eigentliche Russland ist arm, es lebt von den Überschüssen der Ukraine. Seine Industrie gründet sich auf die Kohlenlager am Donez, sein Handel aus die Erträge der „schwarzen Erde“. Ohne die Ukraine müsste Russland wirtschaftlich zusammenbrechen; denn Sibirien ist noch lange nicht genügend aufgeschlossen und entwickelt, um Ersatz zu liefern. Der Besitz der Ukraine ist also für Russland eine Lebensfrage ersten Ranges und damit eine Frage auch seiner äußeren Politik.

Dieser Krieg sollte nun die ukrainische Frage endgültig lösen. Wurde Ostgalizien russisch, waren alle Ukrainer der russischen Despotie unterworfen, dann war die ukrainische Bewegung nach russischer Weise leicht zu erledigen. Alle geistigen Führer hätten am Galgen oder in Sibirien ihr Ende gefunden, die Masse des Volkes war leicht zu beherrschen. Besteht sie doch mit 80 vom Hundert der Gesamtbevölkerung aus Bauern und zu 70 vom Hundert aus des Lesens und Schreibens Unkundigen. Als Lemberg und Przemysl in russischem Besitz waren, redete man von der vollendeten Einigung der russischen Nation. Das hieß nichts anderes, als dass die ukrainische Gefahr beseitigt, dass Russlands Weltmacht gesichert war. Was Russland wollte, hat es nicht erreicht. Der Durchbruch von Gorlice hat der russischen Machtstellung einen viel schwereren Schlag versetzt als die Eroberung Polens und Kurlands. Die ukrainische Frage ist heute viel stärker betont als je zuvor. Auch für Deutschland liegt hier eine Lebensfrage. Wie die letzten Entscheidungen des Krieges fallen, wissen wir noch nicht; wie sich damit die Zukunft der Ukraine gestaltet, kann heute noch niemand sagen. Noch stehen die Massen des Bauernvolkes nicht mit bewusster Stoßkraft hinter den Gedanken der Intelligenz; aber sie beginnen zu erwachen.

Von der Lösung der ukrainischen Frage hängt auch für uns vieles ab. Ob wir an der Ostgrenze einen Nachbar haben, dessen stetig wachsende Übermacht uns dauernd bedrohen und einst völlig erdrücken kann, das ist für uns die ukrainische Frage. Russland ist ein nur auf Eroberung gegründeter Staat. In dieser Richtung wird es sich weiterbewegen und eine ständige Gefahr für Europa bleiben, wenn nicht neue, sichernde Grenzen geschaffen werden. Dass Russland den Hauptgedanken dieses Krieges, die Vereinigung aller Ukrainer durch Zertrümmerung Österreichs, nicht durchsetzen kann, dafür wird zuverlässig auch weiterhin gesorgt werden. Ob es die russische Ukraine in ihrem ganzen Umfang
behaupten wird, das ist die große Frage der Zukunft.

Unser täglich Brot gib uns heut

Unser täglich Brot gib uns heut